"Das ist nicht unsere Vision von Hierarchie"
Frankreich: Armee-Mitglieder trommeln mit dem nächsten offenen Brief für autoritäre Politik. Angeblich, um einen Bürgerkrieg zu verhindern…
Wie sehr rutscht Frankreich nach rechts? Seit der Wahl Macrons zum Präsidenten im Jahr 2017 ist der Anteil der Franzosen, die sich politisch rechts positionieren, von 33 Prozent auf 38 Prozent in diesem Jahr gestiegen. 60 Prozent der Armee- und Polizeiangehörigen würden 2022 im zweiten Wahlgang Marine Le Pen wählen.
Ein neuer offener Brief von "aktiven Militärangehörigen aller Dienstgrade" wurde bis heute Morgen von knapp 230.000 Personen unterzeichnet. Auch er warnt im selben Ton wie der vorgängige Brief vor einem Chaos im Land: "(…) wieder einmal braut sich in Frankreich ein Bürgerkrieg zusammen, und Sie wissen es".
Die Sicherheit im Inneren war Mitte April für 70 Prozent der Befragten in Frankreich das wichtigste Thema hinter der Ausbildung (73 Prozent), dem Kampf gegen die Pandemie (82 Prozent) und der Gesundheit (86 Prozent).
Macrons "Revolution": Ausbau der inneren Sicherheit
Die Regierung zog nach Macrons Besuch in einem Problemviertel in Montpellier einen neuerlichen Gesetzesvorschlag aus der Schublade, der vorsieht, die Überwachungskompetenzen der Sicherheitsbehörden bei Telefon- und Internetverbindungen zu verbessern. Der Leiter des Inlandsgeheimdienstes, Laurent Nuñez, begründete die Maßnahme, mit der Bedeutung dieser Technik (es handelt sich nach Zeitungsberichten um einen "Algorithmus", Anm. d. A.) "bei zunehmend isolierten Individuen, deren einzige Spuren digital sind".
Der nicht erst seit neulich auffallende Einsatz Macrons für immer neue Gesetze auf dem Gebiet der inneren Sicherheit wird von der Zeitung Le Monde mit der "Revolution" kontrastiert, mit der Macron in seinem gleichnamigen Buch Wahlkampf machte. Darin heißt es: "Wir müssen uns dem ständigen Rekurs auf Gesetze und der ständigen Änderung unseres Strafrechts entziehen (wörtlich: entgiften, désintoxiquer)."
Das Buch stammt von 2016. Seither hat sich viel verändert, auch die politische Figur Macron, der anfangs öffentlich noch mit links angehauchten Ideen kokettierte, später, als die Gelbwesten ihn in eine schwere Krise gebracht hatten, eine Jahrhundert-Sozialreform (natürlich eine "gerechte") ankündigte und sich als Gegenstimme zum Chor der xenophoben Rechtsaußen präsentierte.
Davon ist nun kaum mehr etwas zu hören, stattdessen aber Annäherungen an Positionen, die seine politische Lieblingskonkurrentin Le Pen seit langer Zeit besetzt, eine verschärfte Einwanderungspolitik, verstärkte Maßnahmen gegen Islamismus und vor allem der Ausbau des Sicherheitsapparates, mit neuen Gesetzen, neuen Kompetenzen, neuen Polizeieinheiten und deren Aufrüstung.
Für eine "extrem muskulöse Rechte"
Die rechtsorientierten Wähler erreicht er damit nicht, auch nicht im Sicherheitsapparat, wie die oben genannte Umfrage zeigt. Sie stammt, deshalb soll sie zitiert werden, vom reputierten Centre de recherches politiques de Sciences Po (Cevipof), das alljährlich an einer Studie namens "Fractures françaises" (in etwa auf deutsch: "Französische Bruchlinien") beteiligt ist, die viel beachtet wird.
Die Publikation L'Opinion ist an Vorabergebnisse gekommen, die davon berichten, dass es "mindestens" 60 Prozent der Polizei- und Militärmitglieder sind, die im Falle einer Stichwahl zwischen Le Pen und Macron für die Chefin der nationalen rechten Partei RN stimmen würden.
Das ist nicht wirklich überraschend, schon vor der letzten Wahl 2017 waren weit mehr als die Hälfte aus diesem Personenkreis für Marine Le Pen. Interessant sind ein paar Nuancen: Etwa dass sieben von zehn Polizisten schon beim ersten Wahlgang laut aktueller Analyse für eine "extrem muskulöse Rechte" stimmen würde.
Und dass bei der Umfrage erneut ein Bild von Macrons Regierungsstil auftaucht, das ihm eine große Entfernung zur Wirklichkeit am Boden, zur "Lebenswirklichkeit" vorwirft.
Die Entfremdung
Dieser Vorwurf, eine Art ständiger Nörgler an den Pforten des Elysée-Palastes, taucht als Basis der Argumentation auch in dem neuerlichen Brief an den Präsidenten aus den Reihen der Militärs auf, die daraus genau die Schlüsse ziehen, die Le Pen braucht:
Fast alle von uns haben die Operation Sentinelle (Militärmission im Inneren in Folge der Terroranschläge ab Januar 2015, Anm. d. A.) mitbekommen. Wir sahen mit eigenen Augen die verlassenen Vorstädte, die Unterkünfte, die dortige Kriminalität. Wir sind den Instrumentalisierungsversuchen mehrerer Religionsgemeinschaften ausgesetzt, für die Frankreich nichts bedeutet - nichts als ein Objekt des Sarkasmus, der Verachtung und sogar des Hasses.
Offener Brief von Militärmitgliedern
In dem Brief wird richtig auf die Pauke gehauen. Die Verfasser sind ihren Angaben nach anders als die briefschreibenden Generäle zuvor zumindest zum Teil noch im aktiven Dienst und sie reklamieren für sich Erfahrung und eine genau Beobachtungsgabe, da sie im "Feuer der Kriege" in Afghanistan, Mali und der Zentralafrikanischen Republik standen und so aus Erfahrung wissen, wie es aussieht in Ländern, die mit einem Bürgerkrieg zu tun haben.
Weswegen sie sich, so der kleine, aber nicht unwesentliche Kniff, nicht direkt politisch äußern, was Soldaten und Polizisten nicht erlaubt ist, sondern eine unpolitische Expertise abgeben:
"Sie könnten argumentieren, dass es nicht Aufgabe des Militärs ist, solches zu sagen. Aber im Gegenteil: Weil wir die Situation unpolitisch einschätzen, geben wir ein professionelles Statement ab. Denn wir haben diesen Niedergang in vielen Krisenländern gesehen. Er geht dem Zusammenbruch voraus. Er kündigt Chaos und Gewalt an (…), dieses Chaos und diese Gewalt wird nicht von einem "militärischen Putsch" kommen, sondern von einem zivilen Aufstand."
Offensichtlich ist, dass diese "unpolitische, aber professionelle" Äußerung alles andere als objektiv, sachlich oder nüchtern ausfällt: "Wir sehen, wie der Hass auf Frankreich und seine Geschichte zur Norm wird." Und dazu noch der Tusch, die Analyse des Klimas:
Das ist ganz Feigheit, Betrug, Perversion: Das ist nicht unsere Vision von der Hierarchie.
Das ist ein ungeschminktes Plädoyer für mehr Autorität. Ein Plädoyer für mehr Macht, die jederzeit auf Gewalt zurückgreifen kann - ganz im Sinne der Neuen Rechten und derjenigen, die wie die Partei von Marine Le Pen auf faschistischen Wurzeln gründen.
Die Wirklichkeit in Frankreich war zuletzt von häufigeren Berichten über Gewaltausbrüche gekennzeichnet, wie Telepolis-Autor Bernard Schmid in einem Hintergrundgespräch mit Florian Rötzer darlegt. Das habe zum Teil damit zu tun, dass die Regierung nun anders mit Drogenhandelsnetzen umgeht. Statt diesen illegalen Markt wie früher aus Ordnungsüberlegungen in Ruhe zu lassen, gehe die Polizei nun offensiver und aggressiver gegen diese Kriminalität und ihre Netzwerke vor.
Die fragmentierte Gesellschaft
Das Problem sei, dass die Wohnverhältnisse in Frankreich in einem wesentlich anderen Ausmaß von einer sozialen Trennung gekennzeichnet sind als in Deutschland. Die Schlechtverdiener und die schlechter gestellten sozialen Schichten bleiben noch mehr unter sich als hierzulande.
Mehr Gewalt und Autorität taugen da nicht für eine grundsätzliche Verbesserung der Verhältnisse, wenn denn schon das Chaos in den Vorstädten als einer der Hauptursachen, wie es die Militärs machen, beschworen wird, für das eine ganze Reihe von Regierungen, rechts wie links, mit Abschottungspolitik gesorgt hat.
Die soziale Kluft, die Entfremdung und die Polarisierung werden dadurch nur noch auf krassere Weise betont.
Ergänzung: In der FAZ war heute die in neuer Ausprägung wahrgenommene Gewalt in Frankreich Thema eines Interviews mit dem Politikwissenschaftler Jérôme Fourquet. Dieser stellt fest, dass 70 Prozent der Franzosen Innenminister Darmanin zustimmen würden, der die "Verwilderung eines Teils der Gesellschaft" anprangert:
"Der Ruf nach mehr staatlicher Autorität ist seit dieser Äußerung im vergangenen Sommer noch lauter geworden. 73 Prozent der Franzosen sind der Meinung, dass die Justiz zu lasch auf die grassierende Kriminalität reagiere. Die gewisse Unbeschwertheit, die nach Ende des ersten harten Lockdowns im vergangenen Frühjahr aufkam, wurde sofort durch eine Serie von Gewalttaten gestört. An der baskischen Küste wurde ein Busfahrer zu Tode geprügelt, weil er Fahrgäste an die Maskenpflicht erinnert hatte. Eine Krankenschwester wurde in einem Bus in der Pariser Banlieue von Jugendlichen zusammengeschlagen, weil sie diesen freundlich nahegelegt hatte, ihre Maske über die Nase zu ziehen. Jugendbanden lieferten sich trotz strikter Ausgangsbeschränkungen in regelmäßigen Abständen teils tödliche Auseinandersetzungen."
Auf die Gründe befragt, antwortet Fourquet, dass die Gesellschaft immer mehr fragmentiere. "Die Republik zerlegt sich in unzählige Gruppen mit unterschiedlichen Interessen und Identitäten."