Das Voynich-Manuskript: das Buch, das niemand lesen kann
Seit fast 100 Jahren versuchen Experten und Hobby-Forscher, ein handgeschriebenes Buch zu enträtseln, das in einer unbekannten Schrift verfasst ist: das Voynich-Manuskript
Die zahlreichen Theorien, die sich um dieses bemerkenswerte Dokument ranken, sind widersprüchlich und reichen von plausibel bis abenteuerlich. Dieser Artikel unternimmt den Versuch, pseudowissenschaftliche von ernsthaften Erklärungsversuchen zu trennen.
Die Fakten sind schnell erzählt. Das Voynich-Manuskript ist ein 246 Seiten starkes, handgeschriebenes Buch, das neben zahlreichen Bildern etwa 170 000 Schriftzeichen enthält. Das Besondere daran: Die verwendete Schrift ist gänzlich unbekannt und taucht nach heutigem Kenntnisstand nirgendwo sonst auf. Daher kann bisher niemand das Buch lesen. Das Alter der Schrift wird meist auf etwa 500 Jahre geschätzt, sofern es sich um keine Fälschung handelt. Leider lässt der jetzige Besitzer - die Beinecke-Bibliothek der US-Universität Yale -keine Altersbestimmung mit physikalischen oder chemischen Methoden zu.
Die Existenz des Voynich-Manuskripts ist erst seit dem Jahr 1912 zweifelsfrei belegt. Damals will es der Buchhändler und -sammler Wilfried Voynich in einem italienischen Jesuiten-Kolleg aufgespürt haben. Nach ihm ist das Schriftstück benannt. Voynich versuchte über Jahre hinweg, das einzigartige Manuskript zu verkaufen, fand jedoch keinen Kunden, der seine Preisvorstellung akzeptierte. Nach seinem Tod im Jahr 1930 erbte Voynichs Frau das Manuskript, von der es über einen Händler schließlich an die Beinecke-Bibliothek überging.
Ein Namenseintrag auf der ersten Seite besagt, dass das Voynich-Manuskript im 17. Jahrhundert einem böhmischen Pharmazeuten namens Jacobus Sinapius gehörte. Weitere Informationen liefert ein Schreiben aus dem Jahr 1666, das laut Voynich dem Manuskript beilag. Dieses Schriftstück nennt einige weitere Vorbesitzer, die alle in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts lebten. Sollten das Buch und das Schreiben echt sein, dann muss das Voynich-Manuskript vor Beginn des 17. Jahrhunderts entstanden sein.
Einer der Vorbesitzer des Manuskripts machte - so berichtet das beiliegende Schreiben - sogar eine Aussage über den Urheber. Demnach wäre das unlesbare Buch ein Werk des englischen Mönchs und Universalgelehrten Roger Bacon (1214-1294). Würde das stimmen, dann wäre es eine Sensation, denn Roger Bacon, der manchmal auch als englischer Leonardo da Vinci bezeichnet wird, gilt für viele als bedeutendster Wissenschaftler des Mittelalters. Einen prominenteren Urheber könnte das Voynich-Manuskript kaum haben. Allerdings ist das besagte Schreiben - sofern es korrekt datiert ist - erst vier Jahrhunderte nach Bacon entstanden. Möglicherweise wollte der Vorbesitzer, der das Voynich-Manuskript Bacon zuschrieb, lediglich den Wert des Buchs erhöhen, indem er einen bedeutenden Urheber erfand.
Viel mehr Historisches ist über das Voynich-Manuskript nicht bekannt. Die einzige weitere Informationsquelle ist das Buch selbst, und da dieses bisher nicht entschlüsselt ist, bleiben fast alle wesentlichen Fragen unbeantwortet. Insbesondere ist unklar, wer das Buch geschrieben hat, wann es genau entstanden ist und was darin steht. Keine Frage: Das Voynich-Mauskript ist ein echtes Mysterium. Doch wenn Fakten fehlen, dann blühen häufig die Spekulationen. Es kommt daher nicht überraschend, dass sich um die rätselhafte Schrift zahlreiche Theorien ranken, die sich teilweise erheblich widersprechen und nicht selten äußerst spektakulär wirken.
Unlesbare Schrift, nichtssagende Bilder
Ein guter Einstiegspunkt für eine Voynich-Untersuchung ist zweifellos die Schrift des Manuskripts. Diese ist zwar nicht lesbar, wirkt aber andererseits auch nicht völlig fremdartig. Einige Buchstaben ähneln den uns bekannten des lateinischen Alphabets. Die Anzahl der verwendeten Buchstaben ist nicht eindeutig feststellbar, kommt jedoch der Zahl 26 nahe. Der Urheber des Manuskripts schrieb von links nach rechts (dies erkennt man daran, dass der Text linksbündig formatiert ist), wobei das Schriftbild und die Buchstabengröße aus Sicht eines Europäers nicht ungewöhnlich wirken. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass der Text keine Satzzeichen enthält, denn das ist bei alten Texten nicht außergewöhnlich. So ist auch für einen Laien schon vor Betrachtung der Bilder klar: Das Voynich-Manuskript stammt aus dem europäischen Kulturkreis.
Offensichtlich ist zudem, dass der Urheber des Voynich-Manuskripts sehr sorgfältig vorging. So ist im gesamten Text keine einzige Korrektur zu erkennen. Die Schrift wirkt zudem flüssig und hinterlässt den Eindruck, dass der Schreiber in ihr geübt war. Leider ermöglicht es der Voynich-Text nicht, das Buch in Kapitel aufzuteilen, denn es gibt keine Überschriften.
Und was verrät ein erster Blick auf die Bilder? Etwa 220 der 246 Voynich-Seiten sind illustriert. Teilweise lassen sich die Seiten aufklappen, wodurch Bilder zum Vorschein kommen, die sich über mehrere Blätter erstrecken. Der Urheber zeichnete offensichtlich zuerst die Bilder und fügte anschließend auf den frei gebliebenen Stellen die Schrift hinzu. Da man die Abbildungen im Gegensatz zum Text in verschiedene Sektionen einteilen kann, lassen sich im Voynich-Manuskript sechs Kapitel unterscheiden:
- Botanisches Kapitel: Das erste Kapitel macht etwa die Hälfte des Manuskript-Umfangs aus. Auf jeder Seite ist großformatig eine Pflanze dargestellt.
- Astronomisches Kapitel: Dieses zweite Kapitel enthält ganzseitige, kreisförmige Diagramme mit Sonne, Mond und Sternen. Außerdem finden sich hier Darstellungen von Tierkreiszeichen.
- Balneologischen Kapitel: Hier sind hauptsächlich nackte Frauengestalten in Wannen dargestellt.
- Kosmologisches Kapitel: In diesem kurzen Kapitel sind kreisförmige, rosettenähnliche Darstellungen zu erkennen, die von umfangreichem Text begleitet werden.
- Pharmazeutisches Kapitel: Hier sind Pflanzen, Pflanzenteile und einige Gefäße abgebildet. Einige der Pflanzenbilder sind in einem ganzseitigen Format dargestellt und würden daher auch in das botanische Kapitel passen.
- Rezept-Kapitel: In diesem Kapitel findet sich Text, jedoch keine Bilder (abgesehen von Sternen am Seitenrand).
Da man den Text des Voynich-Manuskripts bisher nicht lesen kann, bieten die Bilder die wichtigsten Anhaltspunkte, um Schlüsse auf Inhalt, Alter und Autor zu ziehen. Hierbei fällt zunächst auf, dass sich die unterschiedlichen Illustrationen kaum einem gemeinsamen Thema zuordnen lassen. Das Voynich-Manuskript muss daher - falls es überhaupt einen sinnvollen Inhalt hat - eine Abhandlung zu unterschiedlichen Themen sein. Möglicherweise handelt es sich um ein Lehrbuch für Magier, Ärzte, Apotheker und Astrologen - die Übergänge zwischen diesen Berufsständen waren vor 500 Jahren noch fließend. Interessanterweise enthalten die Voynich-Abbildungen kaum aussagekräftige Symbole. Religiöse Motive sind ebenfalls nicht erkennbar. Das Voynich-Manuskript lässt sich daher weder einer bestimmten Denkschule noch einer Religion zuordnen. Eindeutig ist allenfalls, dass kein großer Künstler am Werk war, denn die zeichnerische Qualität der Bilder ist allenfalls mittelmäßig.
Auch sonst hat die Auswertung des Voynich-Bildmaterials trotz seines großen Umfangs bisher wenig Erhellendes gebracht. So geben beispielsweise die insgesamt 126 Pflanzen-Darstellungen, die teilweise eine ganze Seite ausfüllen, ausgesprochen wenig her. Kein einziges der abgebildeten Gewächse lässt sich eindeutig identifizieren. Einigermaßen sicher ist allenfalls, dass es sich dabei um Heilkräuter handelt. Ginge es um eine landwirtschaftliche Nutzung, dann müssten irgendwelche Früchte oder sonstige essbare Teile erkennbar sein. Ein aus rein wissenschaftlichem Interesse geschriebenes Pflanzenbuch erscheint in der vermuteten Entstehungszeit äußerst unwahrscheinlich.
Immerhin lassen die Pflanzenbilder gewisse Rückschlüsse auf die Entstehungszeit zu. Die Darstellung der diversen Gewächse erscheint sachlich, naturgetreu (auch wenn es vermutlich kein Vorbild in der Natur gab) und auf eine leichte Erkennbarkeit ausgelegt. Solche Pflanzenbilder gab es in Europa erstmals im 14. Jahrhundert, ausgehend von der Schule von Salerno (dies war eine medizinische Schule in Italien). Daraus kann man schließen, dass das Manuskript nicht vor dem 14. Jahrhundert entstanden ist. Dies ist gleichzeitig ein weiteres Indiz dafür, dass Roger Bacon nicht der Autor des Voynich-Manuskripts war.
Eine weitergehende Bildanalyse veröffentlichte 1944 der Botaniker Hugh O’Neill1. Er wollte in zwei Pflanzendarstellungen (siehe Abbildungen) Sonnenblumen erkannt haben. Auch einige andere Pflanzen glaubte er identifiziert zu haben. Das Interessante daran: Sowohl die Sonnenblume als auch die anderen betreffenden Pflanzen breiteten sich erst nach der Entdeckung Amerikas in Europa aus. Dies hieße, dass das Voynich-Manuskript frühestens im späten 16. Jahrhundert entstanden sein kann. Allerdings muss man in den genannten Darstellungen nicht zwingend Sonnenblumen erkennen. Mit den anderen identifizierten Pflanzen verhält es sich ähnlich. O’Neills These ist also wie so vieles andere in diesem Zusammenhang nur Spekulation.
Kaum erhellender ist ein Blick auf die astronomische und die kosmologische Sektion. Zwar finden wir dort Darstellungen, in denen die heute noch bekannten Sternzeichen (Widder, Stier, Waage usw.) zu erkennen sind. Kaum eine andere Abbildung im Voynich-Manuskript ist so eindeutig. Leider hat dies bisher weder zur Lösung des Codes noch zu sonstigen Erkenntnissen geführt.
Mit den in der astronomischen Sektion abgebildeten Himmelskörpern verhält es sich wie mit den Pflanzen. Sie lassen sich nicht identifizieren und sind vermutlich nur Fantasiegebilde. Einige Voynich-Forscher glaubten, darin den Andromeda-Nebel oder die Plejaden (dies ist eine Gruppe von Sternen, die teilweise mit bloßem Auge zu sehen sind) zu erkennen, doch das ist wiederum nur Spekulation.
Wenig Verwertbares bieten schließlich auch die im Buch abgebildeten Menschen. Immerhin lassen die Frisuren und die Kleidung der abgebildeten Personen sowie die Art der Darstellungen eine Datierung zu. Demnach könnte das Manuskript zwischen 1450 und 1520 entstanden sein - vorausgesetzt, es ist keine Fälschung. In den meisten Fällen handelt es sich bei den abgebildeten Personen um nackte Frauen, die sich in großen, mit Wasser gefüllten Wannen aufhalten. Diese Wannen sind teilweise über Kanäle miteinander verbunden. Dicke Bäuche ließen die Vermutung aufkommen, es könnte sich um schwangere Frauen handeln. Die ungenauen Darstellungen machen diesen Schluss jedoch keinesfalls zwingend.
Bisher gibt es keine schlüssige Interpretation für diese Frauen-Darstellungen. Einige Voynich-Fans vertreten die These, das gesamte Buch sei eine Abhandlung zum Thema Abtreibung. Die abgebildeten Pflanzen wären demnach zur Herbeiführung einer Abtreibung geeignet, und die abgebildeten Frauen wären nach dieser These tatsächlich schwanger. Die Verschlüsselung des Texts und die Verfremdung der Pflanzen hätten den Zweck, den wahren Inhalt des Buchs zu verbergen. Allerdings hat diese Theorie erhebliche Schwachpunkte. Warum benötigt man für eine Abtreibung Hunderte von Pflanzen? Warum muss man für die Erklärung einer Abtreibung Dutzende von Schwangeren zeichnen, deren Darstellung sich kaum unterscheidet? So kann man am Ende auch die Abtreibungstheorie als wenig plausibel ad acta legen.
Unter dem Strich ist es erstaunlich, wie wenig die zahlreichen Abbildungen über das Voynich-Manuskript verraten. Spricht dies für eine Fälschung? Oder hat der Urheber bewusst unklare Darstellungen gewählt, um keine Rückschlüsse auf den verschlüsselten (und daher geheimen) Text zuzulassen? Beide Erklärungen sind denkbar.
Kryptologische Untersuchungen
Auch Kryptologen interessieren sich bereits seit Jahrzehnten für den Voynich-Text. Es ist unklar, ob es sich dabei um eine verschlüsselte Botschaft handelt oder einfach nur um einen Text, der in unbekannten Buchstaben verfasst worden ist. Für kryptologische Untersuchungen spielt dies jedoch keine Rolle, da unbekannte Buchstaben auch eine Form der Verschlüsselung bilden.
Zur Untersuchung eines verschlüsselten Texts hält die Kryptologie eine ganze Reihe statistischer Verfahren bereit. Diese nutzen beispielsweise aus, dass es in jeder Sprache charakteristische Buchstabenhäufigkeiten gibt oder dass bestimmte Buchstabenpaare mehr oder weniger oft vorkommen. Im Deutschen ist beispielsweise das E mit einem Anteil von etwa 17 Prozent der häufigste Buchstabe, gefolgt vom N (10 Prozent) und vom I (8 Prozent). Bei anderen Sprachen verhält es sich ähnlich. Das Voynich-Manuskript bietet in dieser Hinsicht den Vorteil, dass es Zwischenräume zwischen den Wörtern gibt, wodurch auch Wortlängen und Wortanfänge zu erkennen sind. Auch sonst erscheinen die Voraussetzungen für eine Untersuchung gut: Das Manuskript enthält mit 170 000 Zeichen reichlich Analysematerial, und zudem waren die kryptologischen Kenntnisse vor 500 Jahren noch stark begrenzt.
Einige Untersuchungen deuten darauf hin, dass das Voynich-Manuskript in einer gewöhnlichen Sprache, jedoch mit unbekannten Buchstaben verfasst ist. So gibt es zwischen 15 und 25 unterschiedliche Buchstaben (in vielen Fällen ist nicht eindeutig zu erkennen, ob es sich um gleiche oder unterschiedliche Symbole handelt). Die Buchstabenhäufigkeit ist zwar aus dem gleichen Grund nicht eindeutig zu ermitteln, lässt sich jedoch ebenfalls mit europäischen Sprachen in Einklang bringen. Auch die durchschnittliche Wortlänge, die zwischen vier und fünf Buchstaben liegt, wirkt vertraut. Gleiches gilt für den Informationsgehalt (Entropie), der sich aus der Komprimierbarkeit ergibt. Mit derartigen Überlegungen lassen sich sowohl für Griechisch als auch für Latein als Ursprungssprache Argumente finden. Andere europäische und sogar einige außereuropäische Sprachen haben ebenfalls statistische Eigenschaften mit dem Voynich-Text gemein. Schade nur, dass sich bei diesen Betrachtungen keine bestimmte Sprache herauskristallisiert.
Mit keiner europäischen Sprache stimmt dagegen überein, dass es im Voynich-Manuskript keine Wörter mit zwei Buchstaben gibt und dass kein Wort länger als zehn Zeichen ist. Seltsam auch, dass manche Wörter bis zu fünfmal hintereinander stehen. Ähnliche Wörter, die sich nur in einzelnen Buchstaben unterscheiden, wiederholen sich sogar noch häufiger. Die Verteilung der Buchstaben innerhalb eines Worts entspricht ebenfalls nicht bekannten Mustern. Über den gesamten Text gesehen, tauchen außerdem viel weniger wiederkehrende Wörter auf, als dies zu erwarten wäre. Solche Argumente machen deutlich, dass es sich beim Voynich-Text - entgegen dem ersten Anschein - mit hoher Wahrscheinlichkeit doch nicht um eine einfache Buchstabenersetzung handelt.
Auf Grund statistischer Beobachtungen kann man auch einige weitere Thesen ausschließen. So kann die Voynich-Verschlüsselung keine so genannte Vigenère-Chiffre sein, da die Buchstaben sehr ungleich verteilt sind, was bei einer Vigenère-Verschlüsselung nicht der Fall wäre. Ein One-Time-Pad, eine Vernam-Chiffre oder ein ähnliches Verfahren ist aus demselben Grund ebenfalls unwahrscheinlich. Sollte das Voynich-Manuskript echt sein, dann kämen diese Verfahren ohnehin kaum infrage, da sie erst nach dem 16. Jahrhundert erfunden wurden.
Oder sind diese statistischen Überlegungen schon im Ansatz falsch? Die erste kryptologische Untersuchung des Voynich-Manuskripts überhaupt ging jedenfalls in eine gänzlich andere Richtung. Sie stammt von dem US-Philosophen William Newbold2, der 1921 verkündete, das Rätsel der seltsamen Schrift gelöst zu haben. Er hielt nicht die Buchstaben an sich für relevant, sondern kleine, kaum sichtbare Markierungen, die daran angebracht waren. Diese Markierungen bildeten angeblich griechische Schriftzeichen, die sich zu einem Text zusammenfügten. Dieser war zwar unverständlich, ließ sich jedoch in eine sinnvolle Botschaft entschlüsseln. Das Ergebnis erschien sensationell: Die entstandene Botschaft bestätigte nicht nur Roger Bacon als Urheber, sondern verriet angeblich auch, dass dieser bereits ein Mikroskop zur Verfügung hatte und die Spiralstruktur des Andromedanebels kannte.
Doch erwartungsgemäß wirkte Newbolds Dechiffrierung reichlich willkürlich und funktionierte zudem nur bei einem kleinen Ausschnitt des Texts. Niemandem gelang es, diese Methode auf andere Teile des Manuskripts auszudehnen. Newbolds These konnte sich daher zu Recht nicht durchsetzen. Noch heute vergibt eine deutschsprachige Voynich-Webseite den "Newbold des Monats" für besonders schlechte Leistungen in der Voynich-Forschung.
1943 veröffentlichte der Rechtsanwalt Joseph Feely eine weitere kryptologische Arbeit zum Voynich-Manuskript. Auch Feely war kryptologischer Amateur und präsentierte als Ergebnis seiner Untersuchungen gleich die vermeintliche Lösung der Voynich-Verschlüsselung.3 Immerhin war seine Vorgehensweise plausibel. Er untersuchte die Häufigkeit der unbekannten Voynich-Buchstaben und versuchte, Wörter im Text zu erraten. So kam er zur Überzeugung, dass das Manuskript in lateinischer Sprache verfasst war und zudem zahlreiche Abkürzungen sowie gekürzte Sätze enthielt. Auf diese Weise übersetzte Feely einen 41-Zeilen-Ausschnitt des Manuskripts.
Leider ergab Feelys Lösungstext keinen Sinn. Feely selbst erklärte dies dadurch, dass der unbekannte Verfasser die Ergebnisse irgendwelcher Experimente stichwortartig notiert hatte. Diese These ließ sich jedoch nicht halten. Auch wenn es sich tatsächlich um ungeordnete Notizen handeln sollte, müsste ein gewisser Inhalt erkennbar sein. Außerdem ist das Voynich-Manuskript selbst für einen Laien als aufwendiges und durchdachtes Kunstwerk erkennbar, in dem keine Fehlerkorrekturen enthalten sind. Ein Notizbuch sieht schlichtweg anders aus. Angesichts dieser Fakten versteht es sich von selbst, dass sich Feelys Lösungsweg, der für 41 Zeilen scheinbar funktionierte, nicht auf den Rest des Manuskripts übertragen ließ. Auch Feelys Arbeit muss man daher als das Werk eines pseudowissenschaftlichen Dilettanten werten.
Genau das Gegenteil eines pseudowissenschaftlichen Dilettanten war der US-Kryptologe William Friedman (1891-1969). Dieser gilt als der erfolgreichste Codeknacker aller Zeiten und ist daher ein Name, der für kryptologische Qualität bürgt. Im Verlauf seiner vierzigjährigen Karriere untersuchte Friedman in Diensten des US-Militärs Tausende von Verschlüsselungsverfahren und löste fast alle davon. In den zwanziger und dreißiger Jahren gab es vermutlich weltweit keine Verschlüsselungsmethode, die vor ihm sicher war. 4
Friedman gründete 1944 eine Voynich-Arbeitsgruppe, an der auch seine Ehefrau Elizebeth - ebenfalls eine erfolgreiche Kryptologin - beteiligt war. Friedmans Truppe konnte sich nur in ihrer Freizeit um das Thema kümmern. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs kehrten viele Mitglieder in ihr ziviles Leben zurück, weshalb die Arbeit allmählich versandete. Erst 1962 konnte Friedman eine weitere Arbeitsgruppe ins Leben rufen. Doch auch diese gab ihre Arbeit auf, nachdem ihr der Zugang zu einem Computer gesperrt worden war. William Friedman, der ansonsten vor kaum einer Aufgabe kapitulieren musste, konnte der Nachwelt daher nicht mehr als eine begründete Vermutung zum Voynich-Manuskript hinterlassen. Er hielt den Text für eine Abhandlung, die in einer Kunstsprache verfasst ist. Dabei wurde er von seinem Kollegen John Tiltman bestärkt, der ebenfalls zu den wichtigsten Kryptologen des 20. Jahrhunderts zählte. Tiltman baute mit Colossus die aufwendigste und leistungsfähigste Codeknack-Maschine der Vor-Computer-Ära. Mit ihr konnten die Briten im zweiten Weltkrieg sogar Hitlers Privatpost dechiffrieren.5
Neuere Untersuchungen
Die nächsten erwähnenswerten Voynich-Untersuchungen stammen von Robert Brumbaugh, einem Professor für Philosophie des Mittelalters. Brumbaugh veröffentlichte eine Reihe von Artikeln zum Thema und fasste in einem 1978 erschienenen Buch den damaligen Stand der Forschung zusammen6. Darüber hinaus entwickelte er eine Theorie für die Bedeutung der Voynich-Zeichen. Er behauptete, es handle sich dabei um Ziffern, denen jeweils mehrere Buchstaben des lateinischen Alphabets zugeordnet seien. Allerdings ergaben die von Brumbaugh vorgelegten Entschlüsselungen keinen erkennbaren Sinn. Ein weiterer Zweig in der Voynich-Forschung hatte sich damit als Sackgasse erwiesen.
Eine ebenfalls überflüssige Voynich-Analyse veröffentlichte im Jahr 1987 der Arzt Leo Levitov.7 Auch er glaubte, den Text entschlüsselt zu haben. Seiner Meinung nach ist das Buch in einem alten Flämisch verfasst, in das deutsche und französische Wörter einflossen. Auf diese Weise soll eine Schriftsprache entstanden sein, die als Alternative zum damals üblichen Latein diente. Der Inhalt des Manuskripts entpuppte sich laut Levitov als Anleitung für die so genannte Endura. Dies ist ein von den Katharern im Mittelalter angewendetes Ritual, das den freiwilligen Hungertod beinhaltete. Allerdings ist Levitovs Veröffentlichung dermaßen voll von spekulativen Annahmen, dass man die ganze Sache kaum ernst nehmen kann.
Zu den seriösen Voynich-Forschern gehört dagegen zweifellos der britische Linguist Gordon Rugg. Er beschäftigt sich seit 1997 mit dem rätselhaften Manuskript. Interessant ist vor allem ein kryptologisches Experiment, das Rugg durchführte. Hierzu erstellte er eine Tabelle mit zufälligen Zeichenkombinationen, die er als Vor-, Mittel- oder Nachsilben neuer Wörter verwendete. Über diese Tabelle schob er ein sogenanntes Cardan-Gitter, wie es im 16. Jahrhundert zur Verschlüsselung von Texten verwendet wurde. Auf diese Weise erhielt er eine Buchstabenfolge, der eine große Ähnlichkeit mit dem Text des Voynich-Manuskriptes aufwies. Seine Schlussfolgerung: Beim Voynich-Manuskript handelt es sich um bedeutungslose Buchstabenkolonnen, die vor etwa 500 Jahren von einem geschickten Fälscher aufgeschrieben wurden.8
Ruggs Hypothese wird durch eine Textanalyse des österreichischen Physikers Andreas Schinner bekräftigt. Schinner entdeckte unnatürliche Regelmäßigkeiten in der Wortfolge des Manuskripts, die in keiner bekannten Sprache vorkommen. Auch er kam daher zu dem Schluss, dass das Voynich-Manuskript das raffinierte Werk eines Betrügers ist und lediglich bedeutungslosen Unsinn enthält.9 Seine Untersuchungen brachten Schinner ein breites Medienecho ein. Unter anderem berichtete Spiegel Online darüber10. Das Interesse am Voynich-Manuskript nahm dadurch gerade im deutschsprachigen Raum weiter zu.
Eher den Pseudowissenschaften zuzuordnen ist eine noch recht neue Theorie des Briten Nick Pelling.11 Dieser war bisher vor allem als Autor von Computerspielen bekannt. Pelling sieht den italienischen Architekten Antonio Averlino (1400-1469) als Voynich-Autor. Dieser soll um das Jahr 1465 nach Konstantinopel (Istanbul) geflüchtet sein, wobei er sein Wissen zuvor im Voynich-Manuskript verschlüsselt niedergeschrieben hatte. Mit dem unlesbaren Dokument im Gepäck wollte Averlino unbehelligt von neugierigen Zöllnern die Grenzen passieren. Pelling bietet zahlreiche kryptologische Untersuchungen, die angeblich Rückschlüsse auf das verwendete Verfahren zulassen, doch eine Lösung präsentiert er nicht. Unabhängig davon wirkt auch diese These äußerst spekulativ, denn sie ist nicht durch harte Fakten belegt.
Blickt man auf die diversen kryptologischen Untersuchungen des Voynich-Texts, dann ergibt sich ein ähnliches Fazit wie bei den Abbildungen: Trotz einer scheinbar guten Ausgangslage ist das Ergebnis ausgesprochen mager. Der Text lässt sich weder entschlüsseln noch eindeutig als bedeutungslos einstufen. Darüber hinaus liefern die seltsamen Buchstaben keinerlei Hinweise auf den Autor oder die Entstehungszeit.
Was steckt dahinter?
Ein Blick auf die wichtigsten Literaturquellen und Theorien verdeutlicht zumindest eines: Alle wesentlichen Fragen zum Voynich-Manuskript sind bisher ungelöst. Dennoch lässt sich die Lösung eingrenzen, was im Folgenden versucht wird. Bezüglich der Urheberschaft und der Entstehungszeit des Manuskripts erscheinen zwei Theorien plausibel. Die erste besagt, dass das Voynich-Manuskript im ausgehenden Mittelalter oder kurz danach entstanden ist. Eine Entstehung zwischen 1450 und 1520 wäre demnach wahrscheinlich, zwischen 1350 und 1650 ziemlich sicher. Der Autor war allerdings mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht Roger Bacon. Abgesehen vom beiliegenden Schreiben, das man nicht als sehr zuverlässig einstufen kann, gibt es schlichtweg keinen Hinweis darauf, dass Bacon etwas mit dem Manuskript zu tun hatte. Bacon-Experten sind sich zudem darüber einig, dass das Voynich-Manuskript keine Ähnlichkeit mit anderen Werken des berühmten mittelalterlichen Universalgelehrten hat.
Neben Bacon werden mehrere andere Personen immer wieder als mögliche Autoren genannt. Über das dem Buch beigefügte Schreiben stößt man beispielsweise (wenn auch nicht gerade zwingend) auf den Wissenschaftler und Magier John Dee (1527-1608) sowie den Alchemisten Edward Kelley (1555-1594). War einer von ihnen der Urheber? Beide sind nie mit vergleichbaren Arbeiten aufgefallen. Da der verblichene Namenseintrag auf der ersten Seite des Manuskripts auf den erwähnten Jacobus Sinapius (1575-1622) hindeutet, wird auch dieser manchmal als Kandidat gesehen. Allerdings schreibt in der Regel der Besitzer - und nicht etwa der Autor - seinen Namen vorne in ein Buch. Andere bringen den Diplomaten Anthony Ascham (1614-1650), den italienischen Künstler Antonio Averlino (1400-1469) oder den böhmischen Dichter Raphael Mischowsky (1580-1644) mit dem Voynich-Manuskript in Verbindung. Leider ist die Beweislage in allen Fällen so dünn, dass man alle diesbezüglichen Überlegungen als äußerst spekulativ bezeichnen muss. Am wahrscheinlichsten ist daher ein Autor, dessen Identität im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangen ist. Möglicherweise wird man den unbekannten Meister nie ermitteln können.
Die zweite plausible Theorie besagt, dass das Voynich-Manuskript eine Fälschung aus dem frühen 20. Jahrhundert ist. Dies würde einiges erklären: Die zahlreichen nichtssagenden Abbildungen und die bisher ungelöste Verschlüsselung wären darauf zurückzuführen, dass das Buch keinen wirklichen Inhalt hat. Fehlende Belege für die Existenz des Manuskripts vor dem Jahr 1912 ließen sich dadurch erklären, dass das Manuskript bis dahin schlichtweg nicht existierte.
Mit einer Fälschung vereinbar ist außerdem, dass die Art und Weise, wie Voynich in den Besitz des Buchs gekommen sein will, durch keine neutrale Quelle belegt ist. Der angebliche Fundort im Jesuiten-Kolleg könnte durchaus eine Erfindung sein. Allerdings: Falls Voynich tatsächlich über die Herkunft des Manuskripts gelogen haben sollte, dann kann es dafür auch andere Gründe geben. Es ist schließlich nichts Ungewöhnliches, wenn ein Raritätenhändler die Herkunft seiner Ware geheim hält.
Sollte es sich beim Voynich-Manuskript um eine Fälschung handeln, dann um eine ausgesprochen gute. Der unbekannte Fälscher müsste die Optik eines alten Manuskripts täuschend ähnlich nachgemacht haben. Er müsste einerseits so schlau gewesen sein, Inhalte, die Fehler enthalten könnten, zu vermeiden. Andererseits dürfte er in den verbleibenden Inhalten keine Fehler gemacht haben. Derartiges ist nur bei einem Fachmann denkbar, der gezielt auch die Täuschung von Experten anstrebte. Die Geschichte des Niederländers Han van Meegeren, der in den 1930er Jahren nahezu perfekte Fälschungen von Vermeer-Gemälden anfertigte, zeigt allerdings, dass so etwas möglich ist.
Im Falle einer Fälschung ist Wilfried Voynich selbst der naheliegendste Verdächtige. Als Händler und Sammler alter Bücher hatte er zweifellos sowohl ein Motiv als auch das Know-how, um so eine Tat zu begehen. Gegen diese These spricht jedoch, dass Voynich sein Leben mit großem Aufwand zu beweisen versuchte, dass Roger Bacon der Autor war. Wozu sollte dies gut sein, wenn Voynich wusste, dass er keinen Erfolg haben würde? Und warum fälschte er das Manuskript nicht in einer Weise, die die Autorenschaft Bacons plausibler erscheinen ließ? Oder war Voynich das Opfer eines Fälschers? Zweifellos ist auch das eine Option. Bisher gibt es zwar keinen Verdächtigen, doch Menschen mit entsprechenden Fähigkeiten dürfte es durchaus gegeben haben.
Die Frage nach einer Fälschung muss man auch in Bezug auf das beiliegende Schreiben stellen. Alle Kombinationen sind denkbar: Das Manuskript könnte falsch, das Schreiben echt sein (in diesem Fall würde sich das Schreiben auf ein anderes, verschollenes Buch beziehen). Oder ist das Schreiben falsch, das Manuskript aber echt? Vielleicht wollte Voynich auf diese Weise den Verdacht auf Roger Bacon lenken. Oder fälschte jemand mit dem Manuskript gleich das beiliegende Schreiben? Oder sind beide Dokumente echt? Beim derzeitigen Stand der Voynich-Forschung kann man keiner Variante den eindeutigen Vorzug geben.
Auch für die kryptologischen Hintergründe des Voynich-Texts gilt: Sie lassen sich zwar nicht eindeutig klären, dafür aber immerhin deutlich eingrenzen. Von den vielen Theorien, die zu diesem Thema kursieren, sind drei stichhaltig. Die erste davon basiert auf der jedem Kryptologen bekannten Tatsache, dass das Design eines sicheren Verschlüsselungsverfahrens deutlich einfacher wird, wenn der verschlüsselte Text länger sein darf als das Original. Unter dieser Voraussetzung ist es nämlich möglich, die eigentliche Information in bedeutungslosem Füllmaterial zu verstecken. Es ist durchaus denkbar, dass der Urheber des Voynich-Manuskripts diesen Trick anwendete. Vielleicht hat er einen kürzeren Text (z. B. 50 000 Buchstaben) in eine unbekannte Schrift übertragen und das Resultat zu den 170 000 Buchstaben ausgeweitet, die er schließlich niederschrieb.
Stimmt diese Theorie, dann wären die Länge der Wörter und die Häufigkeit der Buchstaben nebensächlich und vom Verfasser willkürlich festgelegt. Dies würde erklären, dass entsprechende statistische Untersuchungen bisher keine aufschlussreichen Ergebnisse geliefert haben. Leider hat bisher noch niemand ein Muster entdeckt, nach dem sich die richtigen von den falschen Buchstaben trennen ließen. Gibt es ein solches und ist es ausreichend komplex, dann ist die Chance minimal, dass es je entdeckt wird.
Als zweite plausible Theorie kann man die von William Friedman aufgebrachte Kunstsprachen-Hypothese betrachten. Zweifellos gab es in der Renaissance unter Alchemisten und Gelehrten Versuche, Geheimsprachen zu entwickeln. Möglicherweise liegt dem Voynich-Manuskript eine solche zu Grunde, die obendrein mit unbekannten Buchstaben aufgeschrieben wurde. Allerdings gibt es bisher keinen auch nur halbwegs konkreten Verdacht, wie die zu Grunde liegende Kunstsprache ausgesehen haben könnte. Die statistischen Untersuchungen legen auch nicht unbedingt nahe, dass überhaupt eine Sprache im Spiel ist. Doch trotz aller Spekulation sollte man diese Kunstsprachen-Hypothese nicht gänzlich verwerfen.
Die dritte und wohl wahrscheinlichste Theorie besagt, dass das Voynich-Manuskript keinen sinnvollen Text enthält. Einziges Ziel des Urhebers wäre es demnach gewesen, einem zahlungskräftigen Zeitgenossen einen größeren Geldbetrag abzuknöpfen. Auf diese Schabernack-Theorie deuten vor allem die Arbeiten von Gordon Rugg und Andreas Schinner hin. Vielleicht gibt es in den nächsten Jahren weitere Ergebnisse zu diesem Thema.
Allerdings sagen auch die Untersuchungen von Rugg und Schinner nichts über das Alter des Manuskripts aus. Eine sinnlose Buchstabenfolge, die beispielsweise mit einem Cardan-Gitter erstellt worden ist, könnte ein Renaissance-Meister vor 500 Jahren genauso wie ein geschickter Fälscher im frühen 20. Jahrhundert geschrieben haben. Das Voynich-Manuskript ist und bleibt also ein Rätsel.
Der Text erschien in ähnlicher Form erstmals in der Zeitschrift Skeptiker (2-2008). Klaus Schmeh ist Autor des Buchs "Codeknacker gegen Codemacher", in dem auch das Voynich-Manuskript eine Rolle spielt, sowie Mitglied der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP).
Von ihm ebenfalls bei Telepolis erschienen:
Die Jäger des verschlüsselten Schatzes
Wettrennen der Codeknacker