Das lädierte Ich

Seite 2: Nicht verstummender Wertediskurs

Gabriele Schneider schreibt in ihrer Dissertation über Schelers politisches Denken zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik:

Wichtiger als eine mögliche Anschlussfähigkeit für heutige Theorieansätze scheint mir (…) die Beleg- sowie Kontrastfunktion des Schelerschen Ansatzes. Wenn heute der Bundespräsident auffordert: 'Wir brauchen den Dialog über Werte in der Gesellschaft, die auseinander zu driften droht', dann ist das nur ein Indiz für den nicht verstummten Wertediskurs einerseits und dessen zentrale Funktion für den gesellschaftlichen Zusammenhalt andererseits.

Zufällig las ich dieser Tage den folgenden Satz, den ich an der Stelle A.D. 2021 beisteuern möchte: Wir erleben gerade eine "unerbittliche Konsumierung alles Lebendigen", so Rosi Braidotti, Professorin für Philosophie zu Utrecht, in der, wie sie ausformuliert, auch der letzte Grashalm noch zur Energiegewinnung herhalten muss und die Genome längst zur Ausbeutung freigegeben sind. In diese Kategorie gehören für die Autorin aber ebenso etwa die Frauen und Kinder der globalen Sexindustrie, die billiger zu haben seien "als exotische Vögel".

Kurz gesagt: Bei Schelers Kapitalismuskritik geht es uns um das dahinter liegende Humankonzept. Dazu gehört auch das Thema "Selbstkonzept", zeitgemäß formuliert: Bietet das Nachdenken über Kapitalismus (im engeren Sinne: die Zielvorstellung einer Überwindung des Kapitalismus/Neoliberalismus) auch Ansätze zur Überwindung der dahinter stehenden (bzw. mit der kapitalistischen Lebensform verbundenen) Subjektidee? Was macht das Konzept "Individuum" am Wechsel vom 19. zum 20. Jahrhundert aus, und wie steht es heute damit?

Mit Bezug auf Corona 2020/21: Die große Maschine stockt. Betrifft es auch den Geist?

Selbstbild und Zweifel: Ein Rückblick

Der Wandel des Subjekts ist vielfach beschrieben und analysiert worden, es zeigt sich eine für unsere Belange aufschlussreiche europäische Traditionslinie, beginnend schon im Mittelalter, als Wolfram von Eschenbach an seinem "Parzival" das Prinzip des Zweifels exemplifizierte und die Figur mit der Feststellung: "Ist zwîvel herzen nâchgebûr, das muoz der sêle warden sûr" ("Wenn Zweifel nah beim Herzen wohnt, das muss der Seele sauer werden") zu einem zaudernden Romanhelden machte.

Der Zweifel als Motor und Begleiter der Selbstfindung ist seitdem aus der europäischen Theorie des Subjekts nicht wegzudenken.

Den Verlust der Ich-Autonomie thematisiert mit radikaler Modernität der österreichische Romanautor Robert Musil in seinem kühnen Mammutwerk mit einem programmatischen Titel: "Der Mann ohne Eigenschaften".

Das Aufwerfen der grundsätzlichen Frage nach dem Menschen als autonomes Handlungssubjekt nimmt damit in der europäischen Moderne eine beeindruckende literarische Gestalt an. "Ein großes Zeit- und Bewusstseinspanorama", schrieb der Deutschlandfunk vor wenigen Wochen in einem Rückblick auf die Entstehungsjahre des Romans (am 26. November 1930, also vor 90 Jahren erschien der erste Band) und setzt mit Blick auf das politisch-historische Datum hinzu: Ein "Vexierbild aus dem bereits sinnentleerten Habsburgerreich":

"Der Mann ohne Eigenschaften" ist ein großer Versuch, die zerfransende Welt der Moderne und ihre Bewusstseinsbrüche in eine Form zu bringen. Als der erste Teil erschienen war, erkannte Musil: Die Geschichte dieses Romans lief darauf hinaus, dass die Geschichte, die in ihm erzählt werden sollte, nicht erzählt wird. Wie visionär das war, begriff man erst viel später.

Die Auflösung der Subjektivität

Das ist neu: Die Geschichte, die erzählt werden soll, wird nicht erzählt. Damit ist der Bruch in der Historie der individuellen Subjektkonstitution markiert; der "kühne Versuch, die Moderne und ihre Bewusstseinsbrüche in eine Form zu bringen" (a.a.O.) liefert wenige Jahre vor Beginn des Ersten Weltkriegs Stoff für die Frage nach der conditio humana.

Und, wie es scheint, hat die mühselige Suche nach der Quintessenz des Menschlichen bei Musil einen nachhaltigen Dämpfer abbekommen: Zumindest in der literarischen Fiktion, die Musil konsequent wie ein anthropologisches Experimentallabor inszeniert, ist die Ich-Illusion definitiv aufgehoben, das zerfransende Subjekt löst sich auf in erstaunliche Eigenschaftslosigkeit und erweist sich im Übrigen schon beim Betreten der Bühne, im ersten Romankapitel, nicht mehr als klassischer Handlungsträger.

Der Wandel der Subjektivität wird in der Literatur und Philosophie zwar vor-gedacht, aber damit ist gar nichts ausgesagt über seinen wahren (realen) Geltungsanspruch. In nuce findet sich in der Lyrik der Umbruchszeit natürlich, möchte man meinen, auch ein veränderter Blick auf den Himmel, der das Menschsein einst beschirmte. Le Ciel est mort, dichtet Stéphane Mallarmé (1842-1898) und spitzt die Frage nach dem, was über unsren Köpfen waltet, damit zu. Aber es geht um die Subjektivität! Was passiert da?

Im "Mann ohne Eigenschaften" sahen wir die Auflösung der bürgerlichen Subjektkonstitution; eine traditionelle Verwirklichung ist nicht mehr möglich. Die Stadt (Metropole) als Topos wird zum figürlichen Rahmen dieser Problematisierung. Der Protagonist (Handlungsträger) ist nicht mehr ein Subjekt mit einer Identität. Anders gesagt: Der autonom handelnde, selbstverantwortliche Mensch – so wie er das Ziel des traditionellen Humanismus war – ist untergegangen.

Freilich, vorerst nur im Modellversuch begegnen wir dem "neuen Menschen". Die Auflösung der Subjektivität zeigt sich im philosophisch-literarischen Laboratorium als Gedankenexperiment. Am Horizont ein neues Verständnismodell, mit der Unbestimmtheit als vorherrschendem Modus: Aus dem Zu-Grabe-Tragen des bürgerlichen Individuums resultiert der Gestus des Problematisierens (Problematisieren versus "Idealisieren").

Das schlechteste Ende, möchte man vorsichtig an der Stelle schlussfolgern, wäre das Individuum als Spielart (und Spielball?) eines kapitalistischen Hyperindividualismus.

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