zurück zum Artikel

Der Kanon im Kopf

Medien im epikritischen Zeitalter. Essay - Teil 1

Das Schöne an popkulturellen Begriffen ist, dass es sich dabei manchmal um sehr eingängige Wortschöpfungen handelt, die trotz ihrer Spontanität und ihrer Herkunft so treffend sind, dass sie sich auch für Beschreibungen außerhalb ihres eigenen Ursprungskontexts eignen. Einer dieser Begriffe kommt aus der Beschäftigung mit fiktionalen Welten aus Filmen, Fernsehserien, Büchern und Computerspielen: Der "Canon".

Ein aktuelles Beispiel ist das neue "Star Trek: Discovery" (ab September 2017). Die Serie wird seit ihrer Ankündigung und ersten Vorschaubildern dafür kritisiert, zu sehr vom etablierten Canon des Star-Trek-Franchise abzuweichen. Wenn Mr. Spock auf einmal eine bis dato unbekannte (Adoptiv)schwester bekommt, das neue Design der Klingonen nicht mehr an 80er-Jahre-Rocker erinnert, oder die Uniformen Anleihen bei J.J. Abrams neueren Kinofilmen nehmen, obwohl die neue Serie nicht im Universum dieser Filme spielen soll, dann ist das Internet voll mit Kommentaren enttäuschter bis wütender Fans, die auf Canon-Verletzungen hinweisen.

Der Canon ist das Weltbild der fiktionalen Welt, auf das man sich geeinigt hat. Ob nun Star Trek, Harry Potter oder Game of Thrones: Der Canon ist gültig, Ergänzungen und Abweichungen vom Canon dürfen dem etablierten Weltbild nicht widersprechen und müssen gut begründet sein. Darüber besorgte Fans haben in etwa dieselbe Wächter-Rolle, die Terry Eagleton Literaturtheoretikern und Literaturkritikern zuschreibt: Sie sind "Wächter eines Diskurses".1 [1]

Daher ist der popkulturelle Canon-Begriff eng verwandt mit der eher bildungsbürgerlich konnotierten Vorstellung des "Kanon": "Bestimmte Texte werden als diejenigen ausgewählt, die diesem Diskurs eher als andere entsprechen".2 [2]

Vor Jahren hat Marcel Reich-Ranicki eine Sammlung als wichtig angesehener Literatur herausgegeben und diese Sammlung gleichsam monolithisch bezeichnet: "Der Kanon. Die deutsche Literatur".3 [3] Der Titel suggeriert: Es ist der Kanon, den muss man kennen, wenn man dazugehören will, alles andere ist nicht so wichtig.4 [4]

So normativ wird ein Kanon häufig wahrgenommen, egal ob es um Literatur, Musik oder Film geht, und auch die Canons der Popkultur folgen demselben Prinzip. Auf Literatur bezogen urteilte Reich-Ranicki im Jahr 2003: "Unsere Buchproduktion ist gigantisch und verwirrt viele Leser." Seinen Kanon sah Reich-Ranicki in diesem Sinne daher nicht als Norm, sondern als Hilfsangebot an, um den Überblick zu bewahren.

Nach dem Kanon: flexible Anpassung an häufig wechselnde Kontexte

Verallgemeinert kann man sagen, dass Kanon wie Canon den Umfang eines Wissensbestandes definieren, der für eine Gruppe von Menschen in einem bestimmten zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext identitätsstiftende Relevanz hat. Der Kanon oder ein Canon ist eine ordnungsstiftende Instanz für einen gesellschaftlichen Teilbereich, so wie es in anderen Bereichen andere Ordnungsinstanzen gibt.

Doch beschäftigt man sich mit soziologischen, kulturtheoretischen und auch philosophischen Diskursen zur Gesellschaft, so scheint es seit einigen Jahren in der Gesellschaft nicht mehr um feste Identität und beständige Ordnung zu gehen, sondern um die flexible Anpassung an häufig wechselnde Kontexte. Der Soziologe, Kulturwissenschaftler und Luhmann-Schüler Dirk Baecker stellte im Jahr 2013 die These auf:

Die Kulturform der nächsten Gesellschaft ist nicht mehr das Gleichgewicht, sondern das System. Identitäten werden nicht mehr daraus gewonnen, dass Störungen sich auspendeln, sondern daraus, dass Abweichungen verstärkt und zur Nische ausgebaut werden. Gleichgewichte sind leere Zustände; sie warten auf die nächste Störung.

Dirk Baecker

Versteht man den Kanon als Beispiel und vielleicht auch als Metapher für ein Weltbild, auf das man sich in einem gesellschaftlichen Teilbereich geeinigt hat, dann wäre mit Baecker zu sagen: Ein Kanon hilft nicht mehr weiter. Ein Kanon versucht, ein Gleichgewicht zu etablieren, das in der "nächsten Gesellschaft" (für die andere Autoren als Baecker andere Bezeichnungen gefunden haben, die aber alle ähnliche Beobachtungen meinen5 [5]), keine Relevanz mehr hat. Gerade das, was vom Kanon abweicht, stabilisiert Identität.

Und hier kommen wir wieder zur Popkultur, die auch für diese Feststellung längst ein griffiges Bild bietet: Den "Head Canon", also den subjektiven Kanon im Kopf, mit dem Fans fiktionaler Welten eigene Abweichungen des etablierten Canons rechtfertigen. 6 [6] So mag es z.B. sein, dass Dumbledore aus Harry Potter "offiziell" gestorben ist - aber im Head Canon kann er durchaus noch leben. Bei Fan Fiction kann der Begriff "Head Canon" wie ein Disclaimer oder eine Klarstellung wirken, die ggf. auch Kritik an den Abweichungen vermeidet. Damit bekommt der Begriff "Head Canon" eine diskurssteuernde Funktion.

"Ich mach mir die Welt …"

Der diskursive Umgang mit fiktionalen Welten und Weltbildern, für den die Begriffe Canon und Head Canon stehen, erscheint heute mitunter wie eine Metapher für den Umgang mit Wissen, Weltbildern und Wahrheit, sowie Abweichungen davon, insgesamt. Was kanonisch ist und was nicht, mag zwar für ein Individuum innerhalb einer algorithmengeförderten "Filterblase" klar sein, aber in der Beobachtung von außen und auf die Gesellschaft insgesamt bezogen ist dies ungewisser als früher - oder zumindest treten Unterschiede deutlicher zutage, denn "heute, durch das Internet, haben wir Zugang zu den Stammtischen", so der Kommunikationswissenschaftler Thorsten Quandt in einem ZEIT-Interview.7 [7]

Im selben Interview kritisiert der Historiker Wolfgang Wippermann die traditionellen (Massen)medien, die von sich immer noch glauben würden, objektive Wahrheit zu verbreiten. Doch "der eigene Standpunkt lässt sich nie ausblenden", so Wippermann. "Es gibt nur die Fiktion des Faktischen." Dies hätten die Medien nicht verstanden.

In dem Interview geht es um das weite Feld von Wahrheit und Lüge im Zeitalter des Internet. Den aufmerksamkeitsökonomischen Kontext für den Artikel liefert das Buzzword "Trump". ("Trump ist ein Geschenk"). In der Tat ist der derzeitige US-Präsident ein prägnantes Beispiel dafür, wie flexibel der Umgang mit Wissen, Weltbildern und Wahrheit derzeit ist.

Dem alten Wort "Lügenpresse", auf Amerikanisch "fake news", stellten sich "alternative Fakten" gegenüber, als es etwa um die Zahl der Anwesenden bei Trumps Amtseinführung ging. Ähnlich auch Trumps Behauptung, neben der amerikanischen alternativen Rechten (Alt Right) gäbe es auch eine gewalttätige Alt-Left-Bewegung - ein "whataboutism" (auch so ein Wort), der zuerst als fiktiv kritisiert wurde, dessen längere Existenz aber mittlerweile durch Artikel in etablierten Medien gestützt wird.8 [8]

"Kampf um die Deutungshoheit" wird zum Teil alltäglicher Mediennutzung

Dreh- und Angelpunkt der bis hierher geschilderten Beobachtungen ist der Eindruck, einem permanenten medialen Dauerfeuer aus multiperspektivischen Eindrücken ausgesetzt zu sein und nur noch schwer zwischen wahr und falsch unterscheiden können.

Im kommunikativen Austausch sind nicht nur Interpretationen von Aussagen subjektiv, sondern Seinsaussagen selbst je nach Standpunkt wahr oder falsch - Fakten und Alternative Facts. Konstruktivisten ahnten schon immer um die Relativität der Wahrnehmung, aber das war Theorie, die bestenfalls in abgeschwächter Form in Lehr-/Lernszenarien in Universitäten und Schulen ausprobiet wurde. Mittlerweile scheint aber jeder Leser einer Regionalzeitung vor die Frage gestellt: Glaube ich, was da steht? Oder doch lieber diesem Blog im Internet?

Ähnlich sieht es mit dem bekannten Begriff "Kampf um die Deutungshoheit" aus, der bisher vor allem medien- und kommunikationswissenschaftlich reflektiert wurde. Dieser Kampf scheint jetzt Teil alltäglicher Mediennutzung zu sein, wenn man etwa das Teilen von Links zu alternativen Sichtweisen in den Kommentarbereichen von Artikeln oder das Kritisieren der Autoren als Teil dieses Kampfes sieht.

Auf der Meta-Ebene dieser Phänomene weisen, wie erwähnt, Soziologen seit Jahren auf den Wegfall typischer Ordnungsinstanzen hin. In diesen Perspektiven gibt es keine objektive Wahrheit mehr, oder zumindest keine gesellschaftliche Instanz, die akzeptierte Wahrheiten allgemeingültig festlegen könnte. Weder Religion, noch etablierte Medien, noch Politik sind hierzu mehr in der Lage; auch Experten wird nicht mehr getraut.

Grundsätzlich gibt es das Phänomen, etablierten Instanzen nicht zu glauben, schon länger, doch konnte dies lange als Randerscheinung abgetan werden (etwa als Verschwörungstheorien, zu deren historischer Entwicklung der oben erwähnte Wolfgang Wippermann 2007 ein Buch herausgebracht hat9 [9]) und die praktischen Auswirkungen im Alltag waren gering. Es gab eine basale Sicherheit darüber, wie man Alltag, Medien, Politik, Wirtschaft, Religion usw. einzuordnen hat.

Dies ist seit mehreren Jahren anders. Dass sich etwa im Jahr 2013 die Redaktion der Tagesschau tagelang für ihre Ukraine-Berichterstattung rechtfertigen musste (und seitdem immer mal wieder), oder dass ein US-Präsident die eigentlich doch angesehensten Medien des Landes mit "Ihr seid fake news!" disqualifiziert, war früher undenkbar oder zumindest nicht zu beobachten.

Das faszinierend Paradoxe daran ist, dass man beim Tätigen einer Aussage in der Regel natürlich trotzdem davon überzeugt ist, dass es Wahrheit gibt. Trump wird genauso überzeugt davon sein, dass seine Twitter-Statements "wahr" sind (und die Nachrichten in New York Times, Washington Post oder auf CNN "falsch"), wie Sorgen vor Überfremdung auf als "wahr" erkannten Beobachtungen beruhen. Die Tagesschau wird ihre Berichte aus ihrer Sicht nach bestem "Wissen" erstellt haben, und sowohl dem Leugnen des Klimawandels als auch den Warnungen davor liegen "wahre" Fakten zugrunde.

Über diese Dinge zu reden und zu streiten, ist, systemtheoretisch gedacht, der Versuch, Unsicherheit durch Kontrolle in den Griff zu bekommen. Man einigt sich auf Wissensbestände in bestimmten gesellschaftlichen Teilsystemen, um die Grenzen dieser Systeme definieren. Davon ausgehend kann man als System bestehen und mit anderen Systemen in Beziehung treten, also funktionierende Gesellschaft gestalten.

Heute jedoch scheint diese geordnete Struktur labil. Die teilweise sehr aggressiv wirkenden kommunikativen Erscheinungen im Zusammenspiel der Teilsysteme scheinen der von den Soziologen postulierten ungewissen, unverbindlichen Gesellschaft entweder etwas entgegen halten oder aber diese Gesellschaft erst herbeiführen zu wollen - sozusagen die erwähnte "nächste Gesellschaft" (Baecker) entweder aufzuhalten, in der so vieles kontingent ist, inklusive der eigenen, ein Leben lang gleich bleibenden Identität, oder im Gegenteil die "nächste Gesellschaft" herbeizuführen, in der man sich flexibel und global denkend stetig neu als "Projekt" (wiederum Baecker) erfinden und darstellen (Han) muss. Entweder im Festhalten am Althergebrachten, Stabilen oder die Begrüßung des Neuen, Flexiblen - dazwischen scheint es nichts zu geben, und wer auf welcher Seite steht (und wo man selbst) ist entweder unsicher - oder man orientiert sich an denen, die all das eben Gesagte leugnen und das Bestehen von hergebrachten stabilen Ordnungen wie selbstverständlich weiter voraussetzen.

Wie auch immer man sich einordnet: Wenn man sich einordnet, trifft man eine Entscheidung zu den Wahrheiten, die man teilt, zu dem Wissen, das man akzeptiert. Man definiert sich in Abgrenzung zur Umwelt.

Perspektive und Ziel des Essays

Das bis hierher skizzierte Phänomen bezeichne ich im weiteren Verlauf dieses Essays mit dem zu Beginn eingeführten Begriff "Head Canon" und ordne diesen anschließend vor einem bestimmten Konzept phänomenologischer Beschreibung ein.

Ich behaupte, dass ein subjektiver Head Canon als (nicht gesellschaftliche, sondern individuelle) Ordnungsinstanz fungiert, mit der wir den Ungewissheiten der Gesellschaft, unseres epikritischen Zeitalters, begegnen. Fakten und Alternative Facts - das Angebot ist breit, die Auswahl bedrängend offen. Jeder hat seinen eigenen Headcanon und muss sich entscheiden, was dazugehört und was nicht.

Dies nenne ich "epikritisch" in Anlehnung an das Begriffsinventar des Phänomenologen Hermann Schmitz, weil die Fülle an Wahrheitsangeboten einerseits und aus dieser Fülle mitunter zugespitzt herausragende Aussagen andererseits in ihrer Aufforderung zur Entscheidung einengend und mitunter leiblich spürbar beklemmend sind.10 [10]

A sagt: "Ich habe Recht, B verbreitet fake news." Und B sagt, "A lügt, ich sage die Wahrheit." C sieht sich das an, findet bei A und B Elemente, die C sowohl glaubhaft als auch unwahrscheinlich erscheinen, und entscheidet, dass die Wahrheit wohl irgendwo dazwischen liegt, oder auch ganz woanders, sodass C zumindest an der eigenen bisherigen Sicht zweifelt und am Ende also ratlos dasteht, allein gelassen, mit Wirklichkeitsangeboten, die auf C einprasseln, eine leiblich spürbare Verengung der Welt um ihn herum erzeugen, bis C sich in der einen oder anderen Weise aus der Verengung nach außen wendet, indem C endlich eine Entscheidung trifft - für A oder für B oder für das Verdrängen bis zum nächsten Mal - oder für distanzierende Reflexion, etwa in der Form eines Essays.

Aus den individuellen Ordnungs- und Kontrollversuchen erwächst zunächst noch mehr Ungewissheit, denn die Kontrollversuche selbst zeigen überhaupt erst, dass es das Problem der Kontingenz in großem Ausmaß gibt. Sie zeigen einerseits, dass die seit Jahren gemachten soziologischen Vorhersagen zuzutreffen scheinen, aber sie erfüllen sie auch.

Insbesondere radikale Aussagen, etwa in der Politik, richten den Zeigefinger auf jeden Einzelnen und bedrängen zu einer Reaktion. Sie fokussieren auf sich und engen den Blick auf sich ein. Sie fragen: "Auf welcher Seite stehst du?" und sie fordern: "Du musst dich entscheiden." Sie setzen unter Druck, was individuell auch als leiblich unangenehme Beklemmung wahrnehmbar sein kann - epikritisch in den Begriffen der Schmitz’chen Phänomenologie. Dieser Essay ist ein Versuch,

(1) die skizzierten Beobachtungen mittels kommunikationssoziologischer Konzepte und einiger Anleihen am phänomenologischen Begriffsinventar zu beschreiben

(2) die Beschreibungen an ausgewählten Beispielen zu verdeutlichen

(3) die Bedeutung der Beobachtungen einzuordnen, insbesondere auch für die genutzten kommunikationssoziologischen Konzepte selbst; sowie

(4) mögliche Konsequenzen, etwa für konkrete Orientierungs- und Handlungsmöglichkeiten, zu ermitteln.

Im nächsten Teil werden die Begriffe Kanon und „Head Canon“ eingeführt und der Umgang mit diesen Begriffen an einem Produkt der Popkultur – Star Trek: Discovery – gezeigt.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3877824

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Der-Kanon-im-Kopf-3877824.html?view=fussnoten#f_1
[2] https://www.heise.de/tp/features/Der-Kanon-im-Kopf-3877824.html?view=fussnoten#f_2
[3] https://www.heise.de/tp/features/Der-Kanon-im-Kopf-3877824.html?view=fussnoten#f_3
[4] https://www.heise.de/tp/features/Der-Kanon-im-Kopf-3877824.html?view=fussnoten#f_4
[5] https://www.heise.de/tp/features/Der-Kanon-im-Kopf-3877824.html?view=fussnoten#f_5
[6] https://www.heise.de/tp/features/Der-Kanon-im-Kopf-3877824.html?view=fussnoten#f_6
[7] https://www.heise.de/tp/features/Der-Kanon-im-Kopf-3877824.html?view=fussnoten#f_7
[8] https://www.heise.de/tp/features/Der-Kanon-im-Kopf-3877824.html?view=fussnoten#f_8
[9] https://www.heise.de/tp/features/Der-Kanon-im-Kopf-3877824.html?view=fussnoten#f_9
[10] https://www.heise.de/tp/features/Der-Kanon-im-Kopf-3877824.html?view=fussnoten#f_10