Der Fall Peggy

Ein verschwundenes neunjähriges Mädchen, drei Spuren und ein Geständnis unter höchst zweifelhaften Umständen. Gespräch mit Christoph Lemmer über einen Justizskandal

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Auch eine vermeintliche neue Spur brachte nichts Neues. Die Ermittlungen im Fall des verschwundenen Mädchens Peggy standen von Anfang an unter keinem guten Stern: Es gab Fahndungspannen, widersprüchliche oder falsch aufgenommene Zeugenaussagen und keine handfesten Ergebnisse, bis schließlich die Politik sich der Sache annahm und eine neue Kommission eingesetzt wurde. Dann war nach relativ kurzer Zeit ein Hauptverdächtiger gefunden. Der geistig Behinderte Ulvi Kulac.

Aus diesem wurde dann unter höchst zweifelhaften Umständen ein Geständnis gepresst. Auf einer nicht minder dubiosen Grundlage wurde Ulvi Kulac dann des Mordes für schuldig befunden. Und er ist als Opfer einer Rechtssprechung, die man ansonsten eher aus Richard Gere-Filmen kennt, die in China spielen, in Bayern kein Einzelfall. Telepolis hat hierzu Christoph Lemmer befragt, der mit Ina Jung Autor des hervorragend recherchierten Buches Der Fall Peggy ist. Ein Gespräch mit dem Journalisten.

Herr Lemmer, wie ist die Polizei überhaupt auf Herrn Kulac gekommen?

Christoph Lemmer: Nachdem die Politik sich eingemischt hatte und eine zweite Sonderkommission gegründet wurde, hat sie sich die Spuren der ersten Kommission angesehen und drei besonders viel versprechende herausgepickt. Spur Nummer Eins führte auf den türkischen Stiefvater von Peggy. Hier hat die Polizei mit einem irrsinnigen Aufwand bis in die Türkei hinein versucht herauszufinden, ob er das Mädchen entführt haben könnte. Diese Spur ist eindeutig widerlegt worden. Spur Nummer 2 war die auf den geistig minderbemittelten Ulvi Kulac. Und Spur Nummer Drei war die auf einen engen Freund der Nachbarsfamilie aus Sachsen-Anhalt.

Spur Nummer 2 war dann die, mit der die Ermittlungen endeten. Wie kam die Polizei auf Ulvi Kulac?

Christoph Lemmer: Weil er sich als Exhibitionist immer wieder vor Kindern die Hosen herunterließ. Das ließ ihn verdächtig erscheinen. Außerdem hat Ulvi Kulac Äußerungen gemacht, bei denen gedacht wurde, dass sie etwas mit dem Fall Peggy zu tun haben könnten. Diese Spur hat sich dann die zweite Sonderkommission noch einmal vorgenommen und es geschafft, ihn zu einem Geständnis zu bringen. Damit hatten sie ihren Täter und haben die dritte Spur auf einen Mann in Sachsen-Anhalt fallen lassen.

"V-Mann hat der Polizei angeboten, Kulac ein Geständnis zu entlocken"

Durch welche Aussagen wurden dieser Verdacht erhärtet?

Christoph Lemmer: Erst einmal nur durch eine einzige, und zwar von einer Frau die behauptet hat, sie habe Ulvi Kulac am Ausgangspunkt des angenommenen Tatgeschehens gesehen. Zufällig passte auch der Zeitpunkt, zu dem die Frau ihn gesehen haben will. Es gab aber sonst niemanden, der ihre Beobachtung bestätigte. Im Gegenteil: Viele Zeugen sagten, sie hätten Ulvi Kulac dort nicht sitzen sehen.

Außerdem könnte es sein, dass diese Frau mit Ulvi Kulac noch eine Rechnung offen hatte. Er hatte nämlich damals ihren eigenen Sohn verdächtigt, mit Peggys Verschwinden zu tun zu haben - allerdings nicht ganz ernst gemeint, wie sich später herausstellte. Diese Frau hat sich mit ihrer Aussage erst ein Jahr nach der Tat bei den Behörden gemeldet und zwar unmittelbar nachdem das Ermittlungsverfahren gegen ihren Sohn beendet war.

Dann gab es die Aussagen eines V-Mannes, der mit den Beamten der Sonderkommission 1 bereits früher zusammengearbeitet hatte. Zufällig saßen Ulvi Kulac und er in der selben geschlossenen Abteilung der Psychiatrie in Bayreuth ein. Dieser V-Mann hat der Polizei angeboten, sich mit Kulac zu beschäftigen und ihm ein Geständnis zu entlocken. Das ist ihm zumindest nach Aktenlage auch gelungen.

Daraufhin hat die zweite Sonderkommission Ulvi Kulac in das betreffende Polizeirevier gebracht und ihn zu einem Geständnis bewegt. Bei diesem Geständnis von Herrn Kulac sind verschiedene Unregelmäßigkeiten aufgetreten. Wie konnte Herr Kulac zu einem Geständnis motiviert werden?

Die Polizei hat massiven Druck auf ihn ausgeübt. Sie hat ihn mit falschen Beweisen konfrontiert. Die Vernehmer wurden laut, haben ihn offensichtlich auch körperlich angegangen und eine ausgetüftelte Verhörtechnik angewandt. Dem war Herr Kulac wohl nicht gewachsen.

"Interessanterweise existiert vom Geständnis kein Tonbandmitschnitt"

Was hat sich bei diesem Verhör ereignet?

Christoph Lemmer: Das entscheidende Verhör ging damit los, dass die Polizei Ulvi Kulac erzählt hat, dass auf seinem Overall Blutspuren gefunden wurden. Die sollten von Peggy stammen. Das war aber frei erfunden. Gleichwohl hat Ulvi Kulac nicht sofort gestanden, sondern wie bei allen vorherigen Vernehmungen jede Schuld bestritten. Nach dem Ende des Verhörs, sollte er in die Psychiatrie zurück gebracht werden, weswegen sich sein Anwalt verabschiedete.

Nachdem allerdings der Anwalt gegangen war, soll es bei Ulvi Kulac zu einem Gesinnungswechsel gekommen sein und die Beamten brachten ihn wieder in die Verhörzelle. Bei dem dann folgenden Verhör hat er ein Geständnis abgelegt. Interessanterweise existiert davon aber kein Tonbandmitschnitt, sondern nur ein Gedächtnisprotokoll. Das Mikrofon ging kaputt, so jedenfalls die offizielle Erklärung.

Ulvi Kulac hat laut Gedächtnisprotokoll viele Details genannt, etwa den kompletten Tatverlauf und wo die Leiche versteckt sei. Das hat die Polizei noch am selben Tag mit ihm vor Ort überprüft. Es stellte sich aber heraus, dass die Details nicht stimmten, jedenfalls, soweit sie nachprüfbar waren.

Haben Sie den Eindruck, dass der geistig behinderte Tatverdächtige beim Verhör adäquat behandelt wurde?

Christoph Lemmer: Er wurde nicht adäquat behandelt: Anschreien, mit Aktenordnern auf den Tisch knallen und ähnliches mehr ist in unserer Rechtsordnung nicht vorgesehen. Das Vorgehen der Polizei bei den Verhören ist zum Teil so arg gewesen, dass die Pfleger in der geschlossenen Psychiatrie in Bayreuth es trotz geschlossener Türen mitbekommen haben.

Das hat die Pfleger dazu bewogen, bei jedem Verhör einen Kollegen zum Aufpassen vor der Tür zu postieren. Daraufhin sind die entscheidenden Verhöre nicht mehr in der Anstalt, sondern auf dem Polizeirevier geführt worden, wo es dann keinen Pfleger gab, der den Beschuldigten vor Polizisten schützen konnte.

Es gibt Hinweise darauf, dass beim Geständnis von Herrn Kulac eine verhörtechnische Methode aus den USA angewandt wurde, die in Deutschland nicht nur höchst umstritten, sondern auch verboten ist. Können Sie uns mehr darüber erzählen?

Christoph Lemmer: Das ist die sogenannte Reid-Methode, die von einem Polizisten im Chicago der 40er Jahre erfunden wurde. Der gründete daraufhin eine Firma, die bis zum heutigen Tag diese Verhörmethode an Privatermittler und Polizeibehörden weltweit verkauft. Einer der Kunden war das Innenministerium von Bayern, das 1999 diese Methode getestet und daraufhin mit der Firma einen Vertrag geschlossen hat. Der sah vor, dass eine deutschsprachige Referentin Kurse für ausgewählte Kriminalbeamte abhält und sie in dieser Methode schult.

Das wurde dann von 2001 bis 2003 auch so gemacht, also ausgerechnet in der Zeit als Ulvi Kulac von der bayerischen Polizei verhört wurde. Der Vertrag mit der Firma Reid ist dann ausgelaufen, aber die Methode wird aber unter einer anderen Bezeichnung bis zum heutigen Tag bei der bayerischen Polizei angewendet. Dabei verstößt sie nach Ansicht von Kriminalisten und Juristen gegen deutsches Strafprozessrecht.

Ein Glaubwürdigkeitsgutachten

Herr Kulac hat später sein Geständnis widerrufen. Unter welchen Umständen hat es die Staatsanwaltschaft geschafft, dass das Geständnis vor Gericht trotzdem verwertet wurde?

Christoph Lemmer: Das Gericht hat zwei Dinge unternommen: Zum einen hat es die verhörenden Polizeibeamten als Zeugen benannt. Das ist prozessual zwar möglich, aber es unterläuft die Vorschrift, dass ein gültiges Geständnis immer vor einem Richter abgelegt werden muss. Zum anderen hat es ein Glaubwürdigkeitsgutachten erstellen lassen, das zum Ergebnis gelangte, dass das, was Ulvi Kulac im widerrufenen Verhör zugegeben hatte, der Realität entspricht.

Wer war denn der Gutachter und unter welchen Umständen hat er das Gutachten verfasst?

Christoph Lemmer: Das war Professor Hans-Ludwig Kröber, der Leiter des Instituts für forensische Psychiatrie in Berlin und eigentlich eine international anerkannte Koryphäe. Er war auch einer der Gutachter im Kachelmann-Prozess oder hat für den Vatikan untersucht, ob es einen Zusammenhang zwischen Zölibat und Pädophilie gibt. Im Fall Peggy ist er zunächst von der Polizei mit Informationen versorgt worden, auf deren Basis er sein Gutachten vorbereitete. Außerdem hat er mit Ulvi Kulac gesprochen. Was uns allerdings aufgefallen ist: Die Polizei hat Herrn Kröber erstens nicht alle Informationen zukommen lassen und zweitens entsprach nicht alles davon der Wahrheit.

Inwiefern?

Christoph Lemmer: Die Polizei hat ihm Vermutungen als Tatsachen dargestellt und damit das Ergebnis seines Gutachtens vorweggenommen. Wir sind an das Schreiben herangekommen, das der Ermittlungschef der Polizei für Gutachter Kröber verfasst hat. Darin behauptet er, es sei als sicher anzunehmen, dass Peggy am Mittag auf Ulvi Kulac traf und danach nicht mehr lebend gesehen wurde. Das war aber falsch.

Peggy wurde von zahlreichen Zeugen noch lange danach lebendig gesehen, und es ist völlig offen, ob sie ihn am Mittag nach der Schule wirklich traf. Vorsichtshalber hat der Ermittler extra vermerkt, dass dieses Schreiben nur für Kröber bestimmt war und auf keinen Fall zu den Gerichtsakten gegeben werden sollte. Mit anderen Worten: Die Verteidigung sollte es nicht in den Akten finden und damit erfahren, dass der Gutachter mit Falschinformationen gefüttert wurde.

Welche Aussagen des Gutachters halten Sie für eher kurios?

Christoph Lemmer: Für äußerst kurios halte ich die Aussage von Herrn Kröber, dass es keine Tathergangshypothese gegeben hätte, auf deren Basis sich jemand eine falsche Version des Mordes hätte ausdenken können. Dabei steht die Tathergangshypothese in dem erwähnten Schreiben drin.

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