Ukraine-Krieg: Die neue Realität nach der US-Kehrtwende

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Strategische Interessen, geopolitische Verschiebungen und neue Verhandlungsansätze. Interview mit dem renommierten Sicherheitsexperten Oberst a. D. Wolfgang Richter (Teil 1).
Die geopolitischen Karten werden neu gemischt: Die USA unter Donald Trump setzen auf Verhandlungen mit Russland, während Europa vor der Frage steht, ob es diesen Kurs mitgehen oder an der bisherigen Strategie festhalten soll.
Zu den diplomatischen Entwicklungen, die sicherheitspolitischen Interessen der Großmächte und die schwierige Lage in der Ukraine hat sich Telepolis mit dem renommierten Sicherheitsexperten Wolfgang Richter unterhalten: Welche Chancen gibt es für einen Frieden – und welche Risiken birgt die aktuelle Wende?
Die 180-Grad-Wende von Trump
▶ Herr Richter, wie ist Ihre Einschätzung der diplomatischen Bemühungen der letzten Wochen?
Wolfgang Richter: Zunächst einmal haben wir eine 180-Grad-Wende von Trump erlebt. Er ist am 2. Februar erstmalig aus der westlichen Solidarität ausgebrochen, die auf die diplomatische Isolierung Russlands gerichtet war. Er hat mit Putin telefoniert und als Ergebnis kam heraus, dass die Außenminister sich wieder formell treffen werden, das erste Mal seit Kriegsbeginn.
Das ist dann in Riad am 12. Februar geschehen. Und hier zeichnen sich die folgenden Linien ab. Erstens werden Washington und Moskau die diplomatischen Beziehungen vollwertig wieder aufnehmen; das heißt, es werden wieder Diplomaten, die zum großen Teil ausgewiesen worden waren, wieder ausgetauscht. Sie werden in den Hauptstädten die normale diplomatische Arbeit wieder aufnehmen.
Zweitens: Beide Seiten wollen mehrere Verhandlungsstränge für unterschiedliche Themenfelder einrichten. Dabei geht es auch, aber nicht nur um die Ukraine. Das ist, glaube ich, in der öffentlichen Berichterstattung nicht ganz richtig verstanden worden:
Das ist noch nicht der Beginn von Verhandlungen über die Ukraine gewesen, die angeblich ohne die Ukraine stattfinden; vielmehr geht es um eine gemeinsame Absichtserklärung, den Krieg zu beenden und dazu einen Verhandlungsstrang einzurichten.
Oberst a. D. Wolfgang Richter ist seit 2023 Associate Fellow beim Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik (GCSP).
Von 2009 bis 2022 war er bei der Stiftung Wissenschaft und Politik wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Forschungsfelder: europäische Rüstungskontrolle; OSZE-Sicherheitskooperation und ungelöste Konflikte im OSZE-Raum.
Von 2005 bis 2009 war er bei der OSZE Leiter des militärischen Anteils der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland.
Zu diesem Zweck sollen die Beauftragten der amerikanischen Regierung, Keith Kellogg und Steve Witkoff, mit den Ukrainern und Russen nun herausfinden, zu welchen Kompromissen die beiden Seiten bereit sind oder welche Vorbedingungen für einen Waffenstillstand erhoben werden.
Dazu ist Kellog bereits nach Kiew gereist, und am vergangenen Freitag, den 14. März, war Steve Witkoff in Moskau. Dieser Verhandlungsstrang wird also gerade erst eröffnet.
"Der bilaterale Wille, überhaupt zu verhandeln"
Insofern ist, glaube ich, auch der Unmut, der geäußert worden ist, hier würde über die Ukraine hinweg verhandelt – und ohne die Europäer –, nicht berechtigt. Zunächst geht es erst einmal um den bilateralen Willen, überhaupt zu verhandeln.
Dies haben die Europäer in der Vergangenheit überwiegend als "Verrat" oder "Appeasement" abgelehnt.
Jetzt, da Trump Verhandlungen eröffnet hat, sagen sie: "Wir wollen dabei sein."
Umorientierung auf den neuen Hauptgegner
Es gibt aber einen dritten Aspekt, der, glaube ich, für die Amerikaner sogar noch wichtiger ist, nämlich die Umorientierung ihrer Politik und Strategie auf den strategischen Hauptgegner China. Schon seit Langem machen sich die USA Gedanken über die künftige Wahrung der nuklear-strategischen Stabilität.
Der New-Start-Vertrag
Der New-Start-Vertrag, der letzte wirkliche nukleare Begrenzungsvertrag, läuft im Februar nächsten Jahres aus, also in knapp einem Jahr. Bisher gibt es noch keinen Nachfolgevertrag oder eine Ersatzregelung, um einen neuen nuklearen Rüstungswettlauf zu verhindern.
Amerikaner und Russen wollen darüber zunächst bilateral verhandeln. Das ist übrigens nichts Neues, sie haben auch in der Vergangenheit dazu bilateral verhandelt. Darüber haben die Amerikaner die Europäer vorweg informiert und danach vor allem auch über die Ergebnisse; aber dass dieser Verhandlungsstrang bilateral geführt wird, liegt in der Natur der Sache.
Die USA und Russland zusammen verfügen über 90 Prozent aller Nuklearwaffen auf dieser Erde; also müssen sie sich dazu positionieren. Das erwarten auch zu Recht alle Vertragsstaaten des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags.
Allerdings treibt die Amerikaner die Sorge um, dass China nuklear aufrüsten und sich zu einem ebenbürtigen "peer competitor" entwickeln könnte. Dafür gibt es schon Anzeichen, obwohl die Gesamtzahl der chinesischen Atomsprengköpfe mit etwa 500 erst derjenigen der beiden Nuklearmächte Großbritannien und Frankreich zusammen entspricht.
Strategische Stabilität "zu dritt"
Dennoch überlegen die Amerikaner schon jetzt, wie man in Zukunft eine strategische Stabilität "zu dritt", also mit China als dem künftigen Hauptrivalen organisieren kann. Das setzt voraus, dass China an neuen Rüstungsbegrenzungen teilnimmt, und dass auch Russland dazu bereit wäre.
Moskau ist der Auffassung, dass es die Aufgabe der Amerikaner sei, die Chinesen an Bord zu bekommen. Sie fordern allerdings im Gegenzug, dass dann auch die Briten und Franzosen teilnehmen müssten.
In der Konsequenz wären dies Verhandlungen zwischen den fünf ständigen Mitgliedern im Sicherheitsrat ("P 5"). Die kleineren Atommächte Großbritannien, Frankreich und China vertreten dazu traditionell den Standpunkt, dass sie nicht an Begrenzungsverhandlungen teilnehmen, solange die beiden Großen über 90 Prozent der weltweit ca. 12.000 Nuklearwaffen verfügen.
Sie müssten also von ihren vielen Tausenden von Atomwaffen auf ein paar Hundert reduzieren, bevor die Kleineren sich an weiteren Begrenzungsverhandlungen beteiligen würden. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Nuklearstrategische Balance: Die Mittelstreckenraketen in Deutschland
Aus russischer Sicht gibt es aber einen anderen Aspekt, der die europäische Sicherheitsordnung betrifft, nämlich die Frage, ob die vereinbarte nuklearstrategische Balance nicht dadurch unterminiert wird, dass die Nato und damit die Amerikaner den russischen Grenzen immer näher rücken und dass sie somit auch mit Kurzstreckenwaffen das strategische Gleichgewicht bedrohen könnten.
Dabei dürfte der deutsch-amerikanischen Absichtserklärung vom 10. Juli 2024, ab dem nächsten Jahr Mittelstreckenraketen in Deutschland zu stationieren, eine besondere Bedeutung zukommen.
Das wird sicherlich ein Thema sein, über das gesprochen wird. Denn die Russen glauben ja, dass sie in einer "Kuba-Situation" sind, in der das strategische Gleichgewicht durch die regionale und grenznahe Stationierung solcher Waffen unterminiert wird, da sie ebenfalls strategische Ziele treffen können.
Rückkehr zum Handel mit Russland
Darüber hinaus gibt es weitere Interessengebiete: Offenbar will Trump auch die Handelsbeziehungen mit Russland wieder aufnehmen. In Riad ist also ein großer Bogen möglicher Verhandlungen erörtert worden, die man nun eröffnen will.
Deswegen fand ich auch, dass es zu kurz gesprungen war, wenn in Europa sofort Kritik laut wurde, hier wurde über die Europäer und die Ukraine hinweg verhandelt.
Was man aber sagen kann, ist in der Tat, dass es sich um eine 180-Grad-Wende von Trump handelt. Er ist aus dem Versuch des Westens, Russland international zu isolieren, ausgebrochen, er hat die bilateralen Beziehungen wieder geknüpft, und er will den Krieg beenden.
Europa auf dem Verhandlungszug?
Und damit steht Europa vor der Frage, ob es an der bisherigen westlichen Strategie festhalten soll, die bis zum Amtsantritt von Präsident Trump galt, also Selenskyjs "Siegesplan" vorbehaltlos zu unterstützen, die ursprünglich zur Wiedergewinnung der verlorenen Gebiete führen sollte, oder ob es auf den Verhandlungszug aufspringen und versuchen soll, ihn so zu beeinflussen, dass dabei auch europäische und ukrainische Interessen einfließen.
Besetzte Gebiete: Unterschied zwischen de facto und de jure
Hier könnte es zum Beispiel darum gehen, den Verlust besetzter Gebiete zwar als de facto Zustand zu akzeptieren und auf Gewaltanwendung zu verzichten, aber ihn nicht de jure, also völkerrechtlich anzuerkennen.
Dies würde eine künftige politische Lösung offenhalten.
Ein anderer europäischer Standpunkt könnte es sein, auf der Freizügigkeit der Bevölkerung in diesen Gebieten zu bestehen und ihr die Möglichkeit zuzugestehen, selbst zu wählen, wo sie nach dem Ende der Kämpfe wohnen wollen.
USA: Nato-Beitritt für die Ukraine wird nicht unterstützt
Das sind aber nur erste Ideen. Wichtig ist, dass man sich zunächst einmal zu den Kernpunkten positioniert, die Keith Kellogg schon vor dem Amtsantritt von Präsident Trump öffentlich erklärt hat, und die wir auch von Außenminister Marco Rubio und Verteidigungsminister Pete Hegseth gehört haben, und in Ansätzen auch von Trump selbst.
Dazu gehört vor allem, dass die USA den Nato-Beitritt der Ukraine nicht mehr unterstützen.
Das ist eine 180-Grad-Wende, wenn man mal bedenkt, was sein Drittvorgänger George W. Bush im Jahr 2008 in Bukarest beim Nato-Gipfel noch vehement durchpeitschen wollte,– gegen deutschen und französischen Widerstand.
Damit ist auch die Frage von Garantien vom Tisch, die den Beistandsverpflichtungen nach Artikel 5 des Nato-Vertrags ähneln, also eine Nato-geführte Truppe zur Absicherung eines Waffenstillstands. Dafür stehen die USA ausdrücklich nicht zur Verfügung. Sie wollen aber die Europäer mehr in die Pflicht nehmen.
Wenn man dennoch daran festhalten will, verkennt man, glaube ich, die Realitäten. Ein Nato-Beitritt ist nur im Konsens möglich, und er ist auch nur dann möglich, wenn der Staat, der beitreten soll, dem Wertegefüge der Nato genügt und wenn er die Sicherheit der Nato erhöht und nicht vermindert. Und letzteres wäre jetzt der Fall.
Territoriale Frage: Was für die Ukraine möglich ist
Wenn man über die territorialen Fragen redet, sollte man zunächst eine nüchterne Beurteilung der militärischen Lage anstellen. Die Ukrainer sind schlichtweg nicht in der Lage, Gebiete zurückzuerobern oder auf eine "Siegstrategie" zu setzen.
Tatsächlich hat sich die Verhandlungsposition der Ukraine seit dem März 2022, seit dem Istanbul-Kommuniqué, erheblich verschlechtert.
Damals gab es noch keine weiteren Annexionen, heute gibt es sie.
Der etwas bescheidenere Ansatz, man müsse durch Waffenlieferungen und Sanktionen die ukrainische Verhandlungsposition verbessern, ist in drei Jahren nicht realisiert worden; vielmehr ist das Gegenteil herausgekommen. Kiews Position hat sich erheblich verschlechtert.
Heute ist die Ukraine in einer sehr schwierigen personellen Lage. Sehr viele ukrainische männliche Wehrpflichtige befinden sich im Ausland, über 650.000 auch in der EU, die nicht zurückkehren wollen. Insgesamt sind 2,7 Millionen Ukrainer nicht nach Westen geflohen, sondern nach Russland.
Unterschiedliche Identitäten in der Ost- und Südukraine
Dies deutet darauf hin, dass es zumindest in der Ost- und Südukraine unterschiedliche Identitäten gibt, die vom gängigen Klischee einer heroisch kämpfenden ukrainischen Volkseinheit abweichen. Im Donbas kämpft eine große Anzahl von Ostukrainern auf der russischen Seite gegen Kiew.
Dieser Krieg hat also mehrere Facetten und Ebenen, die zu regeln sind. Das ist einmal die schon erwähnte strategische Ebene, die bilateral zwischen Amerikanern und Russen zu regeln ist.
Zum Zweiten geht es um die Ebene der europäischen Sicherheitsordnung, also die Frage, wie künftig die Beziehungen zwischen den europäischen Staaten und Russland gestaltet werden soll.
Zum Dritten geht es natürlich um die direkten Konfliktpunkte zwischen Moskau und Kiew, einschließlich der Territorialfragen.
Und zum Vierten geht es auch um die Frage, wie es angesichts unterschiedlicher kultureller Affinitäten künftig innerhalb der Ukraine weiterlaufen soll.
Um langfristig auch innere Stabilität zu erreichen, muss Kiew die regionale Vielfalt akzeptieren, auf die Fortsetzung des Kulturkampfes gegen andere Identitäten verzichten und einen Versöhnungsprozess einleiten, statt ganze Bevölkerungsgruppen wegen der "Kollaboration" zu diskriminieren.
Eine solche Konstellation gilt ja nicht nur für die Ukraine. Auch andere Staaten haben solche Probleme, regeln sie aber durch eine große Toleranzbreite, wie z. B. Belgien oder die Schweiz.
Wenn eine Seite versucht, ihre Identität der anderen überzustülpen, gibt es Konflikte und der Staat bricht auseinander. Diese Erkenntnisse begründeten übrigens auch die deutschen Vorbehalte beim Nato-Gipfel in Bukarest 2008.
Damals bestand die Sorge, dass die Ukraine zerbrechen könnte, wenn sich George W. Bush durchsetzen würde, die Ukraine in die Nato zu führen. Damals war Angela Merkel Bundeskanzlerin.
Frage an die Europäer
Nach der 180°-Wende der USA unter Trump müssen sich die Europäer heute entscheiden, ob sie mit den Amerikanern den Verhandlungszug beschreiten und ihn beeinflussen wollen, oder sie weiter versuchen wollen, an der alten Strategie festzuhalten und dabei auch noch den drohenden Ausfall der USA bei Waffenlieferungen materiell zu kompensieren.
Letzteres wäre – jedenfalls kurzfristig – schlichte Illusion. Wir reden hier allein bei Militärhilfen von zusätzlichen mehr als 63 Milliarden US-Dollar, die bisher aus den USA kamen, und dazu noch weitere Finanzhilfen von ca. 50 Milliarden USD.
Ich glaube, man sollte sich für mehr Realismus entscheiden und nun versuchen, diesen Krieg zu beenden und Schlimmeres zu verhüten. Die Erkenntnis, dass das westliche Engagement mit der Gefahr einer Eskalation einhergeht und das Risiko eines Dritten Weltkrieges eingehegt werden muss, haben die jüngsten Äußerungen von Trump, Hegseth und Rubio unterstrichen.
Risikobewusstsein in den USA verändert
Das zeigt, dass sich das Risikobewusstsein in den USA verändert hat. Es gab ja solche Bedenken auch in Deutschland und anderen europäischen Ländern. Daher wäre es auch im Sicherheitsinteresse Europas vernünftig, eine Kehrtwende einzuleiten, zumal die EU allein nicht in der Lage ist, eine "Siegstrategie" wirklich zu unterfüttern.
Das gilt nicht nur für die materielle Unterstützung, sondern vor allem auch für den personellen Bereich. Denn die eigentliche Schwierigkeit, mit der sich Kiew konfrontiert sieht, ist ihr eklatanter Personalmangel.
Rekrutierung
Das neue Wehrpflichtgesetz vom Mai 2024 kam zu spät und ist nicht effektiv umgesetzt worden. Die Truppen an der Front sind seit mittlerweile drei Jahren ausgeblutet, erschöpft und ermüdet.
In ihren Kampfgräben warten viele vergeblich auf die dringend erforderliche Ablösung. Die Rate an Desertion wird immer höher und viele Wehrpflichtige im Ausland weigern sich, in die Ukraine zurückzukehren.
Zwar befinden sich nominell noch etwa 800.000 in den ukrainischen Verbänden; davon ist aber ein großer Teil bei der Territorialverteidigung oder bei der nationalen Polizei. Sie hat die Aufgabe, Kollaborateure und Spione zu jagen oder auch Rekruten in die Armee zu zwingen.
Tatsächlich sind weniger als die Hälfte dieser 800.000 tatsächlich an der Front. Dagegen hat die russische Armee im Laufe der letzten zwei Jahre ihren Personalaufwuchs erheblich vorangetrieben.
Allein auf ukrainischem Boden dürfte sie mittlerweile über 650.000 bis 700.000 Soldaten verfügen. Dazu kommen die Luftstreitkräfte und Seestreitkräfte, die von außen die Operationen unterstützen.
Angesichts dieser Lage wäre es jetzt vernünftig, den amerikanischen Verhandlungsansatz zu unterstützen, dabei natürlich europäische und ukrainische Interessen zu vertreten, aber nicht zu versuchen, den Verhandlungszug zu stoppen.
Die Europäer werden es nicht schaffen, nun gleichzeitig gegen Washington, Moskau und vielleicht dahinter auch noch Peking anzutreten. Ich glaube, da würden sie sich übernehmen; und dies würde europäischen Sicherheitsinteressen schaden.