Der Impfpass als Türsteher des autoritären Kapitalismus

Über den Zustand unserer Zeit. Und darüber, wie wir leben wollen. Ein Buchauszug

Der Impfpass, so Andrew Bud, der Geschäftsführer von iProov, einem Unternehmen für biometrische Zertifizierung, ist der Vorläufer eines "Digital Wallet", einer digitalen Brieftasche. Dieser Vorläufer dürfte den gesamten Bereich der digitalen Identifizierung vorantreiben.

Auf den Barcodes der grünen Pässe kann ein gewissermaßen unentrinnbares Netz der Überwachung etabliert werden, bei dem man Geolokalisierungsdaten eines jeden verfolgt: wer wann in welchem Restaurant, Hotel, Kino, Universität oder Fitnessstudio ein- und auscheckt, ist dann alles "traceable" – nachverfolgbar.

Auszug aus:
Ulrike Guérot
Wer schweigt, stimmt zu
Über den Zustand unserer Zeit. Und darüber, wie wir leben wollen.
144 Seiten
Hardcover 16,00 €
eBook 12,99 €

In Australien, Indien, China oder den USA ist dieser Prozess längst im Gang. In Indien ist ein digital-biometrisches System namens Aadhaar etabliert, eine Milliarde Inder hängen bereits an diesem System, das bisher größte biometrische digitale ID-Programm, an dem über Fingerabdrücke zum Beispiel Zuweisungen von Reis hängen. Wenn sich das System vertut, gibt es halt keinen Reis.

Eine solche digitale Identitätsinfrastruktur öffnet Tür und Tor zu digitaler Kontrolle, Social-scoring- und Social-credit-Systemen: Eine leere Straße bei roter Ampel zu überqueren, ein unkontrollierter Wutausbruch, das Schludern bei der Lektüre von Texten von Xi Jinping, deren Abendlektüre für Chines:innen Pflicht ist, das alles kann unmittelbar sanktioniert werden: kein Flug- oder Zugticket mehr, kein Eintritt in das Theater oder kein Zugang zu begehrten Produkten.

Viele Menschen, die sich wegen der Sorge um ihre Existenz nach einem Ende der Einschränkungen sehnten oder einfach ihren Job behalten wollten, haben sich resigniert in digitale Ausweisprogramme gefügt, die eine Impfung gegen Corona bescheinigen und als Schlüssel zur Wiederherstellung der persönlichen Freiheit bezeichnet wurden.

Die Umdrehung von Freiheit und Abhängigkeit ist inzwischen so perfekt gelungen, dass einem nur noch die Spucke wegbleibt. Weltweit werden Nicht-Geimpften der Zugang zu öffentlichen Räumen sowie Bürgerrechte verwehrt: Sie sind von Einkaufzentren, Bibliotheken, Banken, Universitäten und teilweise sogar von stationärer medizinischer Betreuung ausgegrenzt. Diese "Politik der Verbannung" ist längst in Europa angekommen.

Die Frage ist, ob es dabei wirklich nur um den Schutz vor Corona, Immunität oder gar Gesundheit geht oder um die Installation von Bewegungs- und mithin Überwachungssystemen, vorangetrieben, als nächstem Wertschöpfungszyklus, von einer gigantischen Tech-Branche, deren Namen alle kennen – Google, Amazon & Co. –, die wiederum auf das engste verbandelt ist mit Finanzgiganten wie Blackrock oder Vanguard. Beide zusammen übernehmen jetzt den "Sicherheitsrat" des autoritären Kapitalismus.

Staaten waren gestern. Wen interessieren noch UN-Resolutionen? Die digitalen Überwachungssysteme werden jetzt vom "autoritären Kapitalismus" installiert, um den Körper als letzte "Ware" zu kapitalisieren, denn sonst ist kaum noch etwas auf der Welt, mit dem man Geld verdienen kann.

Ulrike Guérot studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Philosophie in Bonn, Münster und Paris. Sie ist Professorin, Autorin und Aktivistin in den Themenbereichen Europa und Demokratie, mit Stationen in Thinktanks und an Universitäten in Paris, Brüssel, London, Washington, Berlin und Wien. 2014 gründete sie das European Democracy Lab, e.V., eine Denkfabrik zum Neudenken von Europa. 2016 wurde ihr Buch "Warum Europa eine Republik werden muss. Eine politische Utopie" europaweit ein Bestseller. Seit Herbst 2021 ist Ulrike Guérot Professorin für Europapolitik der Rheinischen-Friedrich-Wilhelms Universität Bonn und Co-Direktorin des Centre Ernst Robert Curtius (CERC).

Verknüpft werden also – um nur ganz schnell darüber zu fliegen – in einem ersten Schritt das Handy mit dem Körper (digitaler Impfpass). In einem zweiten Schritt dann Geld, Handy und Körper, zum Beispiel durch das geplante digitale Zentralbankgeld, also die Abschaffung von Bargeld.

Das Einkommen kommt demnächst direkt aufs Handy und wird wohl – ein kleines Zuckerstückchen für die bittere Medizin muss sein – an ein bedingungsloses Grundeinkommen, gekoppelt. Die Linke jubelt schon, denn wenn der soziale Flurschaden (Inflation, Geschäftesterben, Bildungsverlierer:innen) der Pandemie-Bekämpfungsmaßnahmen erst sichtbar wird, steht – simsalabim – das universal basic income als prompte politische Antwort schon parat, um den sozialen Protest zu verhindern.

Und schließlich sollen – das ist durchaus in Planung, aber noch Zukunftsmusik – Geld, Handy und Körper mit der Mensch-Maschine verknüpft werden, die die Menschen über Brain-Computer-Interfaces (BCI), also Implantate, direkt untereinander vernetzt. Man braucht in Zukunft also nicht einmal mehr das Smartphone zu zücken, um die Whatsapp der Freundin zu lesen, sie ist buchstäblich gleich unter der Haut und von da wahrscheinlich gleich auf der 3-D-Brille. Digital vernetzt und die menschlichen Gehirne zentral zusammengeschaltet, kann keiner mehr raus aus dem Homo Deus.

Das ist sicherlich angenehmer als die Fußfesseln der Sklaven, die auch noch ausgepeitscht wurden. Aber wohl denen, die noch Sartre gelesen haben und wissen: Die Hölle, das sind die anderen! Der Businesspartner, der nachts um vier Uhr eine Textmessage schickt, die direkt in meinem Gehirn piepst? Sind autonome Denkleistungen, ist freier Wille dann noch möglich?

In einem großen anthropologischen Bogen müsste man diskutieren, dass der Mensch immer seine Lebensbedingungen ändern, seine Begrenztheit überschreiten wollte: der über dem Homunculus brütende Faust steht vor Augen.