Das lädierte Ich
Während die Weltmaschine stottert, spukt der Geist des Business weiter. Eigentlich Zeit, über das Menschsein nachzudenken. Ein Versuch
Ich, ausgetauscht gegen mich, bin Jahr für Jahr dabei gewesen.
Günter Grass: "Mein Jahrhundert"
"Die Überwindung des Neoliberalismus bedeutet noch nicht die Überwindung des Kapitalismus als Geisteshaltung"1, las ich neulich – sanft ermahnt – in einem schmalen Bändchen, das eigentlich die Überlebenschancen des Künstlers im 21. Jahrhundert zum Thema macht. Der Kölner Autor und Konzeptkünstler Ralf Peters bezieht sich in seiner Betrachtung auf einen heutzutage weitgehend vergessenen Denker des Umbruchs um die Zeitenwende 1900: Max Scheler.
Max Scheler (1874-1928), Philosoph und Anthropologe, ein eigenwilliger Denker und Analytiker, hat eine umstrittene Kapitalismuskritik hinterlassen, die sich seinerzeit jedoch in einer produktiven Weise einmischte und uns Heutige immer noch mit der Nase, und zwar unsanft, auf unsere (inzwischen rotierend-globalisierte) Weltauffassung stößt.
Im vorliegenden Artikel werde ich auf ihn in einigen Punkten eingehen, ohne selbst unbedingt "Schelerianer" zu sein. Dessen systemkritischer Ansatz verdient jedoch Aufmerksamkeit, wie mir scheint: Sein eigenständiger Blick macht ihn als Vertreter der Anthropologie des beginnenden 20. Jahrhunderts auch heute lesenswert.
Alles was zählt
Max Scheler verhandelt die Grundstruktur der kapitalistischen Logik. "Der Kapitalismus ist an erster Stelle "kein" ökonomisches System der Besitzverteilung, sondern ein ganzes "Lebens- und Kultursystem""2.
Das umschließt Geisteshaltung und Lebensweise, Weltverständnis und Motivation. Und schon gleich kann man sagen, dass mit der hier aufgeworfenen Frage nach der speziellen Logik eine rücksichtslose Quantifizierung ins Spiel kommt, eine "Zählbarmachung", die alles und jeden erfasst, Mensch, Natur, Werte und Werke, um sie schlussendlich der kapitalistischen Vereinnahmungsmaschinerie passend zu machen.
Scheler kritisiert dementsprechend den Warencharakter aller Dinge, den Menschen eingeschlossen (in dem Punkt vergleichbar mit Erich Fromm), und zwar im Kontext der Überbewertung und Profitorientierung der Arbeit, und hier insbesondere das schon angesprochene Mantra der Quantifizierbarkeit der gesamten Lebenswelt, worunter nicht zuletzt der Qualitätsgedanke ins Hintertreffen geriet (Quantität versus Qualität).
Zur herrschenden Ideologie des kapitalistischen Ethos zählt Scheler auch die neuzeitlichen Fetische "Fortschritt" und "Wachstum" mit ihrer dazugehörigen Motivationsstruktur; was sich im System nicht rechnet, wird den Kosten zugeschlagen, so auch ein Großteil dessen, was in Sonntagsreden als "Kultur" gefeiert wird. Aufschlussreich ist hier schon der Ansatz einer Verschränkung von System und Charaktermerkmalen, also der systemischen Aspekte samt Querverbindung zum Humanum bzw. dem "inneren Menschen", welcher die Verhältnisse nicht bloß abbildet, sondern sie auch trägt und reproduziert.
Die vier infantilen Ideale des Kapitalismus
Entsprechend formuliert Scheler vier Ideale des Kapitalismus, die er "infantil" nennt: Größe, Schnelligkeit, Macht und Neuheit. Das sind die Leitideen, an denen sich zumal der "Wirtschaftstypus", wie er sagt, in Denken und Handeln orientiert.
Das Ideal der "Größe" erklärt sich mit etwas Phantasie weitgehend von selbst; "Geschwindigkeit" (Schnelligkeit) hat mit der digitalen Revolution zweifellos noch an Kraft und Relevanz zugenommen und gibt dem Zeitfaktor (Diktat des Tempos), der diese Art Gesellschaft prägt, noch einmal eine ganz neue Dimension, samt den entstehenden Abhängigkeiten. "Das Lebenstempo nimmt zu, die Nischen sind verbaut, die Pausen zugemüllt; die Schollen, auf die man sich flüchten könnte, schmelzen ab", schreibt Tobias Haberl in einer kritischen Bestandsaufnahme unserer Tage.3
"Macht" schließlich stellt Scheler in den Kontext von Konkurrenzgeist und Willen zur Herrschaft über die Natur, das liest sich zumal im Zeitalter eines dominant-globalisierten Konzernkapitalismus mit all seinen desaströsen Folgen modern und war seinerzeit Ausdruck einer ambitioniert geführten Debatte im intellektellen Kreis um Lujio Brentano, Werner Sombart, Max Weber und Ernst Troeltsch. Heute, rund hundert Jahre später, ist die Machtfrage zur existenziellen Entscheidungsfrage geworden.
Die Motivationsstrukturen der Macht haben, darauf weist Scheler explizit hin, auch Wissenschaft und Technik geformt, d.h. die Wissenschaft, die mit dem kapitalistischen Ethos in enger Verbindung – oder sollte man sagen: Komplizenschaft? – steht.
Der Philosoph Michel Foucault hat sich auf der anthropologischen Ebene mit der Entstehung des Körpermodells am Ende des 18. Jahrhunderts beschäftigt; er beschreibt die "Mikrophysik der Macht" und bezieht sie auf den "gelehrigen Körper", der ins System eingepasst wird, indem seine Haltungen Schritt für Schritt zugerichtet werden, "bis ein kalkulierter Zwang jeden Körperteil durchzieht und bemeistert, den gesamten Körper zusammenhält und verfügbar macht und sich insgeheim bis in die Automatik der Gewohnheiten durchsetzt".4
Die Mikrophysik der Macht beschreibt den eingepassten Menschen, der Teil einer Maschine und in gewisser Hinsicht selbst maschinengleich geworden ist.
Dem infantilen Ideal des "Neuen" spricht Scheler zuletzt eine quasi-religiöse Bedeutung zu. Im "Neuen" verdichtet sich der vergötterte Fortschritt par excellence. Zum ersten Mal in der menschlichen Kulturgeschichte, und ausgerechnet im (nunmehr) kapitalistisch geprägten Europa, wird das "Neue" wertvoller und wichtiger als das Alte.
Schelers Zeitdiagnose und Modernekritik sind hier, man erinnere sich, auf dem Stand von 1919; wir begegnen dem Triumph des "Neuen" und die Begeisterung über alles "Innovative" heute, im Zeitalter des Turbokapitalismus, auf Schritt und Tritt und amüsieren uns wohl nur zum Schein über " (…) Lächerlichkeiten wie die neue Generation von Smartphones oder die seltsame Idee des selbstfahrenden Autos".5
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