Der Feldherr und seine Vordenker

Seite 2: Das Trauma von 1999 und der Bruch mit dem Westen

Die Destabilisierung Europas sei nur ein Teil der Strategie des russischen Präsidenten, erklärt Michel Eltchaninoff. In seiner Rezension seines Buches schreibt Kerstin Holm (2016):

Eltchaninoff erinnert an das Trauma von 1999, als die Nato ohne Mandat des UN-Sicherheitsrats Moskaus alten Verbündeten Serbien bombardierte. Dass die Militäroperationen mit moralischen Argumenten begründet wurden, klang für die Russen wie Hohn. Putins Interventionen in Georgien 2008 und der Ukraine 2014, womit er versuchte, weitere Verluste der Einflusssphäre zu bremsen, versteht Eltchaninoff als Racheaktionen. Wobei er treffend anmerkt, dass der Kreml mit seinen offiziell vorgebrachten humanitären Vorwänden die westliche Rhetorik als ätzende Retourkutsche zurückspielte.

Putins Comeback nach dem Tandemregime mit Dmitrij Medwedjew besiegelte, so Holm, die "konservative Wende" und den Bruch mit dem Westen. Vaterländische Europakritiker werden zu seinen Favoriten. Beispielsweise der "russische Nietzsche" Konstantin Leontjew (1831-1891), ein Demokratie- und Fortschrittsskeptiker, oder Nikolai Danilewski (1822–1885), der glaubte, Russland sei dazu berufen, die slawischen Völker zum Kampf gegen den Westen zu mobilisieren.

Wir erfahren auch: Der nationalkonservative Filmregisseur Nikita Michalkow, Putins Duzfreund, macht ihn mit den Schriften von Iwan Iljin (1883-1954) bekannt, einem jener Philosophen – wie Nikolai Berdjajew, Fjodor Stepun, Sergej Trubezkoi –, die 1922 ihr Land verlassen mussten. Iljin verstand sich als christlicher Denker, befürwortete aber ausdrücklich die Anwendung von Gewalt zum Wohl der Gemeinschaft. Angekommen in der Schweiz, verherrlichte er fortan Russland, die Kirche und den Faschismus.

Die Zeit stellt fest:

Heute inspiriert er (Iwan Iljin) das Denken und Handeln Wladimir Putins.

Iljins Gedankengut: Ein wirrer Mix aus historischem Auftrag und philosophisch-religiöser Überzeugung von einer erstrebenswerten höheren "Totalität". Putin bezieht sich in seinen Reden seit 2005 auf Iljin. Vor der Annexion der Krim stattete er seine Beamten sogar mit Iljins Aufsatzsammlung Unsere Aufgaben aus. Ein weiterer Schicksalsgenosse Iljins ist der Sprachwissenschaftler Nikolai Trubezkoi (1890-1938), der im Wiener Exil die romano-germanischen Fortschrittsideale als für Russland feindlich brandmarkte.

Dugin: Putins politischer Agitator

Der heutige Exponent dieser Geistesrichtung ist wohl der politische Philosoph Alexander Dugin (geb. 1962), der bis 2014 an der Moskauer Lomonossow-Universität lehrte. Dugin sieht den Ukraine-Konflikt als Kampf des Eurasischen gegen das "Atlantische Imperium". Er positioniert den "eurasischen" im Gegensatz zum "atlantischen" Kulturraum – und liefert der "Neuen Rechten" in Europa Stichworte.

Sein neoimperiales Großraumdenken verbindet Dugin mit einer harschen Kritik am westlich-liberalen, kosmopolitischen Lebensstil sowie an der Kälte des Internets, die zum Zerbrechen der gesellschaftlichen Bindungen geführt hätten. Die russische Gesellschaft nennt er "von Natur aus antiwestlich". Die taz nennt Dugin einen "Vordenker des Feldherrn", einen "russischen Faschisten", der seine Anhänger auch im Westen finde.

Der oben schon erwähnte Konstantin Leontjew verstieg sich unter Berufung auf seinen Zeitgenossen Danilewski gar zu diesem vernichtenden Bonmot über Europa4: Sein Kollege habe bewiesen, dass es gar kein Europa gebe; geographisch gesehen, sei Europa nichts anderes als "das atlantische Ufer des großen asiatischen Kontinents".

Der österreichische Kurier fragte 2015 anlässlich der Vorstellung von Walter Laqueurs Buch:

Und was soll der Westen tun? Die USA und Europa haben die Vorgänge in Russland nach ihren Maßstäben beurteilt und dadurch so schwer unterschätzt. Die Ukraine-Krise ist nur eine Folge davon.

Wie zuvor erwähnt, das war 2015! Nach Ansicht der Politikwissenschaftlerin und Spezialistin für russische Sicherheitspolitik, Isabelle Facon, hat Moskau immer wieder und mit spürbarer Verärgerung konstatiert, "dass die europäischen Staaten außerstande sind, eine strategische Autonomie gegenüber den USA zu entwickeln, und sich weigern, angesichts der Verschlechterung der strategischen und internationalen Situation ihre Verantwortung wahrzunehmen." So zitiert in der Ausgabe Le Monde diplomatique vom 10.02.2022.5

Europa ist "Zaungast", schreibt das Blatt an der Stelle; und man mag entgeistert hinzufügen: Die Ukraine erweist sich als Europas Sollbruchstelle.