Das lädierte Ich

Seite 3: Anything goes! Von der Tücke des Subjekts

Eine ganze Armada von Autoren hat es derweil schon so oder so ähnlich formuliert: Das Menschenbild aus Freiheit, Leistung und persönlicher Autonomie ist dabei, sich in Luft aufzulösen. Daran ist in diesen Tagen nicht nur Corona schuld; Corona erzeugt die Vereinzelung nicht, sondern macht sie sichtbar. Die desintegrierende Tendenz unserer modernen Gesellschaft ist schon lange eine triste Realität.

"Leistung", auch darin war Max Scheler ein Vordenker, ist zur skalierbaren Größe heruntergekommen; Freiheit wird im postmodernen Lifestyle gern mit Beliebigkeit verwechselt: Anything goes. Das ist die heutige Kurzformel für den subjektivistischen Ich-Kult, Motor unserer Multioptionalitätsgesellschaft. Auch die (staatstragende?) Ideologie eines selbstbewussten, mündigen Ichs zeigt sich ramponiert; zugleich die Frage nach dem "Lebensmedium und Exportgut Demokratie", wie der Kulturwissenschaftler Ulrich Merkel genüsslich anmerkt.6

Der Mensch flüchtet sich, in unsicheren Zeiten zumal, doch gerne in ein kollektivistisches "Wir", in ein "erholsames Wir und Man", so Merkel7, das Ich lässt so sein lädiertes Selbstbewußtsein in der Gruppe aufgehen, als religiöser Bekenner, als Parteigänger, manchmal – und weniger erholsam – im spontanen Event oder als Protestler; und das, so möchte "man" ergänzen, sind noch die harmloseren Formen einer Angliederung ans Gruppendasein.

Ulrich Merkel beschreibt8 die zerstörerischen Exzesse, die gruppendynamisch schon aus nichtigen Anlässen aufkochen können, so etwa nach Fußballspielen, wo zu beobachten sei, "wie leicht sich ein durch Jahrhunderte kulturell anerzogenes Ich in ein reines Wir zurückverwandelt (…)."

Und auch das gehört zum "Wir": Die machtgestützte Ideologie des "Unterschieds", die gewollte (innere wie äußere) Abgrenzung, die eine Bevölkerung politisch, sozial, ökonomisch separiert, diesen Prozess womöglich antreibt und damit die Gesellschaft letztlich spaltet. Damit ist politische und soziale Praxis angesprochen, ebenso wie Erziehungs-, Disziplinierungs- und Diskriminierungsmuster und -konzepte auf der Ebene des Einzelnen.

Ein privilegiertes, homogenes "Wir" wird dann gern zur Regel erhoben und wird zum Ausgangspunkt von Kategoriebildungen ("eigen/fremd", "wir gegen sie"). Die dominanten Bevölkerungsgruppen konstruieren den "Unterschied" und bestimmen soziale Platzierungen in der Gesellschaft. Das eigene kollektive "Wir" erweist und stabilisiert sich als Negation des Anderen, und das auch über Staatsgrenzen hinaus.

Zwischen mancherlei äußerlichen Emanzipationsbestrebungen und krampfhaften Solidaritätsbekundungen, die mehr Wert auf formale Gleichheit legen, einem zunehmend problematischen Konservatismus und Nationalismus und den genuinen Zielen einer freien und offenen Gesellschaft öffnet sich derweil eine beachtliche Kluft. Da genau wittert der Philosoph Slavoj Žižek eine gähnende geistige Öde. Die postmoderne Individualisierung endet nach seinem rüden Urteil in der "puren und simplen Leere der Idiotie". Diese Leere versucht das Individuum (Zitat) "mit rastloser Aktivität oder dem zwanghaften Wechseln zwischen zunehmend idiosynkratischen Hobbys" zu füllen – im Endeffekt natürlich ein vergebliches Unterfangen.9

Ja, das klingt böse. Und ist doch nicht neu: Žižek schrieb das Verdikt auf den modernen Zeitgeist 2001, also einige Zeit vor Whatsapp und vor dem ersten iPhone (das kam 2007 auf den Markt).

Der Gott der Smilies oder: König der Verbreitung

Heute, runde 20 Jahre weiter und beim iPhone 12 angekommen, stellt sich die Frage, ob wir dem zynisch charakterisierten Zustand nicht vielleicht auf bedrohliche Art näher kommen. "Für dreißig Likes und weniger verkauft der zeitgemäße Mensch alles, was besonders an ihm gewesen sein mag, an die Gefälligkeit", schreibt etwa der Schriftsteller Robert Schuberth.10

"Die Zahl der verkauften Produkte, der Likes in sozialen Netzen oder Besucher bei Veranstaltungen ist längst zum einzigen Kriterium des Erfolgs geworden", meint auch der Philosoph und Medientheoretiker Boris Groys und setzt mit Blick auf die Pandemie hinzu: "Inzwischen hat das Virus die Konkurrenz um die größte Verbreitung klar gewonnen."

In seinem Beitrag für die europäische Kulturzeitschrift Lettre führt Groys weiter aus11:

Nicht zufällig heißt dieses Virus Coronavirus, das heißt Virus mit der Krone, Königs-Virus. Man kann sagen: König der Verbreitung.(…) Das Coronavirus konfrontiert unsere heutige medialisierte Kultur, die in der Massenverbreitung ihr einziges Ziel hat, mit ihrem eigentlichen Ideal (…). Es ist die Utopie der Verbreitung ohne Anstrengung (…).

Smilies, immer noch mehr Smilies lautet eine Spielart der Art von Konformität, die um jeden Preis auf Anerkennung setzt und per Klick nach Zustimmung heischt. Wozu sich anstrengen? Das setzt sich bis in den Geschäftsverkehr fort, immer öfter erhalte ich die "Lieben Grüße" am Ende eines Schreibens auch von völlig Unbekannten. Das ist wohlfeil und bewährt, zusammen mit der Halluzination, die die Basis dieser Art Community letztlich ausmacht: Ein Abklatsch von Begegnung.

Corona setzt dem die Krone auf. Begegnung? Unsere Gesichter erstarren zur Maske und ähneln immer mehr vorgestanzten Abziehbildern unserer selbst. Wir folgen auch hier dem Massen- und Herdentrieb. Fügen uns ins Unvermeidliche. Ulrich Merkel (nicht mit der Bundeskanzlerin verwandt) erinnert zeitgemäß an den Simplicissimus von Grimmelshausen aus dem 17. Jahrhundert, wenn er schreibt12:

Auf dem Titelbild (des) 'Simplicissimus Teutsch' aber lachte schon 1668 die Chimäre über die Vielzahl austauschbarer Ich-Masken im Theater der Welt, und ihr '"nosce te ipsum"' ['erkenne dich selbst'] entspricht der Ironie des Romans.

Zurück in die Zukunft

Die Selbstverortung des Individuums steht zur Debatte. Das bürgerliche, selbstsichere Ego stößt in der Coronakrise an seine Grenzen. Die Subjektfrage bleibt als ein "Problem ohne Lösung" zurück.13

Die vom Spätkapitalismus kolonisierte Wirklichkeit beschert uns derweil einen Menschenschlag, der einerseits von Freiheit und größerer Natürlichkeit träumt, während die Einzelindividuen gleichzeitig als Teil des Kultursystems gesellschaftliche Phänomene wie soziale Kälte, Selbstinszenierung und Entfremdung reproduzieren.

Die Situation in der Pandemie ändert daran im Grunde gar nichts; der vielfach beschworene "neue Mensch", der sich in nobler Geste zu den Werten der Solidarität und ökologischen Verantwortung zurückwendet, ist eine vorübergehende Illusion. Echte Utopien sind nicht verfügbar; deren Zeitalter scheint vergessen und verloren, was sich auch in der Masse halbherziger Projektchen und Projektionen widerspiegelt.

Wie unter einem Vergrößerungsglas zeigen sich in Corona also die Schlagseiten des Systems. Das lädierte Ich setzt, ganz in erlernter mechanistischer Fasson, auf den Impfstoff als Retter. Als Retter wozu und wohin? Die einzige Änderung von Belang würde beim Denken ansetzen, oder, um beim Thema zu bleiben: Beim eigenen Ich. Auch als Geimpfte können wir am Ende in der Leere der Idiotie landen, der wir vielleicht schon anheimgefallen waren – vor Corona? Ob Homeoffice, mehr Digitales und ein praktischer Heimtrainer mit Kalorienzähler was dran ändern?

Talkrundengäste, Think Tanks, Berufspolitiker, Intellektuelle, Schriftsteller ebenso wie Börsenmakler, Konzernlenker, Gesundheitsexperten, Lifestyler und Psychologen erklären uns, was mit uns grade passiert, formulieren Erwartungen und "Perspektiven" (ein Lieblingswort aller Krisengeschüttelten) und sehen "Ausgänge" aus der Krise, schön formuliert als "Licht am Ende des Tunnels". Ist das Tunnelende erreicht, stampft die Lok vermutlich fröhlich weiter.

Geradezu abartig ist, wie beim stotternden Impfbeginn schon gleich ein Streit um Privilegien (Impfpass!) entbrennt und hier der ALTE GEIST fröhliche Urstände feiert. Ein Jahr Pandemie, viel Lärm und wenig gute Ideen, und während Covid-19 die gesamte Menschheit daran erinnert, dass eigentlich alle gleich sind, zumindest auf der Zellebene, sind angepeilte Ferienflüge schon überbucht, während die Alten und Betagten vor den Impfzentren Schlange stehen und die Weltmaschine ihre Umdrehungszahlen auf Profite nach der Krise einstellt.

Der "neue Mensch" - ein Hirngespinst?

Wohl hat Julia Kloiber recht, wenn sie im Magazin "One Zero Society", einer Zusammenarbeit zwischen dem Goethe-Institut und "Superrr Lab", sagt:

Es gab nie einen besseren Moment, über die Zukunft nachzudenken, als heute.

Gut gesagt. Jedoch, wie es das Schicksal will, der Geist des Business spukt fort. Zusammen mit den andern Überresten des zersprengten Ichs, Bruchstücken, die womöglich nicht wirklich zur Erneuerung taugen. Selbst nach Parzivals "zwîvel" muss der moderne Sucher Ausschau halten, will er etwas finden, was über vordergründige Bekundungen eines "neuen Menschseins" hinausreicht.

Bleibt der neue Mensch also nur ein Hirngespinst? In Musils fiktivem Laboratorium, so haben wir gelesen, sind die Personen nicht mehr genügend individualisiert und identifiziert; der Einzelmensch geht unter im Anonymat der großen Zahl, verliert sich im Kessel der großen Stadt. Derzeit mögen die urbanen Fußgängerzonen leer, die Geschäfte geschlossen sein. Die Unfallzahlen im Straßenverkehr gehen zurück. In den Wohntürmen der Stadt sieht man Mütter mit Laptop und Kind, ein beliebtes Fotomotiv in der Krise. Der Gesundheitsminister verspricht zum x-ten Mal eine "Rückkehr zur Normalität".

Welche Normalität er wohl meint? Die Chimäre in Grimmelshausens Simplicissimus lacht über die austauschbaren Masken auf der Weltenbühne und zertritt sie grinsend unter ihren Füßen.

Der "neue Mensch", so scheint es nach einem Jahr Corona, bleibt vermutlich einfach der alte.

Arno Kleinebeckel hat Literaturwissenschaft und Pädagogik in Köln studiert. Veröffentlichungen zur Wirtschafts- und Technikgeschichte, kulturkritische Arbeiten und Rezensionen. Zu den Interessenschwerpunkten gehört das Menschenbild der Moderne, auch als fach- und genreübergreifendes Thema.

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