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Das unbegreifliche Desinteresse an den Genesenen

Die Verschärfung der Maßnahmen, der "Lockdown für Ungeimpfte" und die allgemeine Impfpflicht stehen im Mittelpunkt der Diskussionen. Und die Millionen Genesenen?

Sicher. Jeder weiß, dass sich hinter dem 3G oder dem 2G grundsätzlich auch ein G verbirgt, das für die Gruppe der Genesenen steht. Größer schon wird die Unwissenheit, wenn es um die Frage der offiziellen Schutzdauer geht, die den Genesenen von der Politik in Form des digitalen Impfausweises zugestanden wird.

Seit Einführung dieses Ausweises, der über Zugang oder Ausschluss des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens entscheidet, wurden Genesenen sechs Monate zugesprochen, wohingegen Geimpfte zwölf Monate erhielten. Überraschend: Während bei dieser Entscheidung zumindest einige wenige Studien zur Immunantwort der Genesenen existierten, konnte es zu diesem Zeitpunkt logischerweise noch keine Studien über die Dauer der Immunantwort der Geimpften geben, da erst seit Kurzem geimpft wurde.

Allerdings zeigten bereits im Juli dieses Jahres die Daten aus Israel, dass die Impfwirksamkeit nach sechs Monaten nur noch bei 39 Prozent lag [1]. Nichtsdestotrotz wurde entschieden: Die Immunantwort der Geimpften war doppelt so lange wirksam wie die der Genesenen. Eine Nachfrage von Telepolis beim RKI ergab Anfang September, dass die Entscheidung im Hinblick auf die Genesenen eine "politische Entscheidung" [2] war.

Es geht hier und im Weiteren wohlgemerkt nicht darum, Genesene gegen Ungeimpfte oder gegen Geimpfte auszuspielen. Darum darf es niemals gehen. Es geht jedoch um eine eklatant fehlende Differenzierung. Um die Ausblendung der Genesenen aus dem Diskurs.

Vermessenheit

Prof. Dr. Alexander Kekulé, Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie des Universitätsklinikums Halle, spricht im Hinblick auf die deutliche Besserstellung der Geimpften von einer "steinzeitlichen Regelung aus den Anfangstagen der Pandemie" [3]. Er nennt es bezeichnenderweise "ganz schön vermessen, dass die Menschen glauben, mit ihrem der Natur nachgebautem Impfstoff besser zu sein als das menschliche Immunsystem, das Milliarden Jahre Zeit hatte, sich zu entwickeln".

Tatsächlich belegen zahlreiche Studien, dass Genesene rund zwölf Monate geschützt sind. Zahlreiche Experten sind ebenfalls dieser Meinung, wie bereits ausführlich auf Telepolis dargestellt [4] wurde.

Ungeachtet dieser Tatsachen hat das RKI seinen Steckbrief mit Informationen zu Covid-19 am 28. Oktober aktualisiert. Dort heißt es zur Einschätzung des Schutzes von Genesenen weiterhin unverändert [5]:

Die derzeit verfügbaren klinischen und immunologischen Daten belegen eine Schutzwirkung für mindestens 6-10 Monate nach überstandener Sars-CoV-2- Infektion.

RKI

Auf Nachfrage von Telepolis, auf welcher wissenschaftlichen Basis die Bestätigung der Sechs-Monate-Regelung basiert, die eigentlich dem wissenschaftlichen Stand zu widersprechen scheint, gab es die Antwort, dass das RKI dem nichts hinzuzufügen habe.

Desinteresse an 16,5 Millionen?

Es wäre natürlich zutiefst unlogisch, die Gruppe der Genesenen explizit aus dem öffentlichen Diskurs auszuschließen, als ob es sie nicht gäbe. Offiziell sind dies immerhin 6,5 Millionen Menschen (tragischerweise sind in Deutschland nach offiziellen Angaben 106.680 infizierte Menschen verstorben. Das heißt im Umkehrschluss, dass 98,4 Prozent der offiziell Infizierten zu Genesenen geworden sind). Betrachtet man aber die Politik seit März 2020 wird man schnell gewahr, wie erstaunlich abwesend die Genesenen gleich in mehrerer Hinsicht sind.

Diese Abwesenheit beginnt damit, dass es aufgrund fehlender Studien schlicht keine genauere Vorstellung davon gibt, wie hoch die Anzahl der Genesenen in Deutschland eigentlich wirklich ist, da viele Menschen asymptomatisch erkrankt sind und nicht einmal wissen, dass sie die Erkrankung überstanden haben. Das RKI geht gemäß einer Antwort auf eine Telepolis-Anfrage von einer Untererfassung der Infizierten um den Faktor 2 bis 3 aus.

Damit dürfen zur offiziellen Zahl der Infizierten noch einmal etwa 10 Millionen Infizierte hinzuaddiert werden. Insgesamt haben wir also nach dieser Schätzung des RKI vermutlich 16,5 Millionen Genesene in Deutschland. Knapp 20 Prozent der Bevölkerung.

Das Desinteresse an Genesenen ist erstaunlich, um es vorsichtig zu formulieren, denn natürlich ist es entscheidend, wie hoch der Anteil der bereits grundimmunisierten Menschen in einer Bevölkerung ist, auf das ein Virus trifft. (Es wäre in diesem Zusammenhang auch interessant zu erfahren, von welcher Genesenenrate eigentlich die Modellierungen ausgehen.)

Die Abwesenheit des Interesses an den Genesenen geht weiter, da im Hinblick auf die Impfquote oder die gewünschte Impfquote niemals die Quote der Genesenen auch nur berücksichtigt wird. Sie findet nicht einmal Erwähnung. Ganz so, als ob nur Geimpfte eine Immunisierung hätten und einzig eine Impfung diese gewährleisten würde.

An dieser Stelle gilt es natürlich zu berücksichtigen, dass ein Großteil der Genesenen aufgrund einer Impfdosis nun in die Kategorie der Geimpften fallen. Man darf also selbstverständlich nicht einfach die 20 Prozent Genesenen auf die Impfquote hinzurechnen. Wie groß aber der Anteil der Menschen sind, deren Erkrankung mehr als sechs Monate zurückliegt und die nicht geimpft sind, liegt in Deutschland weiterhin im Dunkeln. Sie gelten schlicht als Ungeimpfte.

Und bei aller berechtigten Diskussion, wie lange Genesene gegen eine Reinfektion immun sind, sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass zumindest die offizielle Zahl der Genesenen (deren Erkrankung also nicht älter als sechs Monate ist) als eigenständige Genesenen-Quote betrachtet und genannt wird.

Genesene, Impfung und Immunantwort

Die Abwesenheit der Genesenen in relevanten Diskussion zeigt sich auch darin, dass es keinerlei Wissen darüber gibt, wie viele Genesenen erneut erkranken, wieder erkrankt ins Krankenhaus geliefert, auf Intensivstationen behandelt werden oder gar sterben.

"Im Intensivregister wurde für den angefragten Zeitraum nicht der Status genesen, ehemals genesen, geimpft oder unvollständig geimpft der Covid-Intensivpatientinnen und -patienten erfasst", so die Antwort der Bundesregierung [6] auf die Anfrage des AfD-Bundestagsabgeordneten Dirk Brandes. Auf Anfrage von Telepolis bestätigte das RKI, es gebe keine Kategorie für Genesene beim Krankenhausaufenthalt. Es würde einzig erfasst, ob diese geimpft oder ungeimpft seien.

Aufgrund der fehlenden Daten im Krankenhaus lassen sich grundlegende Erkenntnisse nicht gewinnen. Es ist unmöglich beispielsweise herauszufinden, inwiefern es einen signifikanten Unterschied bei Impfdurchbrüchen gibt, wenn man die Gruppen der doppelt Geimpften und die der Genesenen miteinander vergleicht, die eine Dosis erhalten haben. Noch weniger nachvollziehbar ist dies, da die Krankenhausdaten eine solide wissenschaftliche Aussage über den Immunschutz der Genesenen allgemein geben könnten, wenn man die Wahrscheinlichkeit berechnet, sich als Genesener ohne Impfung zu reinfizieren und einen schweren Krankenhausverlauf erleiden zu müssen.

Das Desinteresse an den Genesenen zeigt sich auch dort, wo es um Nebenwirkungen der Impfung geht. Das Paul-Ehrlich-Institut, das derzeit die Wahrscheinlichkeit schwerer Nebenwirkungen einer Impfdosis mit 0,2 auf 1000 beziffert, erklärt auf Nachfrage von Telepolis, dass es bei der Meldung von Nebenwirkungen "eine Differenzierung für geimpfte Genesene nicht gibt".

Die Frage nach einer Differenzierung bei den Nebenwirkungen ist jedoch keineswegs überflüssig, denn selbstverständlich reagiert ein Mensch, der eine Krankheit bisher bekämpft und durchlebt hat, anders als Menschen, die bisher nicht infiziert waren. Genesene haben nicht nur zahlreiche Antikörper, sondern auch immunologische Gedächtniszellen, wie eine Vielzahl von Untersuchungen [7] gezeigt haben. Diese sind der eigentliche Schutzmechanismus des Immunsystems gegen eine neue Erkrankung.

Es gibt Hinweise aus England, dass schwere Nebenwirkungen signifikant häufiger bei Genesenen auftreten, die sich impfen lassen. Bei einer Online-Umfrage [8] zeigte sich, dass Genesene das Eintreten schwerer Nebenwirkungen zu 56 Prozent für wahrscheinlich halten (vergleiche auch hier [9]). Inwiefern dies tatsächlich zutrifft, könnte nur eine entsprechende Datenerhebung belegen, die aber bisher unterlassen wurde.

Bei dem herrschenden Desinteresse an der Gruppe der Millionen Genesene, erstaunt es nicht, dass weder die Anzahl der Genesenen, die sich haben impfen lassen, bekannt ist (wie das Paul-Ehrlich-Institut auf Anfrage von Telepolis bestätigte) noch die Anzahl der Genesenen, die sich auch nach Ende ihres Sechs-Monats-Schutzes nicht impfen lassen möchten und so automatisch unter die Gruppe der Ungeimpften fallen.

Abwägung

Für jede Impfempfehlung ist sinnvollerweise eine Schaden-Nutzenabwägung vonnöten, das heißt die Daten der klinischen Studien werden auf den Vorteil der Impfung für den Einzelnen geprüft (also im Vergleich zur Wahrscheinlichkeit und Schwere der Erkrankung) und auf der anderen Seite der Waage wird die Wahrscheinlichkeit und Schwere von möglichen Impfnebenwirkungen abgewogen.

Anschließend wird je nach Abwägung eine Impfung empfohlen oder nicht. Aufgrund der klinischen Studien zu den verschiedenen Impfstoffen, die gegen Sars-CoV-2 eingesetzt werden, und den national gemeldeten Nebenwirkungen, erscheint eine Schaden-Nutzen-Abwägung für Menschen, die noch nie mit der Krankheit in Berührung gekommen sind, relativ klar. Sowohl die Wahrscheinlichkeit als auch die Schwere der Erkrankung lassen sich aus den Erfahrungswerten relativ gut ablesen, ebenso wie die Nebenwirkungen.

Die Schaden-Nutzenabwägung erweist sich bei Genesenen aber vermutlich deutlich komplexer. Zum einen liegen kaum Daten für die Wahrscheinlichkeit einer Reinfektion vor, noch über die zu erwartenden Schwere der Erkrankung. Wie genau soll also der Nutzen berechnet werden?

Da man zudem die Nebenwirkung der Impfung nicht im Hinblick auf die Genesenen differenziert, lassen sich kaum Erkenntnisse darüber ableiten, wie hoch ein möglicher Schaden wäre. Wie also für Genesene eine Schaden-Nutzenabwägung genau möglich sein soll, erscheint somit nicht selbstverständlich.

Das RKI schreibt zu dieser Frage im Epidemiologischen Bulletin 25/21 [10] lediglich (bezugnehmend auf vier Studien):

Es gibt jedoch keine Hinweise darauf, dass die Impfung von Genesenen eine relevante Gefährdung darstellt.

RKI

Anfragen von Telepolis an die Stiko und an das Paul-Ehrlich-Institut im Hinblick auf die wissenschaftliche Begründung der Impfempfehlung für Genesene, die über die Darstellung im Epidemiologischen Bulletin hinausgehen, blieben unbeantwortet.

Die Empfehlung lautet: Nach sechs Monaten soll ein Genesener sich impfen lassen, ansonsten wird er als Ungeimpfter gezählt.

Fokus auf Impfpflicht. Desinteresse an Genesenen

Betrachtet man die gegenwärtige Krise, die nun seit März 2020 die Welt in Atem hält, erstaunt es, dass politische Entscheidungsträger, die immer das Primat der Wissenschaftlichkeit betonen, ein derart eklatantes Desinteresse an den Millionen Genesenen an den Tag legen. Es gibt, wie dargelegt, zu keiner relevanten Frage aussagekräftige Zahlen.

Hinter diesem Desinteresse, das von einem ausgrenzenden Fokus auf die Impfung und die Erhöhung der Impfquote als Lösung begleitet wird, mag ein schön einfach zu vermittelndes Narrativ stecken. Inwiefern aber ein derartiges Desinteresse an der tatsächlichen Datenlage Ausdruck einer wissenschaftlichen Herangehensweise ist und damit den optimalen Weg aus der Krise ebnet, bleibt ein Rätsel.

Hoffnungsschimmer?

Auf Nachfrage von unsrer Seite betont das DIVI im Hinblick auf die Erfassung von Genesenen im Krankenhaus, dass "derzeit an der technischen Umsetzung (gearbeitet wird), nachdem diese Zahlen mit der im November aktualisierten 'DIVI-Intensivregisterverordnung' nun ebenfalls im Intensivregister abgefragt werden sollen. Wir rechnen in einigen Wochen mit ersten Zahlen, haben hierzu aber zum jetzigen Zeitpunkt noch nichts vorliegen".

Das wäre nach 20 Monaten Krise endlich ein erster Schritt zur sinnvollen Berücksichtigung der Genesenen. Eine Anfrage von Telepolis an den neuen Gesundheitsminister Karl Lauterbach, ob er seiner eigenen Aussage nun Folge leisten würde, mithilfe einer "interessanteren Nutzung" der Antikörpertests könne er sich durchaus eine Verlängerung der offiziellen Schutzzeit von sechs Monaten für Genesene vorstellen, blieb bisher unbeantwortet.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6297385

Links in diesem Artikel:
[1] https://blogs.bmj.com/bmj/2021/08/23/does-the-fda-think-these-data-justify-the-first-full-approval-of-a-covid-19-vaccine/
[2] https://www.heise.de/tp/features/Dies-ist-eine-politische-Entscheidung-6211168.html
[3] https://www.welt.de/debatte/plus234350116/Schikanen-fuer-Genesene-G-ist-in-Deutschland-nicht-gleich-G.html
[4] https://www.heise.de/tp/features/Dies-ist-eine-politische-Entscheidung-6211168.html
[5] https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2021/Ausgaben/43_21.pdf?__blob=publicationFile
[6] https://afdbundestag.de/dirk-brandes-bundesregierung-kann-keine-angaben-zu-genesenen-auf-intensivstationen-machen-wir-brauchen-endlich-verlaessliche-daten/
[7] https://g-f-v.org/2021/09/30/4411/
[8] https://www.mdpi.com/2075-1729/11/3/249/htm
[9] https://www.bmj.com/content/374/bmj.n2101
[10] https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2021/Ausgaben/27_21.pdf?__blob=publicationFile