Debatten: Wovon Whataboutism ablenkt
Seite 2: Völkerrechtswidriger Angriffskrieg
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Bundeskanzler Olaf Scholz bezeichnete den Ukraine-Krieg in seiner Zeitenwenden-Rede als "völkerrechtswidrig". Ohne jeden Zweifel handelt es sich bei der russischen Invasion um "einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg".
Es ist erfreulich, dass dieser Begriff fast zu einer stehenden Redewendung geworden ist, sobald man vom Krieg gegen die Ukraine spricht. Allerdings ist ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg keineswegs eine Erfindung Russlands und es wäre sehr begrüßenswert, wenn bei der Erwähnung jedes Krieges, der in die Kategorie eines völkerrechtswidrigen Angriffskriegs fällt, auch genau diese Bezeichnung gewählt wird.
Beim Irak-Krieg des Jahres 2003, wird nun von "US-Militäreinsätzen" gesprochen. In dem Zusammenhang ist auch bedenklich, dass die Bundesregierung sich standhaft weigert, eine völkerrechtliche Einschätzung des Irak-Krieges zu machen.
Auf eine Kleine Anfrage mehrerer Bundestagsabgeordneten der Fraktion Die Linke erwiderte die damalige Bundesregierung im Jahr 2010
Wie die Bundesregierung bereits mehrfach festgestellt hat (…) sind Fragen der Völkerrechtmäßigkeit des Irak-Konfliktes von Völkerrechtlern unterschiedlich beantwortet worden. Zu den entsprechenden Diskussionen in der Rechtswissenschaft nimmt die Bundesregierung nicht Stellung. Dies gilt auch weiterhin.
Antwort der Bundesregierung
Zur Erinnerung: Der Krieg der "Koalition der Willigen" gegen den Irak fand ohne ein Mandat des UN-Sicherheitsrats statt. Viele Experten sehen den Krieg als einen Bruch des Verbots eines Angriffskriegs in der UN-Charta und damit als völkerrechtswidrig (zum Beispiel hier). Diese Meinung teilte auch der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan.
Drohnen-Krieg
Ein weiterer Punkt: Den Drohnenkrieg, bei dem Menschen ohne Gerichtsbeschluss getötet werden und zahllose unschuldige Zivilisten ihr Leben verlieren, stufen die Grünen nun nicht mehr als völkerrechtswidrig ein und ändern damit ihre Position, die sie jahrelang selbst vertreten haben.
Nicht nur die Grünen geben sich in dieser Hinsicht flexibel. Selbiges lässt sich auch über die Medien sagen. Passend formulierte David Goeßmann auf Telepolis:
Sie erklären Russland unisono zum Paria der Weltgeschichte, während sie das globale Großverbrechen der USA zum 20. Jahrestag wegschwurbeln – wie auch viele andere Verbrechen, die bis heute andauern, siehe den Drohnenkrieg. Sie fordern ein Sondertribunal für die russischen Kriegsverbrechen. Und für die Kriegsverbrecher und Kriegsverbrecherinnen zu Hause heißt es: Schwamm drüber.
David Goeßmann
Auf der Suche nach Kriegen, die einen klaren Verstoß gegen das Völkerrecht darstellen und die, vorsichtig formuliert, keine nennenswerte Kritik der deutschen Regierung erfahren haben, kann man aber auch leicht weniger bekannte Beispiele anführen.
Die US-Invasion in Grenada, 1983. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen stimmte mit großer Mehrheit für eine Resolution, in der die US-Invasion als eine schwere Verletzung internationalen Rechts bezeichnet wurde. Die lapidare Reaktion des damaligen US-Präsidenten Ronald Reagans:
100 Nationen in der UNO haben uns in fast allen Fällen, in denen wir involviert waren, nicht zugestimmt, und es hat mein Frühstück in keiner Weise gestört.
Ronald Reagan
Gleiches gilt auch für die US-Invasion in Panama, Ende 1989. Die größte Luftlandeoperation seit dem Zweiten Weltkrieg. Auch hier war die Einschätzung der UNO eindeutig: "eine eklatante Verletzung des Völkerrechts."
Die deutsche Unschuld
Beim Kosovo-Krieg 1999, den die Nato ohne UN-Mandat führte und sich auf eine neue Doktrin der "humanitären Intervention" berief, sind sich die Experten uneins, ob hier das Völkerrecht gebrochen worden ist.
Hier einige Beispiele, die sie als illegal einstufen (hier, hier). Auch der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder sah diesen Krieg der Nato, bei dem auch Deutschland aktiv beteiligt war, vor einigen Jahren schon als einen Völkerrechtsbruch.
Markus C. Schulte von Drach stellte im März 2014 in der Süddeutschen Zeitung die ironische Frage: "Welches Völkerrecht darf's denn heute sein?"
Er gibt zu bedenken:
Im Kosovo war es aus Sicht des Westens gerechtfertigt, aus russischer Sicht nicht. Auf der Krim ist es aus westlicher Sicht illegitim, Putin aber behauptet, es sei angemessen und viele Russen glauben ihm das.
Ost und West nehmen also grundsätzlich für sich in Anspruch, jeweils über die Deutungshoheit darüber zu verfügen, wann es angemessen ist, das Völkerrecht zu brechen und wann nicht. Wie das Urteil in Bezug auf das eigene Verhalten und das von anderen jeweils ausfällt, kann sich jeder selbst ausmalen. Und dass die Verhältnisse meist nicht ganz so eindeutig sind, wie es dargestellt wird, zeigt das Beispiel des Kosovo.
Beide Seiten relativieren so die Vereinbarungen der UN-Charta und untergraben die immense Bedeutung dieses wichtigsten Dokumentes der Menschheitsgeschichte. Wer sich auf das Völkerrecht beruft, sollte dies auch im Geiste des Völkerrechts tun. Dessen Ziel ist das friedliche Zusammenleben der Völker und letztlich der Menschen.
Markus C. Schulte von Drach
Bombardierung ziviler Infrastruktur
Russland bombardiert in der Ukraine immer wieder zivile Infrastruktur und nimmt damit bewusst den Tod von Zivilisten billigend in Kauf. Dies stellt eindeutig einen Bruch der Genfer Konventionen dar und ist ohne jeden Zweifel und ohne jede Einschränkung zu verurteilen.
An dieser Stelle ist es aber auch Zeit für eine kleine Frage: Wann wurde zuletzt in Europa vorsätzlich zivile Infrastruktur bombardiert?
Es war 1999, als die Nato wiederholt Serbien während des Kosovo-Kriegs bombardierte. In der ersten Kriegsnacht griff die Nato mehrere serbische Chemiewerke an. Dabei traten große Mengen an giftigen und krebserregenden Stoffen aus, die Luft und Wasser verschmutzen.
Die Nato bombardierte auch Kraftwerke. Als Konsequenz versank Anfang Mai die ganze serbische Hauptstadt im Dunkeln und war die Wasserversorgung teilweise hochproblematisch. Auch der serbische Fernsehsender RTS wurde angegriffen.
Die Nato betonte immer wieder, nicht zivile Ziele anzugreifen, aber am Ende des Krieges waren auf serbischer Seite 500 tote Zivilisten zu betrauern. Nicht zuletzt auch durch den Einsatz von Streubomben.
"Kollateralschaden"
Das geflügelte Wort der Pressekonferenzenz des damaligen Nato-Sprechers Jamie Shea "Kollateralschaden" wurde nicht zufällig zum Unwort des Jahres gewählt. Ein "Kollateralschaden" war beispielsweise der versehentliche Angriff auf albanische Flüchtlinge, der 75 Menschenleben forderte.
Soll das Gesagte die Angriffe auf zivile Ziele durch die Nato in Serbien und durch Russland in der Ukraine gleichsetzen?
Definitiv nicht. Denn offenbar zielt Russland nicht nur auf Infrastruktur, sondern auch auf zahllose Wohnhäuser und nimmt damit bewusst den Tod zahlloser Zivilisten in Kauf.
Dennoch ist die Erinnerung an die eigenen Taten notwendig, um weniger anfällig für Schwarz-Weiß-Denken zu sein.