Das ohrenbetäubende Schweigen der Intellektuellen inmitten globaler Konflikte

Friedensdemo in Berlin. Bild: wal_172619 / Pixabay

Progressive Kommentatoren sind in den großen Medien immer seltener anzutreffen. Konservative Meinungsmacher dominieren die politischen Bühnen im Westen und rechtfertigen Verbrechen. Was ist da los? (Teil 1)

Die Intellektuellen haben kein Monopol auf Kultur, Werte oder Wahrheit und schon gar nicht auf die Bedeutung, die einem dieser "Domänen des Geistes", wie sie früher genannt wurden, zugeschrieben werden.

Aber die Intellektuellen sollten deswegen nicht davor zurückschrecken, das anzuprangern, was sie als zerstörerisch für Kultur, Werte und Wahrheit ansehen, vor allem, wenn diese Zerstörung im Namen des Geistes betrieben wird. Die Intellektuellen dürfen sicherlich auf das Positive verweisen, die Sonne schon vor Tagesanbruch gewissermaßen begrüßen, aber sie müssen zugleich vor den Wolken warnen, die sich vor Einbruch der Dunkelheit bedrohlich am Himmel zusammenziehen und uns daran hindern, das Tageslicht später zu genießen.

Boaventura de Sousa Santos ist emeritierter Professor für Soziologie an der Universität von Coimbra in Portugal.

Europa ist Zeuge einer beunruhigenden (Wieder-)Auferstehung zweier Entwicklungen, die die Domänen des Geistes zerstören: die Eliminierung der Demokratie durch das Erstarken extremer rechter Kräfte und die Unterwanderung des Friedens durch die Erklärung des Kriegs zu einer Naturgewalt.

Beide Zerstörungsprozesse werden durch Werte legitimiert, die sie eigentlich unmöglich machen sollen. Der Faschismus wird im Namen der Demokratie gefördert; der Krieg wird im Namen des Friedens gutgeheißen. All das ist möglich geworden, weil die politische Initiative und die Medienpräsenz den konservativen Kräften der Rechten und der extremen Rechten überlassen werden.

Soziale Schutzmaßnahmen, die den Menschen das Gefühl geben sollen, dass Demokratie besser ist als Diktatur, werden gerade wegen der Kosten des Kriegs in der Ukraine immer spärlicher. Zugleich treffen die Wirtschaftssanktionen gegen den "Feind", die mutmaßlich ihn schädigen sollen, in Wirklichkeit vor allem die europäischen Völker, deren Regierungen sich mit den USA verbündet haben.

Die Zerstörung des Friedens und der Demokratie wird vor allem dadurch vorangetrieben, dass zwei Kreise in Bezug auf garantierte Freiheiten sehr unterschiedlich gezogen werden. Ich meine damit die Meinungs- und Handlungsfreiheit, die von den politisch und medial Verantwortlichen den Menschen zugestanden werden.

Der Kreis der garantierten Freiheiten im Falle progressiver Positionen, die für einen gerechten und dauerhaften Frieden und eine integrativere Demokratie eintreten, wird immer kleiner, während der Kreis der zugestandenen Freiheiten im Falle konservativer Positionen, die für Krieg und faschistische Polarisierung in Verbindung mit neoliberaler wirtschaftlicher Ungleichheit eintreten, nicht aufhört zu wachsen.

Progressive Kommentatoren sind zunehmend abwesend in den großen Medien, während die konservativen uns Woche für Woche seitenweise erschütternde Mittelmäßigkeit bieten.

Werfen wir einen Blick auf einige der wichtigsten Symptome dieses gewaltigen Prozesses, der derzeit im Gange ist:

1) Der Informationskrieg über den Russland-Ukraine-Konflikt hat die veröffentlichte Meinung so sehr in Beschlag genommen, dass selbst Kommentatoren mit einem Mindestmaß an konservativem Menschenverstand sich ihm mit ekelhafter Unterwürfigkeit unterworfen haben.

Hier ein Beispiel unter vielen, wie sie in europäischen kommerziellen Medien aufzufinden sind: Während seines wöchentlichen Auftritts in einem portugiesischen Fernsehsender sagte Luís Marques Mendes, ein bekannter politischer Meinungsmacher, normalerweise eine Stimme des gesunden Menschenverstands innerhalb des konservativen Lagers: "Die Ukraine muss den Krieg gewinnen, denn wenn sie es nicht tut, wird Russland in andere europäische Länder einmarschieren". Das ist so ziemlich das, was die amerikanischen Fernsehzuschauer täglich von Rachel Maddow von MSNBC zu hören bekommen.

Wie kommt man auf ein derart absurde Idee, wenn nicht durch eine Überdosis an Fehlinformationen? Haben sie vergessen, dass das postsowjetische Russland versucht hat, der Nato und der EU beizutreten, aber abgewiesen wurde, und dass die Nato-Erweiterung bis an die Grenzen Russlands entgegen den Versprechungen an den ehemaligen Präsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, ein legitimes Sicherheitsanliegen Russlands darstellen kann, selbst wenn die Ukraine-Invasion illegal ist, wie ich vom ersten Tag an wiederholt angeprangert habe?

Erinnern diese Leute sich nicht daran, dass es die USA und das Vereinigte Königreich waren, die die ersten Friedensverhandlungen kurz nach Ausbruch des Kriegs boykottierten? Haben die Kommentatoren auch nur einen Moment lang bedacht, dass eine Atommacht, die sich mit der Möglichkeit einer Niederlage in einem konventionellen Konflikt konfrontiert sieht, zum Einsatz ihrer Atomwaffen greifen könnte, was wiederum zu einer nuklearen Katastrophe führen könnte?

Sehen sie nicht, dass zwei Nationen, die ukrainische und die russische, im Krieg in der Ukraine verschlissen werden, um Europa in die totale Abhängigkeit von den USA zu zwingen und die Expansion Chinas zu stoppen, des Landes, mit dem sich die USA wirklich im Krieg befinden?

Ist den Kommentatoren nicht klar, dass die Ukraine von heute das Taiwan von morgen ist? Merkwürdigerweise wird inmitten dieses Propagandafiebers nie gesagt, was eine Niederlage Russlands bedeuten wird: Wird sie zum Sturz des russischen Präsidenten Wladimir Putin oder zur Balkanisierung Russlands führen?

2) Die antikommunistische Ideologie, die die westliche Welt bis in die 1990er-Jahre beherrschte, wird heimlich recycelt, um den antirussischen Hass bis zur Hysterie zu schüren, obwohl bekannt ist, dass Putin ein autokratischer Führer ist, ein Freund der europäischen Rechten und der extremen Rechten.

Russischen Künstlern, Musikern und Sportlern wird der Zutritt zu Veranstaltungen verwehrt, und Kurse über russische Kultur und Literatur – die nicht weniger europäisch sind als die französische Literatur und Kultur – werden gestrichen. Infolge des Versailler Vertrags von 1919, der Deutschland nach seiner Niederlage im Ersten Weltkrieg demütigen sollte, wurden deutsche Schriftsteller von der Teilnahme an der ersten Sitzung des jährlichen PEN-Kongresses im Mai 1923 ausgeschlossen.

Die einzige abweichende Stimme war die von Romain Rolland, der 1915 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Trotz all seiner Schriften gegen den Krieg und vor allem gegen die deutschen Kriegsverbrechen hatte Rolland den Mut, "im Namen des intellektuellen Universalismus" zu sagen: "Ich werde mein Denken nicht den tyrannischen und wahnsinnigen Schwankungen der Politik unterwerfen."