Das verdrängte Massaker

In Afrika kämpfen Nachkommen der Opfer eines deutschen Kolonialverbrechens für Entschädigung. Doch Berlin stellt sich taub

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Ein deutscher Völkermord im kolonialen Afrika? Kaum jemand hierzulande mag glauben, dass im Jahr 2008 noch solche Vorwürfe erhoben werden. Die klassischen „Schutzgebiete“, wie die überseeischen Territorien in Berlin hießen, fielen schließlich bereits nach dem 1. Weltkrieg 1918 an die Siegermächte. Dass die Debatte um den deutschen Kolonialismus erst vor wenigen Wochen wieder im Bundestag auf der Tagesordnung stand, hat mit einem wenig aufgearbeiteten Kapitel der deutschen Geschichte zu tun: dem Massaker an den Herero 1904 im heutigen Namibia. Keine der deutschen Staatsführungen hat sich seit damals ernsthaft mit der Bluttat auseinandergesetzt. Nun klagen die Nachkommen der Opfer in den USA.

Der verheerende Befehl ist auf den 2. Oktober 1904 datiert. An diesem Tag richtete der preußische Kommandeur in Deutsch-Südwestafrika, General Lothar von Trotha, einen Aufruf an das Volk der Herero. Nach andauernden bewaffneten Konflikten und Übergriffen auf die deutschen Besatzer, bei denen nach Militärangaben 123 Kolonisten getötet wurden, forderte er alle Mitglieder der Volksgruppe auf, „das Land zu verlassen“. Wer dem Befehl nicht folge, werde mit Waffengewalt dazu gezwungen.

Herero-Truppenspieler mit Pickelhaube

Die Drohung war durchaus glaubwürdig. Während der Niederschlagung des chinesischen Boxeraufstandes hatte von Trotha sich wenige Jahre zuvor bereits als erbarmungsloser Militär einen Namen gemacht. Ähnlich ging er nun auch im deutschen "Schutzgebiet" vor. Zehntausende Herero wurden in die Omaheke-Wüste getrieben. Von Trotha befahl seinen Truppen – 15.000 Mann –, die Wasserstellen zu besetzen und auf jeden Herero zu schießen, der sich ihnen nähert. Bei dem Versuch, die Einöde zu durchqueren, um das dahinter liegende britische Gebiet zu erreichen, starben bis zu 60.000 Menschen.

Berlin will nicht von Völkermord sprechen

Seither ist viel Zeit vergangen. Auch bundesrepublikanische Politiker hätten mehr als einmal die Möglichkeit gehabt, für Wiedergutmachung zu sorgen. Doch sie ließen alle Chancen verstreichen. Zu dem Unmut bei den Nachfahren der Opfer trug dabei vor allem die unnachgiebige Haltung der Bundesregierungen bei.

Als der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) 1995 Namibia besuchte, lehnte er ein Treffen mit Herero-Repräsentanten in Swakopmund und Windhoek ab. Drei Jahre später ließ sich Exbundespräsident Roman Herzog gerade einmal zu der Feststellung hinreißen, dass der Mord zehntausender Herero wohl „nicht in Ordnung“ gewesen sei. Und noch im April dieses Jahres weigerte sich Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU), das Thema bei einem Besuch Namibias prominent zu behandeln. Allein Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) hatte im August 2004 bei den Gedenkfeierlichkeiten zum 100. Jahrestag des Massenmordes an den Herero teilgenommen. Ihr Angebot, den Streit mit einer Erhöhung der Entwicklungshilfe aus Berlin beizulegen, wurde jedoch abgewiesen.

Die Rückweisung mag in der ethnischen Struktur des heutigen Staates Namibia begründet sein. Die SWAPO-Regierung wird von den Ovambos dominiert. Sie könnte die angebotene Finanzhilfe angelehnt haben, weil diese an Projekte gebunden gewesen wäre, die allein den Hereros zugute kommen. Das ist aber nur eine mögliche Erklärung. Denn alle Beteiligten in Namibia bestehen auf eine Anerkennung des – und das ist das Reizwort – Völkermordes.

Die Bundesregierungen haben den Nachkommen der Opfer diese Anerkennung des Unrechts stets verwehrt, weil damit nach geltendem Völkerrecht Ansprüche auf Wiedergutmachung geltend gemacht werden könnten. Aus eben diesem Grund wurde Ende Juni im Bundestag auch ein Antrag der Linksfraktion angelehnt, in der die Oppositionsgruppe für eine Wiedergutmachung der deutschen Kolonialverbrechen plädierte. Selbst die Grünen votierten gegen die Initiative im Plenum und im Auswärtigen Ausschuss. In ihrer Stellungnahme erklärten die Grünen, Deutschland sei sich seiner Verantwortung bei dem Völkermord an den Hereros bewusst. Der Bundestag und die namibische Nationalversammlung sollten deswegen in einen „offenen Dialog“ eintreten.

Rechtstreit statt Aufbereitung der Geschichte

Führende Politiker der Herero wollen sich mit dieser Position nicht zufriedengeben. Der Häuptling der heute rund 400.000 Herero, Kuaima Riruako, hat 2001 in Washington Klage gegen die Bundesregierung und die Deutsche Bank eingereicht. Die heutige Staatsführung in Berlin sei Rechtsnachfolgerin des Kaiserreiches, meint Riruako. Die Deutsche Bank sehen er und der mitklagende Oppositionspolitiker Mburumba Kerina in der Verantwortung, weil sie 1929 mit der Disconto-Gesellschaft fusionierte, einem der Hauptfinanziers der deutschen Kolonialprojekte in Afrika. In der Anklageschrift findet sich auch die Hamburger Reederei Deutsche-Afrika-Linien wieder. Eines ihrer Vorgängerunternehmen, die Woermann-Linie, habe Herero zu Zwangsarbeit verpflichtet.

Wie wenig fortgeschritten die Debatte in Deutschland ist, zeigt indes der Blick nach Berlin. Während sich Regierung und Parlament einer Auseinandersetzung verweigern, ist unweit des Flughafens Tempelhof ein Denkmal für die gefallenen deutschen Soldaten in den Überseegebieten zu finden. Der Afrikastein gedenkt mehrerer Militärs, die in Deutsch-Südwestafrika von 1904 bis 1907 „den Heldentod starben“. Aus Protest gegen dort stattfindende jährliche Treffen rechtsgerichteter Gruppen zum „Volkstrauertag“ am vorletzten Sonntag vor dem Ersten Advent hatte der Berliner Entwicklungspolitische Ratschlag 2004 in der Nähe eine Erinnerungstafel enthüllt, die den Opfern der „Helden“ gedachte. Die Plakette verschwand nach wenigen Wochen. Ungeachtet einer Entscheidung der Bezirksverordnetenversammlung, den Hinweis wieder aufzustellen, blieb er bis heute verschwunden. Ein solcher Umgang ist eine denkbar schlechte Voraussetzung für einen „offenen Dialog“.