Odessa-Massaker und deutsche Medien: Der Mörder darf nur ein Russe sein

Harald Neuber
Menschen legen Blumen für die Toten von Wester nieder

Trauer um die Toten von Odessa. Bild: VyacheslavOnishchenko/Shutterstock.com

Kaum eine Zeile zu EGMR-Urteil. Dabei trägt Ukraine Mitschuld an Toten. Wird es verschwiegen, weil es nicht ins Weltbild passt? Ein Kommentar.

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur Mitverantwortung der Ukraine an der Tragödie von Odessa am 2. Mai 2014 ist ein wichtiger Schritt zur Aufarbeitung dieser schrecklichen Ereignisse im Ukraine-Konflikt. Doch leider findet es in deutschen Medien nur wenig Beachtung.

Es ist bezeichnend, dass ein so wegweisendes Urteil, das schwere Versäumnisse und mögliche Komplizenschaft ukrainischer Behörden bei der Eskalation der Gewalt und der mangelhaften Rettung und Aufklärung feststellt, hierzulande weitgehend ignoriert wird.

Medien sind an maßgebliche Akteure im Ukraine-Krieg, dessen Auswirkungen weit über die Grenze dieses Landes hinausreichen. Gerade deswegen darf ein solch wichtiges Urteil nicht einfach übersehen werden.

Würde Russland in einem vergleichbaren Ereignis die Mitschuld an 48 Toten gegeben, darunter viele verbrannte und erstickte Opfer, wäre der Aufschrei groß. Doch wenn die Ukraine dafür verurteilt wird, scheint das nicht berichtenswert.

Diese Ungleichbehandlung ist moralisch und medienethisch äußerst fragwürdig. Der Eindruck entsteht, dass Menschenrechtsverletzungen je nach Täter unterschiedlich bewertet werden.

Verbrechen der einen, Verbrechen der anderen

Verbrechen der einen Seite werden angeprangert und verurteilt, Verbrechen der anderen Seite kleingeredet oder verschwiegen. Das widerspricht fundamental dem Gebot, die Menschenrechte universell und ohne doppelte Standards anzuwenden. Auch wenn der Ukraine-Krieg in seiner derzeitigen Form von Russland begonnen wurde, darf das nicht als Vorwand dienen, um andere Verfehlungen der Ukraine zu übersehen.

Maximale Transparenz nötig

Spiegel: Nur Verbrechen der Russen

Gerade jetzt, da die russische Propaganda die Tragödie von Odessa für ihre Zwecke instrumentalisiert, wäre es wichtig, mit maximaler Transparenz und Aufklärung dagegenzuhalten. Stattdessen wird den Propagandisten durch das Verschweigen von ukrainischen Verfehlungen in die Hände gespielt. Es entsteht der Eindruck, man wolle etwas vertuschen.

Auch unabhängig vom aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine ist es ein Gebot der Wahrhaftigkeit, die Ereignisse schonungslos aufzuarbeiten und klar zu benennen, wo Behörden versagt und möglicherweise mit gewalttätigen Akteuren kooperiert haben. Die Rolle der Streitkräfte in diesem Konflikt muss ebenso kritisch beleuchtet werden.

Auch für ukrainische Gesellschaft wichtig

Das sind wir den Opfern und ihren Angehörigen schuldig. Auch gegenüber der ukrainischen Gesellschaft ist es wichtig, Missstände offen anzusprechen, um daraus zu lernen. Menschenrechte und rechtsstaatliche Prinzipien müssen immer und für alle gelten.

Es ist inakzeptabel, aus politischer Opportunität die Augen vor Verbrechen zu verschließen, nur weil sie von der "richtigen" Seite begangen werden. Eine selektive Berichterstattung, die gezielt wegschaut, wenn es nicht ins Weltbild passt, untergräbt die Glaubwürdigkeit der Medien.

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Deutsche Leitmedien, so scheint es, stehen in der Souveränität und Distanz selbst ukrainischen Medien nach. Dort berichteten selbst Redaktionen wie die Ukrajinska Prawda oder der Kyiv Independent teils ausführlich über das EGMR-Urteil.

Hierzulande war dem Spiegel das Urteil keine Meldung wert. Dort fand man nur Informationen über einen russischen Angriff auf die Stadt Kursk und eine Meldung über tödliche Schüsse auf einen antirussischen Aktivisten. Auch bei der Tagesschau: dröhnendes Schweigen. Stattdessen Schlagzeilen wie "Putin will keinen Frieden" oder "Die Ukraine ist bereit für Frieden".

Medienwandel jetzt nötig

Es ist höchste Zeit, dass auch deutsche Medien ausführlich über das EGMR-Urteil berichten und die darin festgestellten Versäumnisse der Ukraine thematisieren. Und dass sie dem politischen Extremismus in der Ukraine endlich die gleiche Aufmerksamkeit zukommen lassen wie die Entwicklung Russlands unter dem System Putin.

Der Ukraine-Krieg darf nicht dazu führen, dass Rechtsextremismus oder andere innenpolitische Probleme in der Ukraine ausgeblendet werden.

Viele Verantwortliche

Krieg und Frieden – wenig subtil – bei der Tagesschau.

Die EU und Moskau stehen in dieser Frage ebenfalls in der Verantwortung. Die EU muss darauf drängen, dass Menschenrechte und die Rechtsprechung des EGMR in allen Mitgliedsstaaten und Partnerländern, einschließlich der Ukraine, respektiert werden. Moskau hingegen nutzt solche Gelegenheiten oft, um den Westen zu kritisieren, auch wenn es unter Putin eigene Menschenrechtsprobleme gibt.

Insgesamt müssen der Ukraine-Krieg und der breitere Russland-Ukraine-Konflikt alle Seiten dazu anhalten, die Prinzipien der Menschenrechte strikt zu beachten. Die Rolle der Streitkräfte in diesen Konflikten muss kontinuierlich überwacht werden, um sicherzustellen, dass sie im Einklang mit internationalen Standards agieren. Nur so kann eine gerechte und dauerhafte Lösung gefunden werden, die den Frieden in der Region sichert.