Das erste Opfer unserer Krisen ist die Relevanz

Seite 2: Zu wenig Energie für relevantes Leben?

Verhaltene, leidlich gute Laune in den Gastgärten und Lokalen, gramerfüllte Gesichter hinter Masken in öffentlichen Verkehrsmitteln und Kaufhäusern, lustlose wirkende Menschen bei den verschiedensten Formen der Nahrungsaufnahme, melancholische Rezipienten in den Kulturbetrieben.

Und das sind jene Menschen, die ins Licht streben – was ist mit denen, die im Dunkeln verbleiben? Das sogenannte Cave-Syndrom, ein überhöhendes und zugleich verkürzendes angloamerikanisches Schlagwort, ist ein Begriff, dem Syndrom-Größenordnung zugesprochen wird, obwohl er nur ein bereits bekanntes Krankheitsbild beschreibt.

Die Wiederaufnahme des Soziallebens nach Krisen war immer schon eine Herausforderung, der soziale Rückzug von Menschen nach Kriegen, Krankheiten und Krisen aller Art - und Pandemien zählen dazu - ist nichts Neues.

Der Druck auf die mentale Gesundheit nimmt zu, viele haben weder Mut noch Kraft, um das Leben mit seinen komplexen und zuweilen belastenden Interaktionen sofort wieder aufzunehmen; manche ziehen sogar den Zustand ihres Soziallebens und -verhaltens während der Pandemie vor. Überbelastung wird auch sprachlich sichtbar und lesbar.

Tatsächlich sieht es so aus, als wäre die überwiegende Mehrheit der Menschen Mitteleuropas derzeit im Energiesparmodus. Als lebten sie auf einem niedrigen, geradezu basalen Energieniveau. Das ist ihnen nicht zu verdenken, denn nicht einmal von den politisch Verantwortlichen, den "Wiedergewähltwerdenwollenden" geht gegenwärtig überbordende Dynamik aus.

Es wirkt geradezu, als wolle niemand Energie abgeben, sondern nur einsparen, bis hin zum Kommunikationsgeiz, zum allgegenwärtigen einander Nicht-Antworten. Die Unkultur des Nicht-Antwortens, das Ghosting, wieder eine dieser Social-Media-Metaphern, hat einen Vorteil: in der Abwesenheit von Sprache entsteht zumindest keine Hassrede, denn im Schweigen dominiert kein Tatbestand.

Relevanz der Sprache in der Politik

Vorangestellt sei: Jede Art von Verbalradikalismus und Hassrede ist abzulehnen, von Fall zu Fall zu kritisieren und zu verurteilen. Doch wegen der Absolutsetzung dieses Anspruches leidet mittlerweile der pointierte, kritische, mitunter zynische und sarkastische Diskurs. Im Zuge automatischer Mikro-Reflexe auf Mikro-Aggressionen samt Gendering geht die pointierte, scharfe und bisweilen angriffige Diskussionskultur verloren.

Wie ungewürzte sprachliche Krankenhauskost; doch von Asien bis Südamerika liebt man die Schärfe und differenziert eine Vielzahl verschiedenster Gewürze. Gewiss, ein Vollkornbrötchen mit Emmentaler ist auch nett, aber Stimmung kommt selten auf. Eine ganze Generation ist gerade dabei, ihr Sprachverständnis einzuschränken, indem sie das Gefühl für Sarkasmus und das Verständnis für Zynismus verliert.

Hassreden und Verbalradikalismen sind immer und überall abzulehnen. Doch Sarkasmus ist nicht automatisch gegen ethnische Minderheiten, gegen Frauen im Allgemeinen und benachteiligte Alleinerzieherinnen im Besonderen und schon gar nicht gegen Transidentitäten gerichtet.

Sarkasmus ist kein auf die Alltagssprache beschränktes Phänomen, sondern eine Form der Verbalisierung, deren Pointe einen Zweck verfolgt: bestimmte Sachverhalte wie mit einem Scheinwerfer grell auszuleuchten, so wie Goethe, Schiller, Döblin und Brecht dies taten.

Grell bedeutet nicht verbalradikal. Grell ist keine verletzende Hassrede, sondern jene Form der verbalen Lichtintensität, angesichts derer man kurz die Augen zusammenkneift; gegebenenfalls kurz zusammenzuckt, so, wie wenn man auf eine Chilischote beißt.

Danach setzt der Denk- und Diskussionsprozess ein, dann wird es spannend, aufregend, in der Hitze des verbalen Gefechtes entstehen wertvolle Gedanken. Mitreißende Diskussionsprozesse sind wie scharfe Speisen. Bei Haferflocken mit lauwarmer Milch hingegen entsteht zumeist nichts, es gibt keine Ausschüttung von Endorphinen und der Adrenalinspiegel bleibt im Tiefschlafmodus.

Doch nicht jede pointierte, sarkastische oder zynische Aussage ist deshalb automatisch zu verurteilen. Wo verläuft die Grenze? Das altmodische Lesen von Büchern - zusätzlich zu den unvermeidlichen elektronischen Wortbrocken, Kurztexten und Skripten - könnte Abhilfe schaffen. Denn jede Hermeneutik, jedes Verstehen und Kategorisieren von Texten basiert letztlich auch auf Geübtheit.

Wer definiert und verordnet "Normalität"?

An die Adresse jener gerichtet, welche die Normalität undifferenziert und scheinbar harmlos-heimatlich beschwören: Normalität ist nichts, was gegeben oder gar verordnet werden kann. Schon gar nicht von politischen Parteien. Das wäre nicht nur Selbstüberschätzung, sondern auch der programmatische Ausschlussversuch Andersdenkender und gesellschaftlicher Minderheiten. In letzter Konsequenz die Exklusion aller jener, die von einer fiktiven Normalität abweichen, biologisch, geistig, ethnisch, rassisch. Wozu die Geschichte wiederholen? Warum nicht aus dieser Lehren ziehen?

Die Politik kann keine "Normalität definieren", sie kann nur Rahmenbedingungen schaffen, nur Voraussetzungen für Möglichkeiten. Das ist alles. Gleichzeitig ist das jedoch auch unglaublich viel, wenn sie es denn nur endlich täte.

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