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Demokratie kann man nicht herbeibomben

Bild Juan Guaidó: US Federal Government. Bild Nicolás Maduro: Wilsom Dias/Agência Brasil / CC-BY-3.0-BR

Wer für Demokratie, Menschenrechte und eine Verbesserung der Lebensumstände in Venezuela sein will, kann sich nur für einen friedlichen Kompromiss und gegen militärische Mittel aussprechen. Die Geschichte zeigt, dass alles andere unglaubwürdig ist

Worum es im Konflikt in Venezuela geht

Die Konfliktparteien, die sich gegenüberstehen, sind einerseits der bei den letzten Präsidentschaftswahlen unter fragwürdigen Umständen wiedergewählte Nicolás Maduro, der als Nachfolger des Sozialisten Hugo Chavez für eine linksgerichtete Politik der Verteilung steht, und andererseits sein Herausforderer Juan Guaidó, vom Parlament ernannter Interimspräsident. Zugleich steht Maduro für die Regierung, der vorgeworfen wird, zunehmend diktatorisch zu herrschen, und Guaidó für die parlamentarische Opposition.

Es ist also auch ein typischer Kampf Regierung gegen Opposition. Er äußert sich auch im inner-venezolanischen Kampf um die Berichterstattung zwischen staatlichen und oppositionellen privaten Medien. Der dahinterstehende Kampf zwischen Arbeiterschaft und Gewerkschaft auf der einen und Besitzbürgertum auf der anderen wird noch vom Stadt-Land-Gegensatz verschärft, wobei hinter dem Verteilungsproblem nicht selten postkoloniale Besitzstrukturen hervortreten.

Hinzu kommt noch die außenpolitische Komponente, wenn die USA und manche EU-Staaten Guaidó unterstützen, während Russland, China oder die Türkei, aber auch viele andere Länder wie Nicaragua oder Südafrika, Maduro weiterhin als Präsidenten sehen.

Der venezolanische Soziologe Tulio Hernández hat den Machtkampf im österreichischen Standard am 26. Januar 2019 mit einem Schachspiel verglichen, das auf mehreren Brettern gleichzeitig gespielt wird. Er hat dabei den nationalen Konflikt, die regionalpolitischen Auswirkungen, die Rolle der venezolanischen Militärs und die geopolitische Dimension mit den USA, der EU, China und Russland genannt. Das eine spielt in das andere hinein, es lässt sich nicht voneinander trennen.

Warum sich ein länger anhaltender Machtkampf zugespitzt hat

Der Konflikt zwischen linker Regierung und rechter Opposition existierte schon unter Maduros Vorgänger Hugo Chavez. Damals funktionierte die auf dem Verkauf von Erdöl basierende Sozialpolitik noch, weshalb Chavez auch eine breitere Zustimmung in der Bevölkerung fand als Nicolás Maduro. Dass der Machtkampf 2018/19 eskaliert, hängt damit zusammen, dass die wirtschaftlichen Probleme über die Jahre größer geworden sind, die Auslandsschulden Venezuelas stiegen und die noch unter Chavez funktionierenden Sozialleistungen und Unterstützungen für Ärmere weniger wurden.

Versorgungsengpässe und Inflation gefährden die Grundversorgung. Das hat einerseits das Frustrationspotential in der Bevölkerung erhöht, andererseits gab es den Gegnern des sozialistischen Regimes scheinbar recht in ihrer Behauptung, die linke Politik sei gescheitert und müsse dringend durch eine rechte, marktliberale, korrigiert werden. Die Situation eskalierte im zweiten Halbjahr 2018 immer mehr, die Opposition sah sich ihrem Ziel der Machtübernahme näher und verschärfte daher auch die Mittel in diesen Kampf. Selbiges trifft auf Juan Guaidós Hauptunterstützer, die USA, zu, die sich zwischenzeitlich fast am Ziel wähnten.

Warum nicht die Regierung allein für die prekäre sozioökonomische Situation verantwortlich ist

Dass die Opposition die Regierung für die dramatische Situation im Land verantwortlich macht, liegt in ihrer politischen Natur. Denn so, wie es die Aufgabe einer Regierung ist, Ressourcen zu verwalten und Entwicklung zu ermöglichen, ist es gleichzeitig die Aufgabe der Opposition, diese Regierungsarbeit kritisch zu begleiten. Tatsächlich weisen die Gegner Maduros zu Recht auf einige verfehlte wirtschaftspolitische Maßnahmen hin. So gelang es beispielsweise nicht, die galoppierende Inflation einzudämmen. Und auch Versorgungsengpässe konnten nicht behoben werden.

Zugleich muss man aber auch auf die Möglichkeiten schauen, die Chavez und Maduro zur Verfügung standen. Nur weil die Opposition berechtigte Kritik äußert, bedeutet dies ja nicht, dass sie es an der Stelle des Präsidenten besser gemacht hätte. Auch die Regierung hat eine teilweise Politik der Marktöffnung umgesetzt und ausländische Investoren an den Staatsunternehmen beteiligt, so z. B. den russischen Ölkonzern Rosneft, der 40 Prozent an den fünf größten Förderprojekten des Landes hält und zudem der staatlichen venezolanischen Ölgesellschaft eine Milliarde Dollar geliehen hat.

China ist der größte öffentliche Gläubiger des Landes und lässt sich schon länger in Öl bezahlen, und die Staatsanleihen sind hauptsächlich in Besitz US-amerikanischer Investoren (Privatanleger, Banken, Pensionsfonds). So hat Venezuela bis 2018 rund 150 Mrd. Dollar an Auslandsschulden angehäuft, und die Gläubiger wollen nun ihr Geld bzw., wie im Fall China, direkt das Öl.

Nachdem die linke venezolanische Regierung aber Staaten wie Russland und China den USA teilweise als Wirtschaftspartner vorgezogen hat - Russland liefert z. B. rund drei Viertel aller Rüstungsgüter -, haben die größten westlichen Wirtschaftsmächte darauf mit Sanktionen reagiert.

Wenn ein Land aber mit wirtschaftlichen Sanktionen belegt wird, könnte es auch eine wirtschaftsliberale Opposition nicht wirklich besser machen. Wirtschaftssanktionen sind Mittel eines Krieges. Sie schränken die Spielräume ein, so dass keine Art der Regierung mehr über ausreichend Möglichkeiten verfügt. Das ist aber auch das Ziel von Wirtschaftssanktionen, nämlich ein Land dermaßen in eine Ecke zu drängen, dass es nur noch unter gewaltigen Konzessionen wieder hervorkommen, also auf eigenen Beinen stehen kann.

Doch nicht nur westliche Sanktionen, auch chinesischer Druck macht der venezolanischen Wirtschaft zu schaffen. Und spätestens angesichts dieser äußeren und nur schwer veränderbaren Faktoren ist naheliegend, dass selbst bei einer friedlichen Machtübernahme der Opposition (von einem durch US-amerikanische Unterstützung erreichten Regime-Change oder einem Bürgerkrieg gar nicht zu reden) von einer zukünftigen rechts-konservativen und/oder wirtschaftsliberalen Regierung ebenfalls keine Wunder zu erwarten sind.

Warum eine diplomatische Anerkennung eines "Interimspräsidenten" problematisch ist

Im Völkerrecht gilt, dass immer ein Höchstmaß an Legitimität gewährleistet sein muss, egal, unter welchen Umständen. Das bedeutet, dass man einen wenig legitimierten Herrscher einem weniger legitimierten vorziehen muss. Das ist keine Frage von Sympathie, sondern von Recht. Nun ist die völkerrechtliche Theorie das eine, die politische Praxis das andere. Das heißt, ein politischer Vertreter eines Landes muss auch über die konkrete Macht im Land verfügen, sonst führt die Anerkennung nicht zum erhofften Ziel.

Denn die Folgen sind weitreichend - der anerkannte Präsident muss die Einhaltung von Verträgen garantieren können, auf die eine wirtschaftliche Kooperation angewiesen ist. Hier wird mitunter der Praxis politischer Macht der Vorrang vor der völkerrechtlichen Theorie gegeben, was einerseits nachvollziehbar ist, andererseits aber großen Schaden anrichtet, weil dadurch eine im schlimmsten Fall globale Rechtsunsicherheit entsteht.

Wohin dies führt, hat man am Beispiel Syrien gesehen: Dort galt der Rücktritt Baschar al-Assads für die NATO-Staaten lange Zeit als Conditio sine qua non für Verhandlungen. Diese Forderung erwies sich jedoch als überzogen. Assad hat, unterstützt durch Russland, die konkrete Macht nie in einem Ausmaß eingebüßt, dass eine Opposition als Ansprechpartner mehr Garantien zur Umsetzung von Ausgehandeltem hätte geben können.

Also hat der Westen seine Politik stillschweigend korrigiert. Niemand stellt derzeit Assad mehr in Frage. Und das hat nichts damit zu tun, wie man die Politik Assads beurteilen muss - sie ist durchaus kritisch zu sehen. Aber das spielt keine Rolle mehr, da er de facto einfach die größte Macht auf sich vereint. Alles, was man erreicht hat, ist Bürgerkrieg mit ausländischer Einmischung, also einen Stellvertreterkrieg. Dies ist auch für Venezuela das Worst-Case-Szenario.

Warum die Situation in Venezuela keine Frage von für oder wider Maduro ist

Die weit verbreitete These, wer gegen den "Reformer" Juan Guaidó ist, sei automatisch für den "Diktator" Nicolás Maduro, greift zu kurz, weil sie den Machtkampf aus seinem Kontext löst. Maduro ist in der Nachfolge von Hugo Chavez 2013 zum Präsidenten gewählt worden, als Usurpator müsste eher Juan Guaidó bezeichnet werden. Aber auch das wäre nur eine vereinfachte Darstellung. Es geht in Venezuela nämlich auch um einen politischen Richtungskampf zwischen links und rechts, zwischen staatlichem Interventionismus und neoliberaler Privatisierung, und nicht zuletzt um den geopolitischen Kampf der Großmächte um Bündnispartner, Finanzpolitik und Erdöl. Dass es Maduro auch um seinen Machterhalt geht, steht außer Zweifel. Den Konflikt darauf zu reduzieren, ginge jedoch an der Realität vorbei.

Im Raum steht gewissermaßen eine neokoloniale oder neoimperiale Agenda, eine Art Great Game 2.0, und in diesem "Spiel" stilisieren die Westmächte Juan Guaidó zum demokratischen Hoffnungsträger und Nicolás Maduro zum Diktator, ebenso wie Russland, China, Kuba, Nicaragua und andere Maduro propagandistisch zum demokratischen Präsidenten erheben und Guaidó zum Usurpator erklären. Jede Seite - innenpolitisch wie außenpolitisch - folgt hier ihrer propagandistischen Logik und stilisiert sich bzw. den eigenen Kandidaten zum Guten und den Gegner zum Bösewicht.

Die These, wer gegen Juan Guaidó ist, der sei für Nicolás Maduro, greift aber auch noch aus einem anderen Grund zu kurz. Damit wird suggeriert, Guaidós Kritiker favorisierten einen sozialistischen Autokraten und nähmen wirtschaftliches und soziales Elend von Millionen von Venezolanerinnen und Venezolanern in Kauf, nur, um ihre eigene Weltanschauung rechtzufertigen. Es ist die alte dichotomische Zuschreibung vom Entweder-Oder, das beliebte Spiel der Propaganda in Schwarz-Weiß.

Die Friedensforschung zeigt aber, dass es in jedem Konflikt immer auch Alternativen gibt, dass mindestens noch ein dritter Weg existiert, ein tertium datur. Im konkreten Fall bedeutet dies einen Kompromiss zwischen Regierung und Opposition, aber auch zwischen den Großmächten, so dass die Eskalation beendet werden kann und Venezuela mit ausländischer Hilfe Schritte aus der Wirtschaftskrise findet. Caracas braucht diplomatische Unterstützung, keine militärische Intervention, und es braucht einen friedlichen Kompromiss und kein "Maduro oder Guaidó".

Wie der Kampf zwischen Regierung und Opposition eskalierte

2013 wurde Nicolás Maduro zum Präsidenten gewählt, 2015 gewann dann die Opposition die Parlamentswahlen und erzielte eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Diese ging aber durch die Aufhebung der Wahl von vier Abgeordneten (drei davon Oppositionelle) durch den Obersten Gerichtshof wieder verloren. Das Parlament nahm dann den Machtkampf gegen Maduro trotzdem auf und erklärte ihn am 9. Januar 2017 unter Bezugnahme auf die Verfassung für abgesetzt. Begründet wurde dies damit, dass er sein Amt nicht ausführe. Am 29. März hob der nicht unparteiische Oberste Gerichtshof die Immunität aller Parlamentarier auf, machte dies drei Tage später unter internationalem Druck aber wieder rückgängig.

Im Mai 2017 wurde dann von der Regierung eine Verfassungsgebende Versammlung einberufen, allerdings ohne vorheriges landesweites Referendum, was verfassungswidrig war. Bei den Wahlen zu dieser Versammlung Ende Juli gingen dann zwei Drittel an Gemeindevertreter, unabhängig von der Größe. Dadurch erhielten ländliche, chavistisch geprägte Gebiete überproportionalen Einfluss. Die Opposition sprach von Wahlbetrug.

Fakt ist, dass das ordentliche Parlament durch die neue Versammlung zwar nicht aufgelöst, aber doch seiner wesentlichen Kompetenzen beraubt worden war. 2018 fanden dann die letzten, willkürlich vorgezogenen Präsidentschaftswahlen statt, bei denen Maduro - wenig überraschend - als Sieger hervorging. Die größte Oppositionspartei boykottierte die Wahlen, so dass die ebenfalls stattgefundenen Wahlmanipulationen nicht einmal unbedingt entscheidend waren. Die Opposition begründete ihre Nicht-Beteiligung mit der fehlenden Legitimation der Verfassungsgebenden Versammlung, welche die Wahlen vorbereitet hatte. Das ist formal zutreffend, gleichzeitig erwies sich der Boykott - insbesondere im Ausland - als taktisch kluger Schachzug.

Geht man davon aus, dass die letzte Wahl eine Folge der nicht verfassungskonform einberufenen Verfassungsgebenden Versammlung ist, so ist Maduros Legitimation wacklig. Gleichzeitig kann aber Juan Guaidó ebensowenig eine ausreichende Legitimation für sich geltend machen, weil die Begründung, den Präsidenten wegen Amtsuntätigkeit zu ersetzen, schwierig zu beweisen ist.

Theoretisch ist die Herrschaftsrechtfertigung von Nicolás Maduro hier, so fragwürdig ihre Aufrechterhaltung erscheint, demokratisch immer noch besser abgesichert als jene von Guadió, auch wenn Maduro inzwischen viel von seinem einstigen Rückhalt in der Bevölkerung eingebüßt hat. Praktisch ist hier ein Machtkampf zu beobachten, bei dem beide Seiten mit schmutzigen Tricks arbeiten und die Wahrheit für sich beanspruchen.

Warum das Militär entscheidender ist als eine demokratische Legitimation

Das Militär spielt eine entscheidende Rolle, weil es die Macht de facto besitzt. Es entscheidet darüber, wer von den beiden Kontrahenten das Rennen macht, indem es entweder weiterhin Maduro stützt oder sich auf Guaidós Seite stellt. Problematisch ist, dass es in Venezuela nicht nur eine sehr hohe Anzahl an Generälen gibt, sondern dass diese mit ihrer jeweiligen Truppe meist auch ein bestimmtes Geschäft kontrollieren, z. B. Drogen, Schmuggel oder Gold.

Bewaffnete Guerillagruppen wie die marxistische kolumbianische ELN (Ejército de Liberación Nacional, dt. Nationale Befreiungsarmee), konservativ-reaktionäre Milizen aus dem kolumbianischen Bürgerkrieg, lokale Mafiagruppen, sie alle mischen in diesem Umfeld mit. Das macht die Situation so explosiv. Entscheidend für die politische Situation in Venezuela wird sein, dass die Armee geschlossen bleibt und entweder Maduro oder Guaidó stützt. Eine Aufspaltung würde unweigerlich zum Bürgerkrieg führen, ähnlich wie eine ausländische Militärintervention.

Welche Parallelen zur Zeitgeschichte Venezuela aufweist

Drei Beispiele, zu denen es sowohl Parallelen als auch Unterschiede gibt, drängen sich auf. Das erste Beispiel ist die Ukraine, der Euro-Maidan. Auch da war ein Machtkampf zwischen der russlandfreundlichen Regierung um Präsident Wiktor Janukowitsch und dem NATO-freundlichen Flügel im Parlament eskaliert. Der von den USA favorisierte Oppositionsführer im Parlament, Arsenij Jazenjuk, gewann letzten Endes den Machtkampf dank ausländischer Unterstützung, worauf Präsident Janukowitsch nach Russland floh und Jazenjuk am 27. Februar 2014 vom Parlament zum Ministerpräsidenten der Übergangsregierung ernannt wurde.

Fünf Jahre später sind die Antworten auf die Frage, was die westliche Unterstützung einer Seite im ukrainischen Machtkampf dem Land beschert hat, unerfreulich: Die wirtschaftlichen Probleme sind weiterhin ungelöst, und die NATO-Unterstützung der ukrainischen Regierung, fortgeführt unter dem Milliardär und neuen Präsidenten Pedro Poroschenko, hat die russische Besetzung der Krim und die Unterstützung der ostukrainischen Paramilitärs durch Moskau provoziert.

Die Entwicklung in der Ukraine hat gezeigt, dass sich eine schlechte Situation durch einseitige Unterstützung in einem Machtkampf zum Bürgerkrieg ausweiten und sich dadurch noch weiter verschlechtern kann, anstatt sich zu bessern. Seit dem Euro-Maidan ist die Ukraine kein wohlhabenderes, sondern ein ärmeres Land, darüber hinaus durch Krieg gespalten. Die Global Player USA und Russland haben ihren Zwist ein weiteres Mal auf dem Rücken eines Drittlandes ausgetragen.

Das zweite Beispiel ist, berücksichtigt man vor allem die Aspekte Öl und Militärintervention, der zweite Irak-Krieg von 2003. Auch dort wurde ein Krieg um Ressourcen und Geopolitik von der Interventionsmacht USA als "Kampf gegen einen Diktator" und "für Demokratie" geführt. Anders als bei Maduro versuchten die USA bei Hussein, ihm Massenvernichtungswaffen anzudichten, und führten den Angriffskrieg unbeschadet der fehlenden Legitimation.

Als Saddam Hussein gestürzt war, drängte der IS in das entstandene Machtvakuum, das Land stürzte in einen Bürgerkrieg und zerfiel - wohlgemerkt alles Szenarien, die in den politikwissenschaftlichen Publikationen in den USA seit Ende der 1990er Jahre diskutiert worden waren.

"Divide et impera" ist aber nicht nur ein Konzept, das im Irak angewendet wurde, sondern auch in Libyen 2011, wo Frankreich, Großbritannien und die USA die bewaffnete Opposition gegen Muammar al-Gaddafi militärisch unterstützten und ihr so zum Sieg verhalfen. Auch dort gibt es Ähnlichkeiten zu Venezuela heute - das Öl, der autoritäre sozialistische Führungsstil, aber auch die Gefahr, dass Venezuela ähnlich wie Libyen bei einer ausländischen Militärintervention ebenfalls in Herrschaftsgebiete lokaler Warlords zerfallen könnte.

Wie Deeskalation gelingen und ein Krieg abgewendet werden kann

Durch den im Januar 2019 vollends eskalierten Machtkampf drohen Venezuela eine Militärintervention der USA und ein möglicher Bürgerkrieg. Dennoch ist Deeskalation immer möglich. Sie gelingt dann, wenn sich alle Beteiligten der dramatischen Lage besinnen, in die sie geraten sind, und wenn sie erkennen, was sie alles zu verlieren haben.

Das betrifft zuallererst die Venezolanerinnen und Venezolaner selbst, deren sozioökonomisch missliche Lage durch einen Bürgerkrieg mit ausländischer Einmischung noch potenziert würde. Aber auch die potentiellen Interventionsstaaten der NATO, allen voran die USA, haben viel zu verlieren, denn Krieg ist für einen Staat, für seine Bevölkerung, für die Steuerzahler, finanziell immer ein Verlustgeschäft - es profitieren ja nur wenige.

Krieg ist eine Politik der Umverteilung von vielen zu wenigen. Und um es mit einem historischen Vergleich zu sagen, droht den USA in Venezuela aufgrund der militärisch hochexplosiven Lage ein zweites Vietnam. Darüber hinaus würde eine westlich geführte Militärintervention das Völkerrecht weiter beschädigen und den Konflikt zwischen den USA einerseits und China sowie Russland andererseits noch weiter anheizen. Aber auch die EU stünde vor einer Zerreißprobe, da dort durchaus nicht alle Staaten bereit sind, ihre Interessen jenen der NATO-Führungsmacht USA unterzuordnen.

Es gibt gute Gründe, der Politik Maduros kritisch gegenüberzustehen, aber ihn mittels Regime-Change aus dem Amt zu putschen, birgt die große Gefahr, dass Venezuela ähnlich wie Libyen oder der Irak zum "failed state" wird. Wer behauptet, für Demokratie, Menschenrechte und eine Verbesserung der Lebensumstände der Menschen in Venezuela einzutreten, kann sich nur für einen friedlichen, durch Diplomatie erreichten Kompromiss mittels Machtteilung und ganz eindeutig gegen militärische Mittel aussprechen. Alles andere ist, das zeigt die Geschichte, hochgradig unglaubwürdig.

Kurt Gritsch ist Historiker und Konfliktforscher.


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