Ukraine-Krieg: Russlands Vormarsch – eine neue Kriegsführung?
Die blitzartigen Eroberungen durch russische Truppen stellt die ukrainische Verteidigung und westliche Unterstützung infrage. Eine Einschätzung.
Dass nur einen Tag nach dem russischen "Tag des Sieges" die neue Militäroperation bei Charkiw (russisch: Charkow) begann, kann als symbolisch bezeichnet werden. Dieses Symbol ist eine Absage an jede Symbolik, eine militärische Nüchternheit, ein Symbol für konzentriertes, emotionsloses Handeln, eine Absage an aufgeladene Gesten.
Die russischen Streitkräfte haben auf zwei Vormarschachsen begonnen, nördlich der ukrainischen Großstadt Charkiw vorzurücken.
Das ist einmal eine Achse bei dem Dorf Lypzi und zum anderen bei Woltschansk.
Indikator für den Stand der Kämpfe
Seit der neuen Charkiw-Operation konnten die russischen Truppen in nur sechs Tagen bereits über 250 Quadratkilometer einnehmen. Dagegen konnte die russische Armee im Februar und März in einem ganzen Monat nur jeweils 60 Quadratkilometer vorrücken.
Angesichts der schieren Größe der Ukraine sind das lächerlich kleine Gebiete und quantitativ betrachtet irrelevant. Doch kann die Zahl als ein Indikator gelten für den Stand der Kämpfe, für eine Beschleunigung des russischen Vormarsches, für eine sich vergrößernde Asymmetrie auf dem Schlachtfeld.
Was Beobachter verwundert, ist die Geschwindigkeit des russischen Angriffs im Abschnitt Charkiw, obwohl er vermutlich zurzeit nur mit 4.000 Soldaten vorgetragen wird – die russische Armee hat wahrscheinlich ein Vielfaches dieser Truppenanzahl im Raum Charkiw in der Bereitstellung.
Und das wirft Fragen auf, inwieweit die räumlich und zahlenmäßig begrenzte Charkiw-Operation so erfolgreich verlaufen konnte, obwohl das ukrainische Militär und Privatfirmen doch genau dort Verteidigungsanlagen bauen sollten.
Korruptionsvorwürfe
Das scheint nicht oder nur sehr unzureichend geschehen zu sein. Ukrainische Medien sprechen von Korruption. Nach Angaben des aserbaidschanischen Portals azerbaycan24 wurden allein im Abschnitt Charkiw 176,5 Millionen Dollar gestohlen, anstatt sie für den Bau von Befestigungen auszugeben.
Und so gibt es Bilder von wahllos in die Gegend gekippten Panzersperren, die einfach in Haufen übereinanderliegen, statt verbaut worden zu sein. Es gibt Berichte von nur brusthohen Gräben, die sich nicht an geografisch vorteilhaften Gegebenheiten orientieren, sondern einfach mitten auf einem Feld gebaut worden sind oder nicht fertiggestellten Wehranlagen.
Zudem scheinen russische Truppen mit weitreichenden Kamikaze-Drohnen systematisch den Neubau von Wehranlagen gestört zu haben, in dem sie etwa Lastwagen und Bagger bekämpft haben sollen.
Russischer Vormarsch legt an Tempo zu
Und so hat sich der russische Vormarsch selbst in dicht bebauten Gebieten wie etwa im oben genannten Städtchen Woltschansk enorm beschleunigt, so konnte in Woltschansk bereits das Stadtzentrum eingenommen werden.
Noch vor wenigen Monaten hätte die Eroberung einer Stadt vergleichbarer Größe noch Wochen, wenn nicht Monate gedauert. Allein gestern konnte die russische Armee den gesamten Nordosten der Stadt einnehmen.
Bei Lypzi stehen die russischen Truppen bereits vor der zweiten ukrainischen Verteidigungsstellung. Von Lypzi aus sind es nur noch rund 17 Kilometer bis zu den Außenbezirken von Charkiw, bis zum Stadtkern sind es dann 25 Kilometer – das rückt die zweitgrößte ukrainische Stadt in die Reichweite des Gros der russischen Artilleriesysteme.
Umgekehrt schafft das russische Vorgehen eine Pufferzone um die russische Großstadt Belgorod, die in den vergangenen Jahren Ziel ukrainischer Artillerie war.
Neben der neuen Charkiw-Operation rücken russische Truppen weiter vor in den Regionen Kupjansk, Bachmut, Donesk und Saporischschja. Nahe Saporischschja gelang es den russischen Streitkräften nach monatelangen Kämpfen, die ukrainische Armee fast vollständig aus Robotyne zu vertreiben.
Geländegewinne der ukrainischen Sommeroffensive zunichtegemacht
Nur noch einige wenige Häuser im nördlichsten Zipfel des Dorfes verbleiben unter ukrainischer Kontrolle – damit haben russische Truppen die Geländegewinne der ukrainischen Sommeroffensive fast vollständig zunichtegemacht. Strategisch unbedeutende Geländegewinne, die die ukrainische Armee einen schmerzhaften Teil ihrer Ausrüstung gekostet haben.
Es gibt Spekulationen darüber, ob russische Truppen bei Sumy eine neue Angriffsachse eröffnen werden. Der Chef des ukrainischen Geheimdienstes Kyrylo Budanov geht laut New York Times genau davon aus. Im Artikel zeichnet Budanov ein düsteres Bild von der militärischen Lage in der Ukraine:
"Die Situation steht auf der Kippe", sagte General Kyrylo Budanov, der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, in einem Videoanruf aus einem Bunker in Charkiw. "Jede Stunde bewegt sich die Situation in Richtung kritisch".
New York Times
Wie könnte das weitere Vorgehen aussehen?
Die zentrale Frage ist natürlich, wie die weitere russische Strategie aussehen wird. Wird Russland größere Truppenkontingente einsetzen, um weite Gebiete zu erobern, etwa um die ukrainischen Truppen hinter den Dnjepr zu werfen? Oder bleibt es bei begrenzten Vorstößen?
Die Antwort auf diese Frage muss zwangsläufig im Bereich der Spekulation bleiben. Allerdings tendiert der Autor des Textes anzunehmen, dass es keinen Hauptstoß geben wird. Es wird vermutlich dazu kommen, Niedrigintensitäts-Angriffsräume zu schaffen, und zwar in Gebieten, die für den Angreifer vorteilhaft sind.
Niedrigintensitäts-Angriffsräume werden hier so definiert, dass mit personell begrenzten Mitteln Vorstöße vorgetragen werden, die dem Mapping und dem Antesten der ukrainischen Verteidigungsstellungen dienen. Dann werden diese Stellungen durch die überlegene russische Feuerkraft bekämpft, ohne die eigene Infanterie intensiv einzusetzen.
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Maschinelle Kriegsführung
Dabei handelt es sich um eine Art maschinelle Kriegsführung, bei der der Einsatz von Infanterie in den Hintergrund tritt und versucht wird, den ukrainischen Streitkräften durch schwer zu bekämpfende Fernwaffen großen Schaden zuzufügen. Dabei setzt die russische Armee auf die vorhersehbare Reaktion der ukrainischen Armee in Kombination mit ihren fehlenden Fähigkeiten, insbesondere eines Fehlens an Artillerie, Flugzeugen und Flugabwehr.
Dadurch können russische Truppen in der Hauptsache Artillerie, Raketenwerfer, TOS-Brandwerfer, Lancet-Flugdrohnen, ballistische Raketen und Gleitbomben zum Einsatz bringen.
Auf die ukrainischen Verteidiger hat das Zusammenspiel dieser Waffen eine verheerende Wirkung. Das sei hier kurz skizziert:
Artillerie und Gleitbomben werden vornehmlich gegen gehärtete Ziele in den ukrainischen Verteidigungsanlagen eingesetzt. Sie zerstören Bunker und Grabensysteme, machen es den Verteidigern schwer, die Stellungen zu halten. Im Gegensatz zu früheren Kriegen ist die Effektivität des Artilleriebeschusses sehr hoch, da die Artillerie, korrigiert durch Drohnen, sehr zielgenau auf harte Punkte schießen kann. Und das über große Entfernungen.
TOS-Brandwerfer verschießen thermobarische Raketen, also Aerosol-Sprengköpfe, die vor allem gegen Infanterie wirken.
Russland hat weltweit nach China das zweitgrößte Kontingent an Raketenartillerie zur Verfügung. Im Westen ist hier vor allem das amerikanische Himars-System bekannt. Russland verfügt über ähnlich leistungsfähige Systeme und modernisiert zudem seine Raketenartillerie.
Im Zusammenspiel mit Lancet-Drohnen und ballistischen Raketen kann diese tief in den ukrainischen Raum hineinwirken, Truppenkonzentrationen stören, Kommandostrukturen und Luftabwehrsysteme bekämpfen und darüber hinaus durch Gegenbatteriefeuer ukrainische Artillerie ausschalten, Munitions- und Treibstoffdepots treffen.
Russland verfügt also über ein breites Arsenal an Abstandswaffen, die von der ukrainischen Armee nur sehr unzureichend abgewehrt werden können. Und für Russland bedeutet der Einsatz dieser Distanzwaffen eine Minimierung des eigenen Risikos, wertvolle Soldaten zu verlieren.
Ein Abnutzungskrieg wie in der Ukraine, das ist ein Kampf um Punkte, um Schadpunktzahlen, das heißt, das Ziel ist weniger die Eroberung von Raum.
Bewirtschaften des Angriffsraumes
Ziel der russischen Armee ist es vermutlich, die eigene, überlegene Kriegsmaschinerie so auszurollen, wie es gerade am erfolgreichsten ist. Und der Erfolg in einem Abnutzungskrieg misst sich nicht an eroberten Quadratkilometern, sondern am Ausmaß des dem Gegner zugefügten Schadens unter Schonung der eigenen militärischen Kräfte.
Hier kann man fast von einem Bewirtschaften des Angriffsraumes sprechen. Und so müssen die jeweiligen, neu ausgerollten Angriffsachsen der russischen Armee mit allem ausgestattet sein, was es für diese Art der Kriegsführung braucht, wie weiter oben dargestellt.
Folglich muss man zur Kenntnis nehmen, dass es der russischen Rüstungsindustrie gelungen ist, die Armeen Moskaus mit genügend Kriegsgerät auszustatten, sodass nicht nur die Maschinerien der bestehenden Angriffsachsen weiter betrieben werden können, sondern geografisch neue Vorstöße möglich werden.
Deshalb geht der Autor dieser Zeilen davon aus, dass wir die Eröffnung weiterer Angriffsachsen sehen werden, in der Form von Niedrigintensität-Angriffsräumen, wie das oben beschrieben ist.
Aussichten
Das würde folglich bedeuten, dass sich die russische Armee keiner risikoreichen Groß-Schlacht aussetzen wird, wie das etwa ein Sturm auf Charkiw bedeuten würde. Sollte die Eroberung Charkiws ein strategisches Ziel der russischen Führung sein, so würden wir eher ein belagerungsähnliches Vorgehen der russischen Armee erwarten können, d. h. die Erlangung der Feuerkontrolle über die Nachschubwege in die ukrainische Großstadt hinein.
Das hier angenommene Vorgehen der russischen Armee heißt aber nicht, dass keine territorialen Ziele durch die russische Führung verfolgt werden, es heißt vielmehr, dass die territorialen Ziele keine Priorität haben über das übergeordnete Ziel, der ukrainischen Armee möglichst viel Schaden zuzufügen.
Eine Entwicklung innerhalb der russischen Regierung könnte als Bestätigung dieser Theorie gedeutet werden: Mit Andrei Remowitsch Beloussow wird ein Wirtschaftswissenschaftler neuer russischer Verteidigungsminister. Und es darf angenommen werden, dass es in einem Abnutzungskrieg von Vorteil ist, Wirtschaftsfachleute stark in Entscheidungen einzubinden.
Nicht zu vernachlässigen ist auch, dass Russland heute zusammen mit der Ukraine über die mit Abstand erfahrenste Armee der Welt verfügt: Die russische Führung kann durch intensive Truppenrotation einer großen Zahl von Soldaten Kriegserfahrung vermitteln. Fronterfahrung ist die höchste Stufe militärischer Ausbildung. Die Erfahrung und Ausbildung der Soldaten ist ein zentraler Faktor bei der Beurteilung der Kampfkraft einer Armee.
Es ist noch zu früh, um tatsächlich Einschätzungen machen zu können, wie sich die neue Charkiwer Operation auf das Kriegsgeschehen auswirken wird. Festzuhalten ist aber, dass die ukrainischen Verteidigungsanlagen im Gebiet Charkiw überraschend schwach ausgestaltet sind.
Sollten die russischen Streitkräfte tatsächlich weitere Angriffsachsen eröffnen, so wird es für die ukrainische Armee schwierig, die Verteidigung aufrechtzuerhalten. Denn Kiew fehlt es an Reserven: Bereits jetzt sollen Truppenkontingente an anderen Teilen der Front, etwa im Donbas, herausgelöst worden sein, um die Linien um die bedrohte Großstadt zu verstärken.