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Das lädierte Ich

Chimäre in Grimmelshausens Simplicissimus. (Nachbearbeitung: TP)

Während die Weltmaschine stottert, spukt der Geist des Business weiter. Eigentlich Zeit, über das Menschsein nachzudenken. Ein Versuch

Ich, ausgetauscht gegen mich, bin Jahr für Jahr dabei gewesen.
Günter Grass: "Mein Jahrhundert"

"Die Überwindung des Neoliberalismus bedeutet noch nicht die Überwindung des Kapitalismus als Geisteshaltung"1 [1], las ich neulich – sanft ermahnt – in einem schmalen Bändchen, das eigentlich die Überlebenschancen des Künstlers im 21. Jahrhundert zum Thema macht. Der Kölner Autor und Konzeptkünstler Ralf Peters bezieht sich in seiner Betrachtung [2] auf einen heutzutage weitgehend vergessenen Denker des Umbruchs um die Zeitenwende 1900: Max Scheler.

Max Scheler (1874-1928), Philosoph und Anthropologe, ein eigenwilliger Denker und Analytiker, hat eine umstrittene Kapitalismuskritik [3] hinterlassen, die sich seinerzeit jedoch in einer produktiven Weise einmischte und uns Heutige immer noch mit der Nase, und zwar unsanft, auf unsere (inzwischen rotierend-globalisierte) Weltauffassung stößt.

Im vorliegenden Artikel werde ich auf ihn in einigen Punkten eingehen, ohne selbst unbedingt "Schelerianer" zu sein. Dessen systemkritischer Ansatz verdient jedoch Aufmerksamkeit, wie mir scheint: Sein eigenständiger Blick macht ihn als Vertreter der Anthropologie des beginnenden 20. Jahrhunderts auch heute lesenswert.

Alles was zählt

Max Scheler [4] verhandelt die Grundstruktur der kapitalistischen Logik. "Der Kapitalismus ist an erster Stelle "kein" ökonomisches System der Besitzverteilung, sondern ein ganzes "Lebens- und Kultursystem""2 [5].

Das umschließt Geisteshaltung und Lebensweise, Weltverständnis und Motivation. Und schon gleich kann man sagen, dass mit der hier aufgeworfenen Frage nach der speziellen Logik eine rücksichtslose Quantifizierung ins Spiel kommt, eine "Zählbarmachung", die alles und jeden erfasst, Mensch, Natur, Werte und Werke, um sie schlussendlich der kapitalistischen Vereinnahmungsmaschinerie passend zu machen.

Scheler kritisiert dementsprechend den Warencharakter aller Dinge, den Menschen eingeschlossen (in dem Punkt vergleichbar mit Erich Fromm), und zwar im Kontext der Überbewertung und Profitorientierung der Arbeit, und hier insbesondere das schon angesprochene Mantra der Quantifizierbarkeit der gesamten Lebenswelt, worunter nicht zuletzt der Qualitätsgedanke ins Hintertreffen geriet (Quantität versus Qualität).

Zur herrschenden Ideologie des kapitalistischen Ethos zählt Scheler auch die neuzeitlichen Fetische "Fortschritt" und "Wachstum" mit ihrer dazugehörigen Motivationsstruktur; was sich im System nicht rechnet, wird den Kosten zugeschlagen, so auch ein Großteil dessen, was in Sonntagsreden als "Kultur" gefeiert wird. Aufschlussreich ist hier schon der Ansatz einer Verschränkung von System und Charaktermerkmalen, also der systemischen Aspekte samt Querverbindung zum Humanum bzw. dem "inneren Menschen", welcher die Verhältnisse nicht bloß abbildet, sondern sie auch trägt und reproduziert.

Die vier infantilen Ideale des Kapitalismus

Entsprechend formuliert Scheler vier Ideale des Kapitalismus, die er "infantil" nennt: Größe, Schnelligkeit, Macht und Neuheit. Das sind die Leitideen, an denen sich zumal der "Wirtschaftstypus", wie er sagt, in Denken und Handeln orientiert.

Das Ideal der "Größe" erklärt sich mit etwas Phantasie weitgehend von selbst; "Geschwindigkeit" (Schnelligkeit) hat mit der digitalen Revolution zweifellos noch an Kraft und Relevanz zugenommen und gibt dem Zeitfaktor (Diktat des Tempos), der diese Art Gesellschaft prägt, noch einmal eine ganz neue Dimension, samt den entstehenden Abhängigkeiten. "Das Lebenstempo nimmt zu, die Nischen sind verbaut, die Pausen zugemüllt; die Schollen, auf die man sich flüchten könnte, schmelzen ab", schreibt Tobias Haberl in einer kritischen Bestandsaufnahme unserer Tage.3 [6]

"Macht" schließlich stellt Scheler in den Kontext von Konkurrenzgeist und Willen zur Herrschaft über die Natur, das liest sich zumal im Zeitalter eines dominant-globalisierten Konzernkapitalismus mit all seinen desaströsen Folgen modern und war seinerzeit Ausdruck einer ambitioniert geführten Debatte im intellektellen Kreis um Lujio Brentano, Werner Sombart, Max Weber und Ernst Troeltsch. Heute, rund hundert Jahre später, ist die Machtfrage zur existenziellen Entscheidungsfrage geworden.

Die Motivationsstrukturen der Macht haben, darauf weist Scheler explizit hin, auch Wissenschaft und Technik geformt, d.h. die Wissenschaft, die mit dem kapitalistischen Ethos in enger Verbindung – oder sollte man sagen: Komplizenschaft? – steht.

Der Philosoph Michel Foucault hat sich auf der anthropologischen Ebene mit der Entstehung des Körpermodells am Ende des 18. Jahrhunderts beschäftigt; er beschreibt die "Mikrophysik der Macht" und bezieht sie auf den "gelehrigen Körper", der ins System eingepasst wird, indem seine Haltungen Schritt für Schritt zugerichtet werden [7], "bis ein kalkulierter Zwang jeden Körperteil durchzieht und bemeistert, den gesamten Körper zusammenhält und verfügbar macht und sich insgeheim bis in die Automatik der Gewohnheiten durchsetzt".4 [8]

Die Mikrophysik der Macht beschreibt den eingepassten Menschen, der Teil einer Maschine und in gewisser Hinsicht selbst maschinengleich geworden ist.

Dem infantilen Ideal des "Neuen" spricht Scheler zuletzt eine quasi-religiöse Bedeutung zu. Im "Neuen" verdichtet sich der vergötterte Fortschritt par excellence. Zum ersten Mal in der menschlichen Kulturgeschichte, und ausgerechnet im (nunmehr) kapitalistisch geprägten Europa, wird das "Neue" wertvoller und wichtiger als das Alte.

Schelers Zeitdiagnose und Modernekritik sind hier, man erinnere sich, auf dem Stand von 1919; wir begegnen dem Triumph des "Neuen" und die Begeisterung über alles "Innovative" heute, im Zeitalter des Turbokapitalismus, auf Schritt und Tritt und amüsieren uns wohl nur zum Schein über " (…) Lächerlichkeiten wie die neue Generation von Smartphones oder die seltsame Idee des selbstfahrenden Autos".5 [9]

Nicht verstummender Wertediskurs

Gabriele Schneider schreibt in ihrer Dissertation [10] über Schelers politisches Denken zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik:

Wichtiger als eine mögliche Anschlussfähigkeit für heutige Theorieansätze scheint mir (…) die Beleg- sowie Kontrastfunktion des Schelerschen Ansatzes. Wenn heute der Bundespräsident auffordert: 'Wir brauchen den Dialog über Werte in der Gesellschaft, die auseinander zu driften droht', dann ist das nur ein Indiz für den nicht verstummten Wertediskurs einerseits und dessen zentrale Funktion für den gesellschaftlichen Zusammenhalt andererseits.

Zufällig las ich dieser Tage den folgenden Satz, den ich an der Stelle A.D. 2021 beisteuern möchte: Wir erleben gerade eine "unerbittliche Konsumierung alles Lebendigen", so Rosi Braidotti, Professorin für Philosophie zu Utrecht, in der, wie sie ausformuliert, auch der letzte Grashalm noch zur Energiegewinnung herhalten muss und die Genome längst zur Ausbeutung freigegeben sind. In diese Kategorie gehören für die Autorin aber ebenso etwa die Frauen und Kinder der globalen Sexindustrie, die billiger zu haben seien "als exotische Vögel".

Kurz gesagt: Bei Schelers Kapitalismuskritik geht es uns um das dahinter liegende Humankonzept. Dazu gehört auch das Thema "Selbstkonzept", zeitgemäß formuliert: Bietet das Nachdenken über Kapitalismus (im engeren Sinne: die Zielvorstellung einer Überwindung des Kapitalismus/Neoliberalismus) auch Ansätze zur Überwindung der dahinter stehenden (bzw. mit der kapitalistischen Lebensform verbundenen) Subjektidee? Was macht das Konzept "Individuum" am Wechsel vom 19. zum 20. Jahrhundert aus, und wie steht es heute damit?

Mit Bezug auf Corona 2020/21: Die große Maschine stockt. Betrifft es auch den Geist?

Selbstbild und Zweifel: Ein Rückblick

Der Wandel des Subjekts ist vielfach beschrieben und analysiert worden, es zeigt sich eine für unsere Belange aufschlussreiche europäische Traditionslinie, beginnend schon im Mittelalter, als Wolfram von Eschenbach an seinem "Parzival" das Prinzip des Zweifels exemplifizierte und die Figur mit der Feststellung [11]: "Ist zwîvel herzen nâchgebûr, das muoz der sêle warden sûr" ("Wenn Zweifel nah beim Herzen wohnt, das muss der Seele sauer werden") zu einem zaudernden Romanhelden machte.

Der Zweifel als Motor und Begleiter der Selbstfindung ist seitdem aus der europäischen Theorie des Subjekts nicht wegzudenken.

Den Verlust der Ich-Autonomie thematisiert mit radikaler Modernität der österreichische Romanautor Robert Musil [12] in seinem kühnen Mammutwerk mit einem programmatischen Titel: "Der Mann ohne Eigenschaften".

Das Aufwerfen der grundsätzlichen Frage nach dem Menschen als autonomes Handlungssubjekt nimmt damit in der europäischen Moderne eine beeindruckende literarische Gestalt an. "Ein großes Zeit- und Bewusstseinspanorama", schrieb der Deutschlandfunk vor wenigen Wochen in einem Rückblick auf die Entstehungsjahre des Romans (am 26. November 1930, also vor 90 Jahren erschien der erste Band) und setzt mit Blick auf das politisch-historische Datum hinzu: Ein "Vexierbild aus dem bereits sinnentleerten Habsburgerreich":

"Der Mann ohne Eigenschaften [13]" ist ein großer Versuch, die zerfransende Welt der Moderne und ihre Bewusstseinsbrüche in eine Form zu bringen. Als der erste Teil erschienen war, erkannte Musil: Die Geschichte dieses Romans lief darauf hinaus, dass die Geschichte, die in ihm erzählt werden sollte, nicht erzählt wird. Wie visionär das war, begriff man erst viel später.

Die Auflösung der Subjektivität

Das ist neu: Die Geschichte, die erzählt werden soll, wird nicht erzählt. Damit ist der Bruch in der Historie der individuellen Subjektkonstitution markiert; der "kühne Versuch, die Moderne und ihre Bewusstseinsbrüche in eine Form zu bringen" (a.a.O.) liefert wenige Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs Stoff für die Frage nach der conditio humana.

Und, wie es scheint, hat die mühselige Suche nach der Quintessenz des Menschlichen bei Musil einen nachhaltigen Dämpfer abbekommen: Zumindest in der literarischen Fiktion, die Musil konsequent wie ein anthropologisches Experimentallabor inszeniert, ist die Ich-Illusion definitiv aufgehoben, das zerfransende Subjekt löst sich auf in erstaunliche Eigenschaftslosigkeit und erweist sich im Übrigen schon beim Betreten der Bühne, im ersten Romankapitel, nicht mehr als klassischer Handlungsträger.

Der Wandel der Subjektivität wird in der Literatur und Philosophie zwar vor-gedacht, aber damit ist gar nichts ausgesagt über seinen wahren (realen) Geltungsanspruch. In nuce findet sich in der Lyrik der Umbruchszeit natürlich, möchte man meinen, auch ein veränderter Blick auf den Himmel, der das Menschsein einst beschirmte. Le Ciel est mort, dichtet Stéphane Mallarmé (1842-1898) und spitzt die Frage nach dem, was über unsren Köpfen waltet, damit zu. Aber es geht um die Subjektivität! Was passiert da?

Im "Mann ohne Eigenschaften" sahen wir die Auflösung der bürgerlichen Subjektkonstitution; eine traditionelle Verwirklichung ist nicht mehr möglich. Die Stadt (Metropole) als Topos wird zum figürlichen Rahmen dieser Problematisierung. Der Protagonist (Handlungsträger) ist nicht mehr ein Subjekt mit einer Identität. Anders gesagt: Der autonom handelnde, selbstverantwortliche Mensch – so wie er das Ziel des traditionellen Humanismus war – ist untergegangen.

Freilich, vorerst nur im Modellversuch begegnen wir dem "neuen Menschen". Die Auflösung der Subjektivität zeigt sich im philosophisch-literarischen Laboratorium als Gedankenexperiment. Am Horizont ein neues Verständnismodell, mit der Unbestimmtheit als vorherrschendem Modus: Aus dem Zu-Grabe-Tragen des bürgerlichen Individuums resultiert der Gestus des Problematisierens (Problematisieren versus "Idealisieren").

Das schlechteste Ende, möchte man vorsichtig an der Stelle schlussfolgern, wäre das Individuum als Spielart (und Spielball?) eines kapitalistischen Hyperindividualismus.

Anything goes! Von der Tücke des Subjekts

Eine ganze Armada von Autoren hat es derweil schon so oder so ähnlich formuliert: Das Menschenbild aus Freiheit, Leistung und persönlicher Autonomie ist dabei, sich in Luft aufzulösen. Daran ist in diesen Tagen nicht nur Corona schuld; Corona erzeugt die Vereinzelung nicht, sondern macht sie sichtbar. Die desintegrierende Tendenz unserer modernen Gesellschaft [14] ist schon lange eine triste Realität.

"Leistung", auch darin war Max Scheler ein Vordenker, ist zur skalierbaren Größe heruntergekommen; Freiheit wird im postmodernen Lifestyle gern mit Beliebigkeit verwechselt: Anything goes. Das ist die heutige Kurzformel für den subjektivistischen Ich-Kult, Motor unserer Multioptionalitätsgesellschaft. Auch die (staatstragende?) Ideologie eines selbstbewussten, mündigen Ichs zeigt sich ramponiert; zugleich die Frage nach dem "Lebensmedium und Exportgut Demokratie", wie der Kulturwissenschaftler Ulrich Merkel genüsslich anmerkt.6 [15]

Der Mensch flüchtet sich, in unsicheren Zeiten zumal, doch gerne in ein kollektivistisches "Wir", in ein "erholsames Wir und Man", so Merkel7 [16], das Ich lässt so sein lädiertes Selbstbewußtsein in der Gruppe aufgehen, als religiöser Bekenner, als Parteigänger, manchmal – und weniger erholsam – im spontanen Event oder als Protestler; und das, so möchte "man" ergänzen, sind noch die harmloseren Formen einer Angliederung ans Gruppendasein.

Ulrich Merkel beschreibt8 [17] die zerstörerischen Exzesse, die gruppendynamisch schon aus nichtigen Anlässen aufkochen können, so etwa nach Fußballspielen, wo zu beobachten sei, "wie leicht sich ein durch Jahrhunderte kulturell anerzogenes Ich in ein reines Wir zurückverwandelt (…)."

Und auch das gehört zum "Wir": Die machtgestützte Ideologie des "Unterschieds", die gewollte (innere wie äußere) Abgrenzung, die eine Bevölkerung politisch, sozial, ökonomisch separiert, diesen Prozess womöglich antreibt und damit die Gesellschaft letztlich spaltet. Damit ist politische und soziale Praxis angesprochen, ebenso wie Erziehungs-, Disziplinierungs- und Diskriminierungsmuster und -konzepte auf der Ebene des Einzelnen.

Ein privilegiertes, homogenes "Wir" wird dann gern zur Regel erhoben und wird zum Ausgangspunkt von Kategoriebildungen ("eigen/fremd", "wir gegen sie"). Die dominanten Bevölkerungsgruppen konstruieren den "Unterschied" und bestimmen soziale Platzierungen in der Gesellschaft. Das eigene kollektive "Wir" erweist und stabilisiert sich als Negation des Anderen [18], und das auch über Staatsgrenzen hinaus.

Zwischen mancherlei äußerlichen Emanzipationsbestrebungen und krampfhaften Solidaritätsbekundungen, die mehr Wert auf formale Gleichheit legen, einem zunehmend problematischen Konservatismus und Nationalismus und den genuinen Zielen einer freien und offenen Gesellschaft öffnet sich derweil eine beachtliche Kluft. Da genau wittert der Philosoph Slavoj Žižek eine gähnende geistige Öde. Die postmoderne Individualisierung endet nach seinem rüden Urteil in der "puren und simplen Leere der Idiotie". Diese Leere versucht das Individuum (Zitat) "mit rastloser Aktivität oder dem zwanghaften Wechseln zwischen zunehmend idiosynkratischen Hobbys" zu füllen – im Endeffekt natürlich ein vergebliches Unterfangen.9 [19]

Ja, das klingt böse. Und ist doch nicht neu: Žižek schrieb das Verdikt auf den modernen Zeitgeist 2001, also einige Zeit vor Whatsapp und vor dem ersten iPhone [20] (das kam 2007 auf den Markt).

Der Gott der Smilies oder: König der Verbreitung

Heute, runde 20 Jahre weiter und beim iPhone 12 angekommen, stellt sich die Frage, ob wir dem zynisch charakterisierten Zustand nicht vielleicht auf bedrohliche Art näher kommen. "Für dreißig Likes und weniger verkauft der zeitgemäße Mensch alles, was besonders an ihm gewesen sein mag, an die Gefälligkeit", schreibt etwa der Schriftsteller Robert Schuberth.10 [21]

"Die Zahl der verkauften Produkte, der Likes in sozialen Netzen oder Besucher bei Veranstaltungen ist längst zum einzigen Kriterium des Erfolgs geworden", meint auch der Philosoph und Medientheoretiker Boris Groys und setzt mit Blick auf die Pandemie hinzu: "Inzwischen hat das Virus die Konkurrenz um die größte Verbreitung klar gewonnen."

In seinem Beitrag für die europäische Kulturzeitschrift Lettre führt Groys weiter aus11 [22]:

Nicht zufällig heißt dieses Virus Coronavirus, das heißt Virus mit der Krone, Königs-Virus. Man kann sagen: König der Verbreitung.(…) Das Coronavirus konfrontiert unsere heutige medialisierte Kultur, die in der Massenverbreitung ihr einziges Ziel hat, mit ihrem eigentlichen Ideal (…). Es ist die Utopie der Verbreitung ohne Anstrengung (…).

Smilies, immer noch mehr Smilies lautet eine Spielart der Art von Konformität, die um jeden Preis auf Anerkennung setzt und per Klick nach Zustimmung heischt. Wozu sich anstrengen? Das setzt sich bis in den Geschäftsverkehr fort, immer öfter erhalte ich die "Lieben Grüße" am Ende eines Schreibens auch von völlig Unbekannten. Das ist wohlfeil und bewährt, zusammen mit der Halluzination, die die Basis dieser Art Community letztlich ausmacht: Ein Abklatsch von Begegnung.

Corona setzt dem die Krone auf. Begegnung? Unsere Gesichter erstarren zur Maske und ähneln immer mehr vorgestanzten Abziehbildern unserer selbst. Wir folgen auch hier dem Massen- und Herdentrieb. Fügen uns ins Unvermeidliche. Ulrich Merkel (nicht mit der Bundeskanzlerin verwandt) erinnert zeitgemäß an den Simplicissimus von Grimmelshausen aus dem 17. Jahrhundert, wenn er schreibt12 [23]:

Auf dem Titelbild [24] (des) 'Simplicissimus Teutsch' aber lachte schon 1668 die Chimäre über die Vielzahl austauschbarer Ich-Masken im Theater der Welt, und ihr '"nosce te ipsum"' ['erkenne dich selbst'] entspricht der Ironie des Romans.

Zurück in die Zukunft

Die Selbstverortung des Individuums steht zur Debatte. Das bürgerliche, selbstsichere Ego stößt in der Coronakrise an seine Grenzen. Die Subjektfrage bleibt als ein "Problem ohne Lösung" zurück.13 [25]

Die vom Spätkapitalismus kolonisierte Wirklichkeit beschert uns derweil einen Menschenschlag, der einerseits von Freiheit und größerer Natürlichkeit träumt, während die Einzelindividuen gleichzeitig als Teil des Kultursystems gesellschaftliche Phänomene wie soziale Kälte, Selbstinszenierung und Entfremdung reproduzieren.

Die Situation in der Pandemie ändert daran im Grunde gar nichts; der vielfach beschworene "neue Mensch", der sich in nobler Geste zu den Werten der Solidarität und ökologischen Verantwortung zurückwendet, ist eine vorübergehende Illusion. Echte Utopien sind nicht verfügbar [26]; deren Zeitalter scheint vergessen und verloren, was sich auch in der Masse halbherziger Projektchen und Projektionen widerspiegelt.

Wie unter einem Vergrößerungsglas zeigen sich in Corona also die Schlagseiten des Systems. Das lädierte Ich setzt, ganz in erlernter mechanistischer Fasson, auf den Impfstoff als Retter. Als Retter wozu und wohin? Die einzige Änderung von Belang würde beim Denken ansetzen, oder, um beim Thema zu bleiben: Beim eigenen Ich. Auch als Geimpfte können wir am Ende in der Leere der Idiotie landen, der wir vielleicht schon anheimgefallen waren – vor Corona? Ob Homeoffice, mehr Digitales und ein praktischer Heimtrainer mit Kalorienzähler was dran ändern?

Talkrundengäste, Think Tanks, Berufspolitiker, Intellektuelle, Schriftsteller ebenso wie Börsenmakler, Konzernlenker, Gesundheitsexperten, Lifestyler und Psychologen erklären uns, was mit uns grade passiert, formulieren Erwartungen und "Perspektiven" (ein Lieblingswort aller Krisengeschüttelten) und sehen "Ausgänge" aus der Krise, schön formuliert als "Licht am Ende des Tunnels". Ist das Tunnelende erreicht, stampft die Lok vermutlich fröhlich weiter.

Geradezu abartig ist, wie beim stotternden Impfbeginn schon gleich ein Streit um Privilegien (Impfpass!) entbrennt und hier der ALTE GEIST fröhliche Urstände feiert. Ein Jahr Pandemie, viel Lärm und wenig gute Ideen, und während Covid-19 die gesamte Menschheit daran erinnert, dass eigentlich alle gleich sind, zumindest auf der Zellebene, sind angepeilte Ferienflüge schon überbucht, während die Alten und Betagten vor den Impfzentren Schlange stehen und die Weltmaschine ihre Umdrehungszahlen auf Profite nach der Krise einstellt.

Der "neue Mensch" - ein Hirngespinst?

Wohl hat Julia Kloiber recht, wenn sie im Magazin "One Zero Society", einer Zusammenarbeit zwischen dem Goethe-Institut und "Superrr Lab", sagt [27]:

Es gab nie einen besseren Moment, über die Zukunft nachzudenken, als heute.

Gut gesagt. Jedoch, wie es das Schicksal will, der Geist des Business spukt fort. Zusammen mit den andern Überresten des zersprengten Ichs, Bruchstücken, die womöglich nicht wirklich zur Erneuerung taugen. Selbst nach Parzivals "zwîvel" muss der moderne Sucher Ausschau halten, will er etwas finden, was über vordergründige Bekundungen eines "neuen Menschseins" hinausreicht.

Bleibt der neue Mensch also nur ein Hirngespinst? In Musils fiktivem Laboratorium, so haben wir gelesen, sind die Personen nicht mehr genügend individualisiert und identifiziert; der Einzelmensch geht unter im Anonymat der großen Zahl, verliert sich im Kessel der großen Stadt. Derzeit mögen die urbanen Fußgängerzonen leer, die Geschäfte geschlossen sein. Die Unfallzahlen im Straßenverkehr gehen zurück. In den Wohntürmen der Stadt sieht man Mütter mit Laptop und Kind, ein beliebtes Fotomotiv in der Krise. Der Gesundheitsminister verspricht zum x-ten Mal eine "Rückkehr zur Normalität".

Welche Normalität er wohl meint? Die Chimäre in Grimmelshausens [28] Simplicissimus lacht über die austauschbaren Masken auf der Weltenbühne und zertritt sie grinsend unter ihren Füßen.

Der "neue Mensch", so scheint es nach einem Jahr Corona, bleibt vermutlich einfach der alte.

Arno Kleinebeckel hat Literaturwissenschaft und Pädagogik in Köln studiert. Veröffentlichungen zur Wirtschafts- und Technikgeschichte, kulturkritische Arbeiten und Rezensionen. Zu den Interessenschwerpunkten gehört das Menschenbild der Moderne, auch als fach- und genreübergreifendes Thema.

Benutzte Literatur

Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 1994, frz. Erstausgabe 1975

Groys, Boris: Kulturideal Virus. Die Immunsysteme des Staates und die kommende Deglobalisierung, in: Lettre International 129 / Sommer 2020

Haberl, Tobias: Die große Entzauberung. Vom trügerischen Glück des heutigen Menschen, München (Blessing) 4. Aufl. 2020

Heinze, Carsten; Witte, Egbert; Rieger-Ladich, Markus (Hrsg.): "… was den Menschen antreibt ...". Studien zu Subjektbildung, Regierungspraktiken und Pädagogisierungsformen, Oberhausen (Athena) 2016 (Pädagogik: Perspektiven und Theorien Bd. 28)

Mallarmé, Stéphane: Poésies. Frankfurt/Main und Leipzig (insel taschenbuch) 2007

Merkel, Ulrich: Das europäische Ich. Von der Illusion einer Identität und den multiplen Ichs der Literatur, Darmstadt (wbg Academic) 2019

Moser, Walter: Zur Erforschung des modernen Menschen, in: Thomas Steinfeld, Heidrun Suhr (Hrsg.): In der großen Stadt. Die Metropole als kulturtheoretische Kategorie, Frankfurt/Main (A. Hain) 1990 (Athenäums Monografien Bd. 101)

Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Hrsg. v. Adolf Frisé. Gütersloh (Bertelsmann) 5. Aufl. (= Neuausgabe) 1960 (Lizensdruck der Rowohlt-Ausgabe, Hamburg 1952)

Peters, Ralf: Künstler sein im Kapitalismus. Zur Selbstpositionierung Kunstschaffender in einer ökonomisierten Lebenswelt, Oberhausen (Athena) 2. Aufl. 2018

Scheler, Max: Ethik und Kapitalismus. Zum Problem des kapitalistischen Geistes, Wiesbaden (VS-Verlag) 2010, zuerst: Leipzig 1919

Žižek, Slavoj: Die Tücke des Subjekts, Frankfurt/Main (Suhrkamp) 2001


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