Die neue Normalität: "Gewöhnt Euch dran"
Der Sprachphilosoph Paul Sailer-Wlasits über den von ihm geprägten Begriff, den Bundeskanzler Kurz und deutsche Politiker übernommen haben
Herr Sailer-Wlasits, hat es Sie überrascht, als der österreichische Ministerpräsident Sebastian Kurz in einer Pressekonferenz die "neue Normalität" verkündet hat?
Paul Sailer-Wlasits: Offen gestanden nein, es war eher eine Art Echo. Meine diversen Publikationen werden seit Jahren von zahlreichen politischen Redenschreibern in Österreich und Deutschland verwertet. Teils brachial verkürzt und natürlich meist ohne zu zitieren. Da war es für mich nur eine Frage der Zeit, bis das irgendjemand als sogenanntes "wording" aufgreift und in eine Pressekonferenz einpasst.
Wenn ein Regierungschef eine "neue Normalität" ankündigt, dann setzt er voraus, dass die Menschen sich dem fügen sollen. Oder sehen Sie das als Sprachphilosoph anders?
Paul Sailer-Wlasits: Sobald etwas als "normal" deklariert wird, ist bereits die Komponente der sprachlichen Gewalt mit im Spiel. Denn es ist dann sehr leicht, jegliche Abweichung von diesem Normalen anzuprangern, als politische oder gar geistige Abnormität zu brandmarken. Der Weg zu autoritärem Denken wäre dann nicht mehr weit. Verantwortungsvolle Politik sollte die Distanz zu solchen Denkschemata daher niemals leichtfertig verringern.
Was will ein Regierungschef mit einem solchen Begriff erreichen?
Paul Sailer-Wlasits: Vielleicht war es nur der - letztlich untaugliche - Versuch, eine Art von Integration zu kommunizieren, eine Verbundenheit durch einen neuen gemeinsam wahrgenommenen Zustand. Der zugrunde liegende schwere Denkfehler ist jedoch - und da hätte die Lektüre von David Hume oder Hans Kelsen geholfen -, dass aus einer deskriptiven Feststellung, aus einem Sein [Anm. d. Red.: die derzeitige Corona-Krise] keine präskriptive Norm, kein Sollen [Gewöhnt Euch daran!] abgeleitet werden darf. Diese Sein-Sollen-Barriere kann weder ethisch noch rechtsphilosophisch überwunden werden, an dieser zerschellt jede Message-Control. Daher meine beständige Zusatzfrage: Wollen wir das drohende "New Normal" nicht doch dringend hinterfragen?
Vor einigen Jahren haben Sie den Begriff des "Neuen Normalen" geprägt, um etwa die Politik von Donald Trump zu charakterisieren. Prägt diese neue Normalität inzwischen auch die österreichische oder europäische Politik?
Paul Sailer-Wlasits: Die "Neue Normalität", die ich vor einigen Jahren zu skizzieren begann, beinhaltet nichts Gutes und hat nichts Schönes an sich. Ich habe sie an einigen der globalen Entwicklungen festgemacht: etwa an dem weltpolitischen "New Normal" das die gegenwärtige US-Administration darstellt.
Es zählt auch zu dieser neuen Normalität, dass international und insbesondere auch in Mitteleuropa führende Politiker, die an sich bereits zu illiberaler Politik tendieren, genau auf die USA blicken. Denn an den USA können sie zurzeit ermessen, wie weit sie die demokratischen Strukturen in ihren eigenen Ländern überdehnen können, ohne die breite Zustimmung zu verlieren. Die Elastizität der demokratischen Gefüge wird gerade in einigen der östlichen EU-Staaten überdehnt. International muss man ja nur nach Südamerika schauen, etwa nach Brasilien, um zu erkennen, welche fatalen Deformationen die negative Vorbildwirkung der gegenwärtigen US-Regierung bereits ausgelöst hat.
Es findet also durch den Euphemismus der neuen Normalität eine schleichende politische und gesellschaftliche Erosion statt?
Paul Sailer-Wlasits: Die Frage, die ich unaufhörlich stellte, war und ist: Wollen wir, dass diese neue Normalität sich festigen kann oder wollen wir gesellschaftlich dagegen aufstehen? Das "neue Normale" habe ich daher immer verknüpft mit der Frage: Wollen wir uns daran gewöhnen? Wollen wir die umfassenden Anpassungsleistungen, die diese neue Normalität beansprucht, als Gesellschaft - ohne zu hinterfragen - einfach so erbringen? Damit meine ich weit mehr, als die banale Maskenpflicht. Mit neuer Normalität meine ich etwa auch die unaufhaltsame Beschleunigung der digitalen Transformation und den damit verbundenen gesellschaftspolitischen, wirtschaftlichen und kulturellen Druck, dem Milliarden von Menschen ausgesetzt werden. Wann beginnt die Pflicht dagegen aufzustehen und in welcher Form?
Derzeit wird "neue Normalität" im Kontext des Lebens nach dem Lockdown verwendet.
Paul Sailer-Wlasits: "Temporärer Ausnahmezustand" wäre gewiss präziser gewesen, aber auf dem politischen Sprachmarkt rhetorisch weitaus weniger gut verkäuflich. Die Sprache der Politik ist nicht an Ehrlichkeit oder Wahrheit gebunden. Die politische Sprache reüssiert auf dem "Sprachmarkt" nicht durch Wahrhaftigkeit, sondern dadurch, dass eine gesellschaftliche Mehrheit Aussagen für wahr hält. Das für-wahr-Gehaltene reicht für das Gewinnen von Wahlen völlig aus. So bedauerlich das auch sein mag: die Rhetorik siegte machtpolitisch immer schon über die Wahrheit. Kurzfristig jedenfalls. Viele Jahre später kommt die Wahrheit dann zumeist ans Licht, aber die künftigen Kollateralschäden interessieren die so gut wie immer nur im Jetzt agierenden Politiker nicht.
Zahlreiche Medien lobten die österreichische Bundesregierung für deren "klare Kommunikation".
Paul Sailer-Wlasits: Die Krisenkommunikation der österreichischen Regierung ist deklarativ und sprachlich sehr einfach gestaltet. Sie wirkt vielleicht deshalb klar, weil sie jegliche Komplexität vermeidet. "Corona macht's möglich", könnte man sagen, jetzt darf endlich noch einfacher gesprochen werden. Noch kürzere Sätze, noch trivialere Begründungen. Die Reduktion von Komplexität ist und bleibt schließlich ein Garant für breitesten Mobilisierungserfolg.
Dagegen merken Politiker, die sich in ihrer Kommunikation für ein hohes Maß an Differenziertheit entscheiden, zumeist sehr rasch, wie die Zustimmung in ganzen Sinusmilieus zu bröckeln beginnt, brüchig wird und wie gnadenlos der Boulevard sie geißelt.
Kurz, einfach und entschlossen aufzutreten, ist also eine erfolgreiche politische Strategie?
Paul Sailer-Wlasits: Die Entschlossenheit ist in Krisensituationen ein kommunikatives, ein rhetorisches Muss. Darüber hinaus aber kontinuierlich Stereotype zu bedienen oder mit sprachlichen Überhöhungen und Angstbildern zu operieren, ist eine Frage des politischen und sprachlichen Stils. Es gibt eben weit in die Zukunft blickende Staatsmänner und jene Politiker, die ihre Augen nur auf die nächste Wahl richten. Diese beiden Typen von Politikern sind inkompatibel und pflegen naturgemäß sehr unterschiedliche Kommunikationsstile.
Eine Beraterin von Kurz hat jüngst in diesem Sinne eine sehr umstrittene Stellungnahme abgegeben, nämlich dass im Unterschied zu Österreichs Entschlossenheit Arroganz andere Länder blind gegenüber den Covid-19-Risiken gemacht habe. Das wurde nachträglich als "Privatmeinung" deklariert.
Paul Sailer-Wlasits: Politiker, die immer wieder durchklingen lassen, dass ihnen Differenziertheit nicht allzu wichtig ist, dass ihnen ein breiter gesellschaftspolitischer Diskurs kein wirkliches Anliegen, sondern eher lästig ist, tun dies auch in Krisensituationen. Das politische Denken und Handeln wird in Krisen - wie durch einen Filter - um eine Stufe rigider und in der politischen Sprache gewinnt der Appell die Oberhand. Der appellative Tonfall zählt aber zum autoritären politischen Sprachrepertoire. Das Appellative an sich zählt ja zum Kernbestand der totalitären Sprache, in Diktaturen, Monarchien, Militärregierungen usw. Deshalb ist es wichtig, diese verbale Grenzlinie nie zu überschreiten, nur weil eine neuartige Form von Krise vielleicht dazu einlädt.
Als Zuhörer und Teilnehmer an Pressekonferenzen staunt man immer wieder, wenn Sebastian Kurz Sätze mit der Phrase "Die Wahrheit ist ..." einleitet. Ist das Taktik, Rhetorik oder einfach nur die nächste Stufe in der Eigen-PR?
Paul Sailer-Wlasits: Das ist in erster Linie eine Kompetenzüberschreitung. Kein Bischof oder Kardinal würde es jemals wagen, seine Predigt mit diesen Worten einzuleiten. Der tiefe Respekt vor der Wahrheit und Wahrhaftigkeit scheint im politischen Bereich jedoch - von einigen leuchtenden Ausnahmen abgesehen - kein dominantes Erbmerkmal zu sein. Und zwar deshalb, weil Wahrhaftigkeit und der Wahrheitsgehalt von Aussagen für den Erfolg eines Politikers nur von sekundärer Bedeutung sind. Ein Blick nach Washington reicht aus, um das zu belegen, man muss gar nicht die Geschichte bemühen. Die politische Debatte wird so gut wie immer vom rhetorischen Effekt dominiert.
Kurz versucht mit verschiedenen Begriffen Botschaften zu platzieren, die beim Zuhörer haften bleiben. Sind Begriffe wie "Hochfahren" oder "Auferstehung" bewusst gewählt oder sind das nur kommunikative Zufallstreffer?
Paul Sailer-Wlasits: Die gewählten Bezeichnungen sind selten Zufälle. Sie transportieren als Begriffe ganze Bedeutungsräume. Im Fall von "Hochfahren" sind sie positiv konnotiert. Damit wird nicht nur auf der Verstandesebene, sondern auch auf der emotionalen Ebene Dynamik und Zuversicht kommuniziert. Und es wird gleichzeitig transportiert, man habe Kontrolle über das Kommende. "Hochfahren" reduziert aber auch die Komplexität. Denn letztlich ist "Hochfahren" nur ein Schlagwort, genauer gesagt eine Metapher. Ein schöner politischer Schein mit unendlich viel Interpretationsspielraum. Jede Bürgerin, jeder Bürger findet darin ausreichend Platz für seine eigenen Wünsche und Bedürfnisse. Gleichzeitig werden auch die Ängste und Befürchtungen durch die Verheißung des "Hochfahrens" beschwichtigt. Deshalb ist es zurzeit politisch opportun, "Hochfahren" zu verwenden und wenig opportun, zu sagen, es wird ein langer und mühsamer Weg, wieder dorthin zurückzugelangen, wo wir vor der Krise bereits waren.
Nützt die österreichische Regierung die Krise für eigene, letztlich parteipolitische Zwecke?
Paul Sailer-Wlasits: Das könnte durchaus der Fall sein, eine unbewusst inszenierte Mischung aus Macht und Groteske vielleicht, und das wäre dann ja ohnehin nicht ganz atypisch für das politische Österreich. Die gegenwärtige Regierung hat das Glück, bei ihren Maßnahmen auf einen in Jahrzehnten wunderbar entwickelten Sozialstaat zurückgreifen zu können, wie auf ein prall gefülltes Bankkonto. Das Füllen dieses Kontos, das jetzt mehr als dringend benötigt wird, hat jedoch eine lange Geschichte des sozialpartnerschaftlichen Zusammenwirkens in der Zweiten Republik Österreichs. Das ist nicht das Verdienst dieser Regierung, sie greift nur auf die Errungenschaften zurück. Das sollte neben allem Selbstlob und aller Selbstdarstellung nicht unter den Tisch fallen.
Paul Sailer-Wlasits (geb. 1964) ist Sprachphilosoph und Politikwissenschaftler in Wien. Sein neuer philosophischer Essay "Uneigentlichkeit" erschien 2020.
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