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Der Fall Peggy

Ein verschwundenes neunjähriges Mädchen, drei Spuren und ein Geständnis unter höchst zweifelhaften Umständen. Gespräch mit Christoph Lemmer über einen Justizskandal

Auch eine vermeintliche neue Spur brachte nichts Neues [1]. Die Ermittlungen im Fall des verschwundenen Mädchens Peggy [2] standen von Anfang an unter keinem guten Stern: Es gab Fahndungspannen, widersprüchliche oder falsch aufgenommene Zeugenaussagen und keine handfesten Ergebnisse, bis schließlich die Politik [3] sich der Sache annahm und eine neue Kommission eingesetzt wurde. Dann war nach relativ kurzer Zeit ein Hauptverdächtiger gefunden. Der geistig Behinderte Ulvi Kulac [4].

Aus diesem wurde dann unter höchst zweifelhaften Umständen ein Geständnis gepresst. Auf einer nicht minder dubiosen Grundlage wurde Ulvi Kulac dann des Mordes für schuldig befunden. Und er ist als Opfer einer Rechtssprechung, die man ansonsten eher aus Richard Gere-Filmen kennt, die in China spielen, in Bayern kein Einzelfall. Telepolis hat hierzu Christoph Lemmer [5] befragt, der mit Ina Jung Autor des hervorragend recherchierten Buches Der Fall Peggy [6] ist. Ein Gespräch mit dem Journalisten.

Herr Lemmer, wie ist die Polizei überhaupt auf Herrn Kulac gekommen?
Christoph Lemmer: Nachdem die Politik sich eingemischt hatte und eine zweite Sonderkommission gegründet wurde, hat sie sich die Spuren der ersten Kommission angesehen und drei besonders viel versprechende herausgepickt. Spur Nummer Eins führte auf den türkischen Stiefvater von Peggy. Hier hat die Polizei mit einem irrsinnigen Aufwand bis in die Türkei hinein versucht herauszufinden, ob er das Mädchen entführt haben könnte. Diese Spur ist eindeutig widerlegt worden. Spur Nummer 2 war die auf den geistig minderbemittelten Ulvi Kulac. Und Spur Nummer Drei war die auf einen engen Freund der Nachbarsfamilie aus Sachsen-Anhalt.
Spur Nummer 2 war dann die, mit der die Ermittlungen endeten. Wie kam die Polizei auf Ulvi Kulac?
Christoph Lemmer: Weil er sich als Exhibitionist immer wieder vor Kindern die Hosen herunterließ. Das ließ ihn verdächtig erscheinen. Außerdem hat Ulvi Kulac Äußerungen gemacht, bei denen gedacht wurde, dass sie etwas mit dem Fall Peggy zu tun haben könnten. Diese Spur hat sich dann die zweite Sonderkommission noch einmal vorgenommen und es geschafft, ihn zu einem Geständnis zu bringen. Damit hatten sie ihren Täter und haben die dritte Spur auf einen Mann in Sachsen-Anhalt fallen lassen.

"V-Mann hat der Polizei angeboten, Kulac ein Geständnis zu entlocken"

Durch welche Aussagen wurden dieser Verdacht erhärtet?
Christoph Lemmer: Erst einmal nur durch eine einzige, und zwar von einer Frau die behauptet hat, sie habe Ulvi Kulac am Ausgangspunkt des angenommenen Tatgeschehens gesehen. Zufällig passte auch der Zeitpunkt, zu dem die Frau ihn gesehen haben will. Es gab aber sonst niemanden, der ihre Beobachtung bestätigte. Im Gegenteil: Viele Zeugen sagten, sie hätten Ulvi Kulac dort nicht sitzen sehen.
Außerdem könnte es sein, dass diese Frau mit Ulvi Kulac noch eine Rechnung offen hatte. Er hatte nämlich damals ihren eigenen Sohn verdächtigt, mit Peggys Verschwinden zu tun zu haben - allerdings nicht ganz ernst gemeint, wie sich später herausstellte. Diese Frau hat sich mit ihrer Aussage erst ein Jahr nach der Tat bei den Behörden gemeldet und zwar unmittelbar nachdem das Ermittlungsverfahren gegen ihren Sohn beendet war.
Dann gab es die Aussagen eines V-Mannes, der mit den Beamten der Sonderkommission 1 bereits früher zusammengearbeitet hatte. Zufällig saßen Ulvi Kulac und er in der selben geschlossenen Abteilung der Psychiatrie in Bayreuth ein. Dieser V-Mann hat der Polizei angeboten, sich mit Kulac zu beschäftigen und ihm ein Geständnis zu entlocken. Das ist ihm zumindest nach Aktenlage auch gelungen.
Daraufhin hat die zweite Sonderkommission Ulvi Kulac in das betreffende Polizeirevier gebracht und ihn zu einem Geständnis bewegt. Bei diesem Geständnis von Herrn Kulac sind verschiedene Unregelmäßigkeiten aufgetreten. Wie konnte Herr Kulac zu einem Geständnis motiviert werden?
Die Polizei hat massiven Druck auf ihn ausgeübt. Sie hat ihn mit falschen Beweisen konfrontiert. Die Vernehmer wurden laut, haben ihn offensichtlich auch körperlich angegangen und eine ausgetüftelte Verhörtechnik angewandt. Dem war Herr Kulac wohl nicht gewachsen.

"Interessanterweise existiert vom Geständnis kein Tonbandmitschnitt"

Was hat sich bei diesem Verhör ereignet?
Christoph Lemmer: Das entscheidende Verhör ging damit los, dass die Polizei Ulvi Kulac erzählt hat, dass auf seinem Overall Blutspuren gefunden wurden. Die sollten von Peggy stammen. Das war aber frei erfunden. Gleichwohl hat Ulvi Kulac nicht sofort gestanden, sondern wie bei allen vorherigen Vernehmungen jede Schuld bestritten. Nach dem Ende des Verhörs, sollte er in die Psychiatrie zurück gebracht werden, weswegen sich sein Anwalt verabschiedete.
Nachdem allerdings der Anwalt gegangen war, soll es bei Ulvi Kulac zu einem Gesinnungswechsel gekommen sein und die Beamten brachten ihn wieder in die Verhörzelle. Bei dem dann folgenden Verhör hat er ein Geständnis abgelegt. Interessanterweise existiert davon aber kein Tonbandmitschnitt, sondern nur ein Gedächtnisprotokoll. Das Mikrofon ging kaputt, so jedenfalls die offizielle Erklärung.
Ulvi Kulac hat laut Gedächtnisprotokoll viele Details genannt, etwa den kompletten Tatverlauf und wo die Leiche versteckt sei. Das hat die Polizei noch am selben Tag mit ihm vor Ort überprüft. Es stellte sich aber heraus, dass die Details nicht stimmten, jedenfalls, soweit sie nachprüfbar waren.
Haben Sie den Eindruck, dass der geistig behinderte Tatverdächtige beim Verhör adäquat behandelt wurde?
Christoph Lemmer: Er wurde nicht adäquat behandelt: Anschreien, mit Aktenordnern auf den Tisch knallen und ähnliches mehr ist in unserer Rechtsordnung nicht vorgesehen. Das Vorgehen der Polizei bei den Verhören ist zum Teil so arg gewesen, dass die Pfleger in der geschlossenen Psychiatrie in Bayreuth es trotz geschlossener Türen mitbekommen haben.
Das hat die Pfleger dazu bewogen, bei jedem Verhör einen Kollegen zum Aufpassen vor der Tür zu postieren. Daraufhin sind die entscheidenden Verhöre nicht mehr in der Anstalt, sondern auf dem Polizeirevier geführt worden, wo es dann keinen Pfleger gab, der den Beschuldigten vor Polizisten schützen konnte.
Es gibt Hinweise darauf, dass beim Geständnis von Herrn Kulac eine verhörtechnische Methode aus den USA angewandt wurde, die in Deutschland nicht nur höchst umstritten, sondern auch verboten ist. Können Sie uns mehr darüber erzählen?
Christoph Lemmer: Das ist die sogenannte Reid-Methode, die von einem Polizisten im Chicago der 40er Jahre erfunden wurde. Der gründete daraufhin eine Firma, die bis zum heutigen Tag diese Verhörmethode an Privatermittler und Polizeibehörden weltweit verkauft. Einer der Kunden war das Innenministerium von Bayern, das 1999 diese Methode getestet und daraufhin mit der Firma einen Vertrag geschlossen hat. Der sah vor, dass eine deutschsprachige Referentin Kurse für ausgewählte Kriminalbeamte abhält und sie in dieser Methode schult.
Das wurde dann von 2001 bis 2003 auch so gemacht, also ausgerechnet in der Zeit als Ulvi Kulac von der bayerischen Polizei verhört wurde. Der Vertrag mit der Firma Reid ist dann ausgelaufen, aber die Methode wird aber unter einer anderen Bezeichnung bis zum heutigen Tag bei der bayerischen Polizei angewendet. Dabei verstößt sie nach Ansicht von Kriminalisten und Juristen gegen deutsches Strafprozessrecht.

Ein Glaubwürdigkeitsgutachten

Herr Kulac hat später sein Geständnis widerrufen. Unter welchen Umständen hat es die Staatsanwaltschaft geschafft, dass das Geständnis vor Gericht trotzdem verwertet wurde?
Christoph Lemmer: Das Gericht hat zwei Dinge unternommen: Zum einen hat es die verhörenden Polizeibeamten als Zeugen benannt. Das ist prozessual zwar möglich, aber es unterläuft die Vorschrift, dass ein gültiges Geständnis immer vor einem Richter abgelegt werden muss. Zum anderen hat es ein Glaubwürdigkeitsgutachten erstellen lassen, das zum Ergebnis gelangte, dass das, was Ulvi Kulac im widerrufenen Verhör zugegeben hatte, der Realität entspricht.
Wer war denn der Gutachter [7] und unter welchen Umständen hat er das Gutachten verfasst?
Christoph Lemmer: Das war Professor Hans-Ludwig Kröber, der Leiter des Instituts für forensische Psychiatrie in Berlin und eigentlich eine international anerkannte Koryphäe. Er war auch einer der Gutachter im Kachelmann-Prozess oder hat für den Vatikan untersucht, ob es einen Zusammenhang zwischen Zölibat und Pädophilie gibt. Im Fall Peggy ist er zunächst von der Polizei mit Informationen versorgt worden, auf deren Basis er sein Gutachten vorbereitete. Außerdem hat er mit Ulvi Kulac gesprochen. Was uns allerdings aufgefallen ist: Die Polizei hat Herrn Kröber erstens nicht alle Informationen zukommen lassen und zweitens entsprach nicht alles davon der Wahrheit.
Inwiefern?
Christoph Lemmer: Die Polizei hat ihm Vermutungen als Tatsachen dargestellt und damit das Ergebnis seines Gutachtens vorweggenommen. Wir sind an das Schreiben herangekommen, das der Ermittlungschef der Polizei für Gutachter Kröber verfasst hat. Darin behauptet er, es sei als sicher anzunehmen, dass Peggy am Mittag auf Ulvi Kulac traf und danach nicht mehr lebend gesehen wurde. Das war aber falsch.
Peggy wurde von zahlreichen Zeugen noch lange danach lebendig gesehen, und es ist völlig offen, ob sie ihn am Mittag nach der Schule wirklich traf. Vorsichtshalber hat der Ermittler extra vermerkt, dass dieses Schreiben nur für Kröber bestimmt war und auf keinen Fall zu den Gerichtsakten gegeben werden sollte. Mit anderen Worten: Die Verteidigung sollte es nicht in den Akten finden und damit erfahren, dass der Gutachter mit Falschinformationen gefüttert wurde.
Welche Aussagen des Gutachters halten Sie für eher kurios?
Christoph Lemmer: Für äußerst kurios halte ich die Aussage von Herrn Kröber, dass es keine Tathergangshypothese gegeben hätte, auf deren Basis sich jemand eine falsche Version des Mordes hätte ausdenken können. Dabei steht die Tathergangshypothese in dem erwähnten Schreiben drin.

"Warum hätte er eine Tat durch einen Mord verdecken sollen, für die er gar keine Schuld empfinden konnte?"

Wie und mit welcher Begründung wurde Herr Kulac für schuldig erklärt?
Christoph Lemmer: Herr Kulac war in dem selben Prozess auch wegen mehrerer sexueller Missbrauchsdelikte an Kindern angeklagt. Von denen ist er freigesprochen worden, weil das Gericht meinte, er wäre nicht schuldfähig. Die Gutachter haben Ulvi bescheinigt, dass sein geistiger Zustand der eines Kindes war, sein Körper und seine Sexualität die eines Erwachsenen. Viele Leute in Lichtenberg wussten zwar, dass er sich ab und zu vor anderen Kindern entblößte, aber das nahm kaum jemand ernst. Darum habe er da kein Schuldbewusstsein entwickeln können, meinten die Gutachter. Im Fall des Mordvorwurfs wurde er als schuldfähig angesehen, weil er laut Gutachtern und Gericht wusste, dass man einen anderen Menschen nicht töten darf.
Schwer zu verdauen ist allerdings das Motiv, das das Gericht ihm für den Mord unterstellte - nämlich den sexuellen Missbrauch von Peggy. Den habe er verdecken wollen. Nur: Warum hätte er eine Tat durch einen Mord verdecken sollen, für die er gar keine Schuld empfinden konnte? Das ist nicht logisch.

"Die Jungen haben es mit der Angst zu tun bekommen"

Wie wurden die Zeugenaussagen behandelt, die der offiziellen Version des Tathergangs widersprachen?
Christoph Lemmer: Entweder man hat ihnen nicht geglaubt, sie ignoriert und auch beim Prozess nicht angehört oder man hat ihre Aussagen verdreht und manipuliert. Zeugen haben uns sehr glaubwürdig geschildert, dass dies unter erheblichem Druck und mit Vorsatz geschehen ist. Besonders eindrücklich haben uns das zwei Schulkameraden von Peggy erzählt: Sie hatten bei den ersten Verhören detailliert ausgesagt, dass sie Peggy noch am Nachmittag, also nach dem von der Polizei angenommenen Zeitpunkt des Mordes, gesehen haben.
Einige Wochen später haben dann beide diese Aussagen wortkarg zurück gezogen. Als wir für das Buch recherchierten, haben wir uns gefragt wie diese Widerrufe zustande gekommen sind und sind deswegen mit den beiden in Kontakt getreten. Sie haben uns dann erzählt, die Polizei habe sie jeweils einzeln vernommen und behauptet, der andere hätte die Beobachtung widerrufen.
Daraufhin haben es die Jungen mit der Angst bekommen und angegeben, dass ihre Aussagen frei erfunden gewesen wären. Beide sagen heute klipp und klar, dass sie Peggy sehr wohl am Nachmittag gesehen haben und sie ihre Aussagen nur auf Druck der Beamten zurückgezogen haben.
Sechs Jahre nach dem Urteil hat der V-Mann, dem Ulvi in der Psychiatrie den Mord gebeichtet haben soll, seine Aussage widerrufen. Warum hat er das getan?
Christoph Lemmer: Er leidet an einem Tumor und wollte vor seinen Ableben reinen Tisch machen. Jedenfalls war das seine Begründung. Er hat sich einen Termin bei einem Richter in Bayreuth geben lassen und da an Eides statt erklärt, dass Ulvi Kulac ihm niemals den Mord gestanden habe. Er habe sich das ausgedacht und frei erfunden. Das hat er auch schriftlich niedergelegt, wir zitieren aus diesem Dokument. Den Zeitpunkt für diese Erklärung hatte er so ausgewählt, dass er nicht mehr wegen Falschaussage belangt werden konnte. Da war gerade die Verjährung eingetreten.

Die Einmischung der Politik

Und wie hat die Justiz darauf reagiert?
Christoph Lemmer: Gar nicht. Später hat sie im Laufe der zunehmend kritischen Berichterstattung zum Fall Peggy behauptet, sie hätte davon nichts gewusst. Das ist natürlich absurd, wenn die Bayreuther Justiz so etwas sagt, wo doch diese Erklärung vor einem Bayreuther Richter abgegeben wurde. Ich habe letztes Jahr im März schriftlich bei der Staatsanwaltschaft angefragt, was man zu diesem Widerruf mitzuteilen hätte und die Antwort war, man wüsste davon nichts und gebe hierzu auch keine Auskunft.
Dass sich die Politik in die Ermittlungsarbeit einmischt ist doch relativ ungewöhnlich. Oder passiert das in Bayern öfters?
Christoph Lemmer: Erst einmal: Die Politik hat sich gar nicht in die Ermittlungsarbeit einzumischen. Die Staatsregierung gehört zur zweiten und die Justiz zur dritten Gewalt. Die Exekutive mag sich um Personalfragen, Budget, Organisation, etcetera kümmern, aber nicht um die Verfolgung von Straftätern. Meiner Meinung gibt es aber seit dem Fall Mollath ein Indiz dafür, dass sich die Politik eben doch in die Strafermittlungsbelange einmischt.
Die Justizministerin hat nämlich bei der Generalstaatsanwaltschaft in Nürnberg ein Wiederaufnahmeverfahren für den Fall Mollath bestellt. Das ist aber nicht die Aufgabe der Justizministerin, sondern der Justiz selber. Da aber dieser Fall als Skandal in der Öffentlichkeit diskutiert wurde und sich Ministerpräsident Seehofer daran störte und sich vernehmlich räusperte, hat wohl aus diesem Grund die Justizministerin eingegriffen - jedenfalls sieht es so aus, als wäre es so.
Können Sie eine Dunkelziffer nennen, wie oft dies in Bayern geschieht?
Christoph Lemmer: Ehrlich gesagt nein. Ich staune nur über die vielen Fälle gerade in Bayern, in denen Gerichte immer nach bestimmten Schemata ihre Urteile fällen: Es gibt einen Mord, aber keine Leiche und keinen Beweis, aber einen Geständnis und hinterher lebenslange Haftstrafen. Dies führe ich auf eine gewisse Systematik zurück, die mit politischem Einfluss zu tun hat. Letztlich ist ja auch die Einführung der Reid-Methode auf politischen Einfluss zurückzuführen, denn es war das Innenministerium, das mit der Firma Reid verhandelte.
Bei vielen dieser Fälle [8] werden Menschen, die geistig nicht auf der Höhe sind als Hauptverdächtige präsentiert...
Christoph Lemmer: Das ist ja auch praktisch, weil sie sich nicht so gut wehren können. Sie kennen häufig ihre Rechte nicht genau, haben wenig Geld und sind hoffnungslos überfordert, wenn sie in die Fänge von speziell geschulten Ermittlern geraten, die offenbar skrupellos genug sind, diesen Menschen unter allen Umständen ein Geständnis herauszupressen.
Das krasseste Beispiel in dieser Richtung war der Todesfall des Bauern Rudi Rupp in Neuburg bei der Donau, wo die Familie angeklagt und zwei Angehörige zu lebenslänglicher Haft verurteilt wurden. Auch hier gab es keine Leiche, dafür aber Geständnisse, die nicht einmal zueinander passten. Der Familie wurde vorgeworfen, die Leiche mal an Schweine, mal an Hunde verfüttert zu haben, worauf der Richter ein lebenslängliches Urteil strickte.
Nachdem die Leiche am Stück aus der Donau herausgezogen wurde und klar war, dass das Urteil so nicht stimmen konnte, hat es trotzdem zwei Anläufe gebraucht, um eine Wiederaufnahme in Gang zu setzen.

Klischeetäter

Sehen Sie Parallelen im "Fall Peggy" zu den Link auf http://www.heise.de/tp/artikel/36/36006/1.html? Und können Sie sich vorstellen, dass beim Link auf http://www.heise.de/tp/artikel/33/33015/1.html auf ähnliche Art und Weise ermittelt wurde?
Christoph Lemmer: Um mit Letzterem anzufangen: Beim Oktoberfestattentat ist das schwer zu sagen. Dubios ist allerdings, dass der Attentäter eben kein klassischer Einzelgänger war, sondern in einer rechtsextremen Organisation, nämlich der Wehrsportgruppe Hoffmann, agierte. Und was davon zu halten ist, dass da womöglich Geheimdienste und diese sagenumwobenen Gladio-Hintergrundtruppen beteiligt gewesen sein sollen, kann man im Moment einfach noch nicht richtig einschätzen.
Sehr viel deutlicher werden die Parallelen beim NSU-Fall. Das fängt damit an, dass der Chefermittler Wolfgang Geier in beiden Fällen derselbe war. Weiter wurde beide Male mit unhaltbaren Tathergangshypothesen gearbeitet. Außerdem wurden zweimal Klischeetäter gesucht: Im NSU-Fall war das bequemste Klischee, dass es sich dabei um türkische Mafiakämpfe oder etwas ähnliches gehandelt haben muss, wobei die Opfer noch einmal zusätzlich kriminalisiert worden sind.
Im Fall Peggy hatte man als ersten Verdächtigen einen Türken und als zweiten Verdächtigen immerhin einen Halbtürken. Ulvi Kulac hat ja einen türkischen Vater. Außerdem schaut er nicht ansprechend aus, er ist groß, ein wenig plump und spricht nicht elegant. Möglicherweise lag das Kalkül darin, ihn gut als unsympathischen Tätertypus verkaufen zu können.
Das Dumme war allerdings, dass das Volk in Lichtenberg ihn nicht als Täter sehen wollte. Das sehe ich durchaus positiv. Die normalen Leute sind offenbar gar nicht so eine rachsüchtige Meute, wie wir manchmal glauben. Im Gegenteil: Statt nach Lynchjustiz zu rufen werfen sie in diesem Fall den Behörden Lynchjustiz vor.
Wie wird es Ihrer Einschätzung nach mit dem Fall weiter gehen?
Christoph Lemmer: Der Antrag auf Wiederaufnahme wurde zwar gestellt, aber der zuständige Richter hat bereits mitgeteilt, dass er dieses Jahr darauf nicht mehr reagieren wird. Ich vermute, es wird sehr lange dauern, bis eine Entscheidung fällt.
Last but not least: Sie haben bei Ihren Recherchen einen eigenen Verdächtigen entdeckt. Um wem handelt es sich?
Christoph Lemmer: Wir haben bei unseren Recherchen die Ermittlungsakten sehr aufwändig durchforstet und festgestellt, dass die SoKo 2 noch einen dritten Verdächtigen in petto hatte. Bei diesem Mann handelt es sich um einen inzwischen wegen eines anderen Falles verurteilten Pädophilen. Dieser Mann war in Peggy regelrecht verschossen, sie aber nicht in ihn.
Die Ermittlungen gegen diesen Mann hat die Polizei einfach fallen lassen, nachdem das Geständnis von Ulvi Kulac vorlag, und das war womöglich der entscheidende Fehler. Hätte sich herausgestellt, dass er mit Peggys Verschwinden zu tun hatte und hätte man ihn dafür eingesperrt, dann hätte er später kein anderes Kind mehr missbrauchen können.

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Links in diesem Artikel:
[1] http://www.br.de/nachrichten/oberfranken/peggy-polizeieinsatz-lichtenberg-102.html
[2] http://www.sueddeutsche.de/bayern/neues-buch-ueber-den-fall-spekulationen-um-peggy-1.1664860
[3] http://www.nordbayern.de/region/fall-peggy-neue-hoffnung-auf-freiheit-fur-ulvi-k-1.2211405
[4] http://www.ulvi-kulac.de/burgerinitiative.html
[5] http://www.antenne.de/Unternehmen-Industrie/Christoph-Lemmer---Redaktion__team_620743_radio.html
[6] http://www.droemer-knaur.de/buch/7787219/der-fall-peggy
[7] https://www.heise.de/tp/news/Zoelibat-als-Therapie-fuer-Paedophile-2019624.html
[8] http://www.augsburger-allgemeine.de/neuburg/Spektakulaerer-Fall-Rupp-wird-wieder-lebendig-id22401866.html