Der Kern des Bahn-Streits
Heimliches Kündigungsrecht für die Staatsgewerkschaft EVG
Zum Ende 2020 liefen im DB-Konzern die Tarifverträge aus. Der Bahnvorstand forderte mit Rücksicht auf die pandemiebedingten Verluste eine Minusrunde. Zunächst hatte der Vorsitzende der größeren Bahn-Gewerkschaft EVG, Klaus-Dieter Hommel, angekündigt: "Mit mir wird es keine Nullrunde geben".
EVG stimmt Minusrunde zu, die GDL nicht
Aber dann segnete Hommel für die EVG nicht nur eine Null-, sondern sogar eine Minusrunde ab: Am 17. September 2020 unterschrieb er den Tarifvertrag im Verkehrsministerium von Andreas Scheuer (CSU): Keine Lohnerhöhung bis 1. Januar 2022, danach 1,5 Prozent bis 28. Februar 2023.
Das ist eine reale Lohnsenkung angesichts der durch die Corona-Politik der Bundesregierung beschleunigten Inflationsrate. Diese beträgt gegenwärtig 1,8 Prozent und steigt absehbar weiter.
Die abhängige Staatsgewerkschaft EVG hatte somit der Erpressung des Bahnvorstands sofort und konfliktscheu zugestimmt, hatte dazu die Mitglieder nicht befragt. Dagegen verweigerte die kleinere Gewerkschaft GDL die Zustimmung, führte eine Urabstimmung durch. Ergebnis: Ablehnung der Minusrunde und Streik.
Die GDL fordert, sehr gemäßigt, was die DGB-Dienstleistungsgewerkschaft ver.di schon im öffentlichen Dienst durchgesetzt hatte: 1,4 Prozent für das Jahr 2021, danach für das Jahr 2022 zusätzlich noch einmal 1,8 Prozent, zudem eine Corona-Prämie von 600 Euro.
Das Vorbild des öffentlichen Dienstes lag für die GDL auch deshalb nahe, weil sie die staatseigene Bahn als öffentlichen Dienst betrachtet.
Das heimliche Sonder-Kündigungsrecht für die EVG
Was viele etablierte Medien verschweigen und was auch die EVG verschweigt: Im Tarifvertrag der EVG mit der DB steht eine Ausstiegs-Klausel, eine sogenannte "Angstklausel", juristisch ein Sonderkündigungsrecht: Wenn "eine andere Gewerkschaft" (die GDL wird nicht genannt) einen höheren Abschluss erreicht, kann die EVG ihren Tarifvertrag kündigen und nachverhandeln. So steht es in "Anlage 11 Sonderkündigungsrecht". Das betrifft auch die Corona-Prämie, auf die die EVG verzichtet hatte.
Die EVG muss bei einem GDL-Erfolg natürlich nicht kündigen. Sie müsste nicht, aber dann stünde sie als vorstandsabhängige Marionette noch deutlicher da. Sie müsste also kündigen und nachfordern. Und das wäre dann für den Konzern kostspielig, denn der DB-Vorstand fördert ja ganz verbissen, dass die EVG viel mehr Beschäftigte vertritt als die GDL. Auch deshalb soll die GDL möglichst verschwinden.
Aber der Fall der nachträglichen Tarifkündigung darf nicht eintreten, so der DB-Vorstand und auch die konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung. Das würde der DB viel kosten, und vor allem: Die EVG stünde als Lusche da, die GDL als erfolgreich. Eben das ist der Machtkampf, der Klassenkampf, der von oben, mit Fake-News und billiger Polemik geführt wird.
EVG täuscht ihre Mitglieder
Der Vorstand der EVG hatte der Minusrunde in Geheimverhandlungen und ohne Mitgliederbefragung sofort zugestimmt. Die EVG ist nicht nur undemokratisch. Der Vorstand informiert zudem seine Mitglieder falsch.
In ihrer Mitglieder-Information imtakt special vom November 2020 unter dem Titel "Bündnis für unsere Bahn – fair noch vorne" stellt die EVG die Ergebnisse des Tarifpakets vom 17. September vergangenen Jahres dar. Darin fehlt die Vereinbarung zum Sonderkündigungsrecht. So täuscht die EVG nicht nur die Öffentlichkeit, sondern auch die eigenen Mitglieder.
Heimliches Sondergeschenk für die EVG: Zusatzrente
Die Anti-GDL-Agitatoren aus Bahnvorstand, EVG-Vorstand und Leitmedien verschweigen eine weitere, streikrelevante Tatsache.
Mit der Kündigung der Tarifverträge zum Ende 2020 kündigte der Bahnvorstand auch die bisher geltende Zahlung in eine betriebliche Zusatzrente. Dies galt für alle Beschäftigten.
Neben der üblichen Betriebsrente hatte die DB bei der Privatisierung und der gleichzeitigen Fusion mit der Bahn der Ex-DDR, der Deutschen Reichsbahn, 1995 eine betriebliche Zusatzrente eingeführt, auch um die ostdeutschen Beschäftigten bei der Stange zu halten.
Als der Bahnvorstand jetzt diese Zusatzrente kündigte, widersprach die GDL. Die Erhaltung dieser Rente ist auch ein Streikgrund. Aber mit der EVG hat der Bahnvorstand im oben genannten Tarifpaket "Bündnis für unsere Bahn" die Kündigung zurückgenommen und die Zahlung der Zusatzrente bis 28.2.2023 verlängert – aber eben nur für die EVG.
EVG: 185.000 Mitglieder – aber nur 64.500 im Beruf
Bahnvorstand und EVG täuschen die Öffentlichkeit auch in anderer Hinsicht. Als Zahl der EVG-Mitglieder wird 185.000 angegeben. Das stimmt im Prinzip, aber bei der Umgestaltung der Bahn in eine private Aktiengesellschaft im Jahr 1995 hatte die Vorgänger-Gewerkschaft der EVG, die Transnet, noch 450.000 Mitglieder.
Die stammten noch aus der alten Zeit der öffentlichen Bundesbahn. Daneben gab es seit 1948 noch die kleinere Beamten-Gewerkschaft GBDA. Mit der Privatisierung aber baute der privatrechtliche Staatskonzern rabiat Arbeitsplätze ab und schickte zehntausende in vorzeitigen Ruhestand, auch die teuren Beamten, wie bei der Privatisierung der Bundespost hin zum Börsengang als Telekom AG.
Deshalb schrumpften beide Gewerkschaften erheblich, Transnet und GBDA. Auch deshalb fusionierten sie 2010 zur Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft EVG: Da hatte die EVG gerade noch etwa 250.000 Mitglieder und übernahm die 40.000 GBDA-Mitglieder, die aber zu 80 Prozent Pensionäre waren. Danach ging der Personalabbau weiter, mit Zustimmung der EVG. Seitdem bis heute schrumpfte die EVG weiter um mehr als 100.000 Mitglieder.
Nach Schätzung von Gewerkschaftsmitgliedern hat die EVG gegenwärtig etwa 64.500 Mitglieder, die noch im Beruf stehen - die "restlichen" etwa 120.000 Mitglieder sind Rentner und Pensionäre. Von ihnen scheiden jährlich etwa 10.000 wegen Tod aus.
Während die EVG still und leise und uneingestanden vor sich hinschrumpft, nimmt die GDL zu, gewiss nicht schnell, aber stetig: 2007 hatte sie 31.000 Mitglieder, seit etwa 2018 besonders viele Neuzugänge und gegenwärtig 37.000 Mitglieder. Bundesregierung und Bahnvorstand wollen diese Entwicklung stoppen, umkehren.
Tarifeinheitsgesetz: eine Fiktion
Um die GDL nach deren nachhaltigem Streik 2014 zu schwächen, beschloss die Große Koalition aus CDU, CSU und SPD das Tarifeinheitsgesetz. Danach gilt in einem Unternehmen nur ein einheitlicher Tarifvertrag, der mit der größten Gewerkschaft abzuschließen ist. Fernziel: die GDL ganz rausdrängen!
Nun ist schon angesichts der geringen und abnehmenden Zahl der noch im Beruf stehenden EVG-Mitglieder diese Regelung im Bahn-Konzern fragwürdig. Aber das Gesetz ist vor allem aus einem anderen Grund eine wirklichkeitsfremde Fiktion.
Denn die Politik der Bundesregierung und des Staatskonzerns besteht ja nach dem Vorbild privater Großkonzerne darin, das Unternehmen in immer mehr Tochter-Unternehmen aufzuspalten.
So besteht die DB gegenwärtig aus etwa 300 rechtlich selbständigen Unternehmen, als Aktiengesellschaft oder GmbH. Dazu gehören etwa 20 DB Regio in verschiedenen Bundesländern, DB Cargo/Railion (Güterverkehr), DB Schenker (Lkw-Logistik), DB Netze Fahrweg, DB Bahnbau, DB Gleisbau, DB Systel, DB Personenbahnhöfe ...
So sind in den verschiedenen dieser Unternehmen auch die EVG und die GDL unterschiedlich oder jeweils gar nicht vertreten. Die GDL ist schon lange keine Lokführer-Gewerkschaft mehr, sondern umfasst viele Berufe.
Deshalb ist es naheliegend und gewerkschaftlich normal, dass die GDL, die ohnehin eine größere Dynamik der Neuzugänge hat als die EVG, das Ziel verfolgt, in immer mehr Bahn-Unternehmen vertreten zu sein und Mitglieder zu werben. Diese Form der ansonsten immer beschworenen Tarifautonomie wollen Bundesregierung und Bahnvorstand hier abschaffen.
Insofern steht die GDL für gewerkschaftliche Freiheit und Unabhängigkeit. Und deshalb verdient sie die Unterstützung aller demokratischen Kräfte.