War Robert Fico am Mordanschlag selbst (auch ein wenig) schuld?
Nach dem Attentat in der Slowakei kursieren seltsame Ansichten durch die Medien. Uns ist vor allem eine Formulierung aufgefallen. Dazu ein Kommentar.
In einem der ersten Beiträge nach dem Attentat auf den slowakischen Regierungschef Robert Fico am gestrigen Mittwoch schrieb der stellvertretende Ressortleiter Außenpolitik des Nachrichtenmagazins Spiegel vom "Entsetzen in einem gespaltenen Land". Die Schüsse auf Fico fielen "in eine Zeit des politischen Hasses, der die Slowakei seit langem heimsucht".
Dann folgt ein Satz wie ein Schlag in die Magengrube; Zitat: "Auch das Opfer hat zur Polarisierung beigetragen".
Natürlich versucht der Journalist gemeinhin ein wenig zuzuspitzen, vorrangig, wenn es um Online-Zugriffe geht. Vor allem am Ende der Zwischenüberschrift. Da gibt es dann einen kleinen Ausblick auf den Inhalt, eine unbeantwortete Frage, den sogenannten Cliffhanger, eine provokante Formulierung. Aber diese Formulierung? Im Ernst?
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Wenn ein Mensch Opfer eines Attentats wird, auch und vielleicht gerade ein Politiker, dann ist er vor allem eines: Opfer. Er ist kein Täter. Er ist nicht selbst schuld, nicht einmal ein wenig. Das trifft auf Fico im Jahr 2024 zu, wie auf Wolfgang Schäuble oder Oskar Lafontaine im Jahr 1990.
Robert Fico hat zu keiner Situation beigetragen, die in einem Mordanschlag auf ihn gipfelte, hätte gipfeln können oder hätte gipfeln sollen, wie der Spiegel-Redakteur vielleicht insgeheim zu vermitteln versuchte.
Opfer sind Opfer
Genauso wenig, wie Frauen und Mädchen an sexuellen Übergriffen Schuld tragen, weil sie das Falsche trugen, das Falsche sagten, dem Falschen den falschen Blick zuwarfen, kurz: gegen Normen der Mehrheit verstießen, die sie hätten schützen können.
Verheerender als der Fauxpas in einer Unterüberschrift ist die fehlende Einordnung dieser Sichtweise, die am Tag nach dem Attentat in der Slowakei die westeuropäische Presse beherrscht: Fico ist eine zwielichtige Gestalt, so der Tenor, bei dem mitschwingt: Irgendwie hat er selbst dazu beigetragen.
Bestürzung und Vorwürfe
Und da werden all die Vorwürfe wiederholt, so absurd sie auch sein mögen: Das Deep-Fake-Video über Gegenkandidaten bei Wahlen, das er zwar nicht in Umlauf gebracht hat, das ihm aber irgendwie doch genutzt habe; irgendwelche Mafia-Kontakte, die er nicht unterhalten hat, die ihm aber irgendwie genutzt haben sollen; und vor allem die Ursünde des neuen Europa: Die Rückbesinnung auf den Nationalstaat und eine eigene Wirtschaftspolitik, die dem eigenen Land nützt und im Zweifelsfall auch den Handel mit Russland einschließt, das Brüssel demnächst mit dem 14. Sanktionspaket belegt
"Auch das Opfer hat zur Polarisierung beigetragen." Manchmal hilft es, solche Sätze in einen anderen zeitlichen Kontext zu stellen. Die Attacke auf den SPD-Politiker in Dresden zum Beispiel oder auf die SPD-Wirtschaftssenatorin in Berlin im laufenden Europawahlkampf.
Würde sich keiner trauen. Und das zu Recht.
Was bleibt, sind Doppelmoral und Entlarvung.