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Der König von Deutschland spricht wieder zu uns

Bild Frank-Walter Steinmeier: Lauri Heikkinen / FinnishGovernment / CC-BY-2.0

Alle Jahre wieder gibt es die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten. Frank-Walter Steinmeier hat wenig zu sagen und redet trotzdem regelmäßig viel. Über ein nur scheinbar überflüssiges Amt.

So ähnlich wird es wohl auch dieses Mal laufen: Am 25. Dezember sendet das Fernsehen die alljährliche Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten. Man sieht Frank-Walter Steinmeier in einer warmen Stube mit Deutschland-Fahne und Weihnachtsbaum im Hintergrund.

"Liebe Landsleute", wird er wohl gewohnt jovial beginnen, "zu Weihnachten grüßen meine Frau und ich Sie alle aus vollem Herzen. Wieder, wie in den beiden Jahren zuvor, steht dieses Fest unter dem Eindruck bedrohlicher Entwicklungen. War es 2020 und 2021 die Corona-Pandemie, hat sich dieses Jahr etwas ereignet, was wir nicht mehr für möglich gehalten haben: ein Krieg mitten in Europa.

Der Angriffskrieg Russlands hat alles verändert. Es gibt keine Sicherheiten mehr, und mit den aus der russischen Aggression folgenden schwerwiegenden Folgen für unsere Wirtschaft und unseren Alltag haben wir alle zu kämpfen. Umso wichtiger ist es, dass wir zusammenhalten und dieses Weihnachten dazu nutzen, uns auf unsere Kräfte zu besinnen ..."

Was war das doch schön nach dem Anschluss des Ostens ...

Wie die Ansprache weitergeht, kann man sich denken. Etwas kürzer und salbungsvoller, aber in der Sache gleich wie in seiner Rede "Alles stärken, was uns verbindet" vom 28. Oktober wird er einen Rundgang durch die aktuellen nationalen Befindlichkeiten machen.

Möglich, dass er am Anfang wieder vom "Rückenwind" spricht – nein, nicht von dieser nervigen Bank in der Fernsehwerbung, die einen Kredit gnädigerweise aussetzt, weil eine gerade fertiggestellte Terrasse einen Kratzer abbekommen hat. Sondern Frank-Walter Steinmeier fabuliert von einer "Epoche im Rückenwind". Vor dem Krieg in der Ukraine waren es

Jahre, geprägt vom Glücksmoment der Deutschen Einheit, vom friedlichen Abzug der sowjetischen Truppen, vom Ende der Blockkonfrontation und dem Zusammenwachsen Europas. Es waren Jahre der Friedensdividende, von der wir Deutsche in der Mitte des vereinten Europas reichlich profitiert haben (…) Wir setzten darauf, dass wir von Freunden umgeben und der Krieg in Europa jedenfalls unvorstellbar geworden sei. Freiheit und Demokratie schienen überall auf dem Vormarsch, Handel und Wohlstand in alle Richtungen möglich.

Frank-Walter Steinmeier [1]

In welcher Welt lebt der Mann? In seiner ganz eigenen offenbar. Sie wird beherrscht vom unbedingten Interesse eines Polit-Profis am Erfolg seines Staates – und verlangt, dass dieses Interesse seine lieben Untertanen gefälligst teilen.

Wer erinnert sich nicht an seinen "Glücksmoment", als Deutschland-West ganz ohne Kanonen Deutschland-Ost anschloss? Und die eigentlich furchtbar bösen Sowjetrussen das ohne Widerstand hinnahmen? Da wurde das normale Leben zwischen Job und Familie doch gleich viel schöner!

Reichtum und Wohlstand breiteten sich unaufhaltsam aus. Wählen durften die "da drüben" jetzt endlich wie wir, also welche Figuren ihnen die nächsten vier Jahre die Vorschriften machen sollten. Und in Europa begegnete fortan jeder den Deutschen mit einem zugewandten Lächeln.

Gegensätze, gar Krieg? Aber nein, wir sind doch jetzt alle Freunde. Es können nur alle zustimmen, wenn die Deutschen gerade zur größten Macht auf dem Kontinent heranwachsen und das Sagen haben ...

... und das hat Russland jetzt kaputtgemacht

Zur staatstragenden Schönrednerei Steinmeiers gehört desgleichen seine immer wieder aufgetischte Erzählung: Vor dem Einmarsch Russlands in die Ukraine hat es keinen Krieg in Europa mehr gegeben, jedenfalls nicht seit dem Fall Nazi-Deutschlands! Durch Wiederholung wird es aber nicht richtiger.

Er selbst müsste sich noch gut daran erinnern, wie die rot-grüne Bundesregierung Ende der 1990er-Jahre das Eingreifen der Nato in den jugoslawischen Bürgerkrieg guthieß und sich am Krieg beteiligte.

Zuvor hatte Deutschland diesen Bürgerkrieg durch die frühzeitige Anerkennung der abtrünnigen Kroatien und Slowenien [2] angeheizt. Innerhalb der EU im Alleingang, gegen Widerstand von Großbritannien, Frankreich und Spanien. Diese Länder haben bekanntlich ihre liebe Not mit eigenen Separatisten (Iren, Korsen und Basken). Da zuckte man verständlicherweise davor zurück, in einem europäischen Nachbarland solche Bestrebungen zu unterstützen.

Beinahe sprachlos macht vor diesem Hintergrund, wie dreist der Mann im höchsten Staatsamt einfach das falsche Gegenteil behauptet. Und fast noch sprachloser, dass die überwiegende Mehrheit der Medien ihm das durchgehen lässt. Es ist ja auch zu schön für die Propaganda gegen den aktuellen Kriegsgegner: So lange war Europa friedlich, und dann zerstört Russland alles.

Für einen Bundespräsidenten stellt sich die Welt eben anders dar als für einen normalen Bürger: Sein Staat muss sich behaupten und größer werden (Glücksmoment), sein System soll sich durchsetzen (Freiheit und Demokratie), sein nationaler Reichtum sich mehren ("in alle Richtungen").

Dennoch kann Steinmeier davon ausgehen, dass kaum einer seiner Untertanen abwinkt und sagt: "Ihre Sorgen möchte ich haben. Bei mir geht es ums tägliche Überleben. Und das ist abhängig davon, ob ich von Ihrem sogenannten nationalen Reichtum ein paar Krümel abbekomme, für die ich mich auch noch übel krumm machen muss. Außerdem, was für eine Dividende? Muss ich etwa dankbar dafür sein, dass Sie mit Ihren Politikkumpanen keinen Krieg anzetteln?"

Jetzt müssen "wir" konfliktfähig werden – "Frieden" war gestern

Wenn Frank-Walter Steinmeier deshalb am 1. Weihnachtsfeiertag ähnliche Worte findet wie Ende Oktober, und das darf man getrost annehmen, werden vielleicht nicht so viele zuschauen wie beim Ausscheiden der deutschen Fußballmannschaft in Katar.

Aber einige Millionen werden es schon sein. Die sich als Teil einer großen Gemeinschaft begreifen, deren Oberhaupt ihnen einerseits Honig um den nationalen Bart schmiert: Wie wichtig alle sind, jeder an seinem Platz selbstverständlich.

Andererseits aber auch einige harte "Wahrheiten" verkündet, was auf sie an unangenehmen Anforderungen jetzt zukommt. Und dass das nun mal sein muss – für was wohl? Natürlich den Erfolg Deutschlands.

Vielleicht wird er zum Friedensfest der Christenheit etwas sanfter formulieren, doch in der Sache dürfte es auf Folgendes hinauslaufen:

"Wir müssen konfliktfähig werden, nach innen und außen. Wir brauchen den Willen zur Selbstbehauptung, und wir brauchen auch die Kraft zur Selbstbeschränkung. Wir brauchen keine Kriegsmentalität – aber wir brauchen Widerstandsgeist und Widerstandskraft!::Frank-Walter Steinmeier [3]

"Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen"? (Lukas 2,14) – wohl eher nicht für die Angehörigen des deutschen Staatsvolks:

"...ich weiß, viele Menschen in unserem Land sehnen sich nach Frieden. Einige glauben, es fehle an ernsthaften Bemühungen unsererseits, ja gar an Bereitschaft zum Verhandeln. Ich kann Ihnen versichern: Niemandem, der bei Sinnen ist, fehlt der Wille. Aber die Wahrheit ist: Im Angesicht des Bösen reicht eben guter Wille nicht aus. (…) Ein Friede, der Putins Landraub besiegelt, ist kein Friede.

Frank-Walter Steinmeier [4]

Die Weihnachtsbotschaft lautet also: Erst, wenn Russland sich komplett aus der Ukraine zurückzieht, also seine Niederlage eingesteht, können wir über einen Frieden verhandeln! Da dies jedoch in Anbetracht des Bösen – recht besehen der Kräfteverhältnisse – einstweilen nicht der Fall sein dürfte, müsst ihr, meine lieben Untertanen, Euch auf die hiesige Kriegswirtschaft bis auf weiteres einstellen.

Also das nötige Geld aufbringen für die Finanzierung der durch Gas- und Ölboykott geschaffenen Energienotlage, für die drastische Aufrüstung der Bundeswehr und natürlich auch für die zusehends kaputte und ungebrochen korrupte Ukraine. Begleitet von einer dramatischen Verteuerung der Lebenshaltungskosten, die damit zusammenhängt. Es geht ums Gürtel-enger-schnallen und das sich Einreihen in die ideologische Kriegsfront.

"Landraub" des "Bösen": Mehr Kriegsgründe gehen nicht

Zur präsidialen Lesart der Lage zählt außerdem ernsthaft, dass es sich bei Russland um "das Böse" handele und es um "Landraub" ginge. Beides ist grundverkehrt – und der langjährige Außenminister Steinmeier weiß das natürlich. Schließlich besteht Außenpolitik von Staaten prinzipiell darin, sich mit anderen Staaten ins Benehmen zu setzen. Dafür muss man nun einmal die Herrschaft des Gegenübers über sein Land und seine Leute anerkennen. Moral ist da fehl am Platz.

Solange Beziehungen von Nutzen sind, schaut man auch nicht so genau hin, wie der andere Staat mit seinen Bürgern umspringt – beispielsweise Ägypten. Das ist Sache der anderen Herrschaft, und die verbittet sich auch eine Einmischung.

Die Alternative ist allerdings die Einmischung. Sie kratzt an der nötigen Anerkennung der Souveränität und ist deshalb heikel. Wenn Druck ausgeübt werden soll, weil die Beziehung nicht in die richtige Richtung läuft, hat sich der Hinweis auf Menschenrechte gut bewährt oder die Warnung, sich nicht mit den falschen Staaten zusammenzutun.

Dann kann man prima testen, wie sehr der eigene Einfluss reicht – also der andere Staat sich den Vorwurf gefallen lässt, vielleicht sogar sich der Einmischung fügt und gewünschte Änderungen bei seinem Regieren zeigt. Bei Staaten wie China und Indien erfährt Steinmeiers Nachfolgerin im Außenministeramt Annalena Baerbock die Grenzen der deutschen Macht. Beide wollen partout nicht von ihren umfangreichen Beziehungen zu Russland lassen, und sie reihen sich nicht in die Anti-Putin-Front ein.

Das "Böse" in der internationalen Politik ist einfach keine Kategorie, in der sie begleitenden Propaganda umso mehr. "Böse" allerdings ist es aus der jeweiligen Sicht eines Staates oder Bundes wie der Europäischen Union, wenn sich andere Regierungen nicht wie gewünscht verhalten. Das trifft gerade auf Russland besonders zu, entsprechend fallen die Mittel aus, diese Macht in die Schranken zu weisen – und die moralische Begleitmusik, um der rechtschaffenen Empörung Ausdruck zu verleihen.

Dabei geht es "Putin" nicht darum, die Ukraine einzuverleiben. Sein "Landraub" im Osten und auf der Krim dient dem Zweck, den "Landraub" des Westens zu stoppen. "Landraub" ist in diesem Zusammenhang ein bewusst irreführender Begriff: Es geht nicht um die Vergrößerung von Staatsgebiet, sondern von Zugehörigkeit der Ukraine zum jeweiligen Einfluss- und militärischem Aufmarschgebiet.

Und in diesem Kampf hat der Westen seit der Auflösung der Sowjetunion enorme Erfolge erzielt. Sein "Landraub" führte schließlich dazu, dass von den einstigen Verbündeten Russland bis auf Belarus kein Staat mehr übrig geblieben ist. Die Ukraine ist de facto seit 2014 auch für Moskau verloren. Aber wenigstens die Aufnahme in die – mitsamt der Stationierung Russland bedrohender Raketen will man verhindern.

Gute Bürger machen alles mit und dürfen außerdem eine Meinung haben

Sicher wird Frank-Walter Steinmeier in seiner Weihnachtsrede nicht so ellenlang über den "Epochenbruch", die drohende russische "Schreckensherrschaft" und die "Zerreißprobe" für "uns Deutsche" sprechen, wie er es Ende Oktober tat. Ebenfalls wahrscheinlich, dass er sich nicht bei den Pflegekräften für ihren Einsatz während der Corona-Pandemie bedankt – wie er es noch 2020 tat. Das kam ja schon ein Jahr später nicht mehr vor.

Wäre auch irgendwie seltsam, angesichts der weiter bestehenden Überlastung und schlechten Bezahlung in der Pflege. Ein einmaliges präsidiales Schulterklopfen kommt halt billiger als dauerhaftes Aufstocken von Personal und Gehalt.

Es geht eben um das Fest der Liebe, da muss das Zusammensein in den Vordergrund rücken, nicht Gegensätze. Anzunehmen ist deshalb, dass er den zweiten Teil seiner damaligen Ausführungen hervorhebt, der auch den Titel abgab: "Alles stärken, was uns verbindet."

Der Bundespräsident sorgt sich nämlich um die Demokratie und den Zusammenhalt in seinem Volk. Dafür bemüht er das Ideal eines Bürgers: Der macht alles von ihm Verlangte mit, verteidigt seine Herrschaft – aber mit ganz eigener Meinung! Die ist folgenlos und soll das bitteschön auch bleiben. Wofür hat man schließlich eine Regierung und den ganzen Staatsapparat? Die haben schließlich die einzige "Meinung", die zählt.

Widerstandskräftige Bürger treten ein für ihre Meinungen, äußern ihre Sorgen – aber sie lassen sich nicht vereinnahmen von denen, die unsere Demokratie attackieren (…) Widerstandskräftige Bürger fordern Freiraum für ihre eigene Art zu leben – aber vergessen nicht, wie sehr wir alle auf andere angewiesen sind.

Frank-Walter Steinmeier [5]

Gegensätze? Einfach mehr an Deutschland denken und lieb sein!

Der Herr Bundespräsident weiß hervorragend um die Versuchungen, denen seine Bürger erliegen könnten. Er spricht daher ganz offen von Gegensätzen: "Jung und Alt", "Ost und West", "Stadt und Land", "Reich und Arm"

Am Weihnachtstag wird er wahrscheinlich darauf nicht so herumreiten, so wie zwei Monate zuvor. Da wird er noch mehr das Versöhnende hervorkehren: Wie lieb doch der Großvater die Enkel hat, auch wenn die sich auf die Straße kleben und ihm vorwerfen, das Klima kaputtgemacht zu haben. Und die Jungen sollten schon ein wenig Respekt haben vor der Lebensleistung der Alten, gell!

Dass bereits nach 32 Jahren die Lebensverhältnisse im deutschen Osten so sind wie im Westen, ist natürlich ein wenig vermessen. Aber es geht voran – jetzt gibt es dort sogar Firmen, die Halbleiter und Elektroautos herstellen. Das wärmt die vergessen geglaubte Ossi-Seele!

Ein wenig mehr Land in der Stadt und Stadt im Land, das muss doch gehen, liebe Landsleute. Also habt Euch einfach alle lieb, egal, ob ihr im Anwesen hinter dem Dorf lebt oder in Berlin-Marzahn.

Reiche und Arme wird es natürlich immer geben. Wichtig ist der Respekt, dass selbst der Mensch ohne Geld etwas wert ist, irgendwie. Und wenn er auch nur als Wähler taugt und sonst nicht weiter negativ auffällt.

Umgekehrt sollte der aber auch nicht neidisch sein auf den Reichtum der oberen Zehntausend – das haben die sich schließlich mühsam durch ehrliche Ausbeutung verdient und damit Deutschland, also uns allen sozusagen, den nötigen wirtschaftlichen Erfolg beschert.

Zum Schluss wird Frank-Walter Steinmeier vielleicht noch seine Lieblingsidee aufwärmen: die "soziale Pflichtzeit".

Eine solche Pflichtzeit braucht kein ganzes Jahr zu dauern, sie kann auch kürzer sein oder auf mehrere Lebensabschnitte verteilt werden. Man könnte den Dienst in sozialen Einrichtungen, in der Flüchtlingshilfe, in der Umwelt- und Klimaarbeit, im Katastrophenschutz oder auch bei der Bundeswehr leisten.

Frank-Walter Steinmeier [6], Rede am 8. November 2022

Damit soll der von ihm beschworene nötige, aber derzeit zu wünschen übrig lassende Zusammenhalt in der Gesellschaft gestärkt werden. Auf Überzeugung und Freiwilligkeit will er sich offenbar nicht verlassen, da kennt er seine deutschen Pappenheimer. Es sollte schon verpflichtend sein – ein kleiner Widerspruch zu seinem Credo, dass doch eigentlich "wir alle" guten Deutschen uns als Teil einer einigen Nation sehen. Darauf will er sich dann doch nicht verlassen, sondern vorsichtshalber den staatlichen Zwang einsetzen.

Die Idee kam bisher in der Öffentlichkeit nicht besonders gut an, und von den Parteien wurde sie ebenfalls nicht prominent unterstützt. Wir haben doch schon den "Bundesfreiwilligendienst" – und außerdem glücklich den karrierebremsenden Wehr- und Zivildienst hinter uns gebracht. Und was erlaubt sich eigentlich der Bundespräsident, einen solchen konkreten Vorschlag zu machen. Das ist doch gar nicht seine Aufgabe!

Für eine glanzvolle Zukunft: Deutschland über alles in der Welt

Auf positivere Resonanz traf die präsidiale Vision der nationalen Zukunft, wie Steinmeier sie am 28. Oktober vortrug und er sie womöglich bei seiner Weihnachtsansprache wiederholen wird. Kunststück, sie fasst das zusammen, wie auch Kanzler, Kabinett und sonstige Kandidaten ihren Staat am liebsten sehen:

Wir bewahren unsere Freiheit, unsere Demokratie. Wir machen Deutschland zu einer neuen Industrienation – technologisch führend, klimaverantwortlich, in der Mitte Europas. Vernetzt, aber weniger verwundbar. Wehrhaft, aber nicht kriegerisch. Ein offenes, freundliches Land mit mehr und neuen internationalen Partnern.

Frank-Walter Steinmeier [7]

In etwas deutlicheren Worten: Die deutschen Politiker werden mit aller Gewalt ihr System verteidigen – die Freiheit, sich mit Profit oder Lohn durchs Leben schlagen zu müssen und die Freiheit, alle vier Jahre unter ihnen die nächsten Herrschaftsfiguren wählen zu dürfen. Natürlich muss Deutschland konkurrierende Staaten weit hinter sich und entsprechend alt aussehen lassen mithilfe seiner überragenden Technik "Made in Germany".

Die wird das Land selbstverständlich auch beim Klimaschutz zu weltweit besten Geschäften verhelfen. Das Ganze mitten in der Europäischen Union, also als Staat, der selbstverständlich am meisten von diesem Bündnis profitiert. Lieferketten werden verkürzt beziehungsweise umgestellt auf zahlreichere, deutsche Sicherheitsbedürfnisse besser erfüllende Lieferländer.

Die Bundeswehr wird endlich wieder auch einen Krieg in Europa gewinnen können und überall in der Welt die deutschen Interessen mit eindrucksvoller Rüstung vertreten – aber Streit nur dort anzetteln, wo es wirklich sein muss. Dabei ist Deutschland ganz freundlich zu allen Staaten, die sich dieses Programm gefallen lassen.

Wie ein König – und doch wieder nicht so ganz

Nun kann man sich fragen: Warum brauchen wir diese Reden, regelmäßig zu Weihnachten und bei zahlreichen Ehrungen, Festveranstaltungen, Tagungen? Inhaltlich ziehen sie doch ziemlich genau die großen Linien in der aktuell herrschenden Politik nach.

Aber sie machen sich damit nicht einfach gemein. Sondern die Worte eines Bundespräsidenten halten sich vom alltäglichen politischen Schacher fern. Ein Frank-Walter Steinmeier steht über dem ständigen Streit, wie Deutschland am besten voranzubringen ist.

Seine Aufgabe besteht darin, das ganze Volk zu repräsentieren, als "erster Bürger im Staate". Er personifiziert das Gute der Nation, die herausragenden Eigenschaften der Bürger und ihr Bemühen, stets für den Erfolg Deutschlands zu arbeiten – und zwar bitte schön zusammen, über alle Unterschiede und Interessengegensätze hinweg.

Insofern führt er sich wie ein König auf. Aber nicht ganz so, wie es Mitte der 1980er-Jahre Rio Reiser in seinem bekannten Lied "König von Deutschland" besang:

Ich denk' mir, was der Kohl [der damalige Bundeskanzler] kann
Das kann ich auch …
Bei der Bundeswehr
Gäb' es nur Hit-Paraden..
. Ich hätte zweihundert Schlösser...

Das alles und noch viel mehr
Würd' ich machen
Wenn ich König von Deutschland wär'

Erstens verfügt der Bundespräsident nur über ein Schloss ("Bellevue"). Aber darauf ließe sich vielleicht der ehemalige Sänger der linksradikalen "Ton, Steine, Scherben" ein (wenn er noch lebte, er starb 1996). Zweitens, und das ist dann schon ein großer Unterschied, kann er nicht über die Bundeswehr verfügen. Oberbefehlshaber ist er nicht.

Wie, drittens, er ebenfalls nicht das kann, was ein Bundeskanzler kann: eine Regierung führen. Denn aus diesem politischen Alltagsgeschäft ist er raus – das macht ihn in dieser Beziehung unangreifbar, was genau so gewollt ist.

Im Prinzip also eine Art Pappfigur, die nichts zu melden hat. Die jedoch genauestens darauf beäugt wird, dass sie das Ideal des guten Deutschen überzeugend und 24 Stunden am Tag personifiziert. Der Präsident muss ein untadeliges Privatleben führen, bescheiden sein, aber schon auch national selbstbewusst auftreten.

Als nominelles Staatsoberhaupt überragt er natürlich alle Bürger, und das sollte in seinem Verhalten zu bemerken sein. Das höchste Amt verlangt eben Respekt. Dennoch darf er nicht zu abgehoben agieren. Dem Volke zugewandt, nimmt er die Stimmen auf und trägt sie im Sinne einer Sorge um das nationale Wohl denen vor, die das Sagen haben. Beim Ermahnen der Regierenden darf er es wiederum nicht übertreiben. Denn Vorschriften darf er natürlich nicht machen, das überschreitet seine Kompetenz.

Noch ruft der "König von Deutschland" nicht zu den Waffen

Ein durchaus schwieriger Job also. Die richtige Person dafür zu finden, ist deshalb jedes Mal eine ausgewachsene Staatsangelegenheit. Vom Bundespräsidenten hängt zwar keine wichtige Entscheidung ab.

Aber als Inkarnation Deutschlands muss der Amtsträger über alle Zweifel erhaben sein – damit seine Appelle ans deutsche Gewissen der Bürger möglichst glaubwürdig rüberkommen. Das erinnert dann an Predigten an die Gemeinde: Ständig geht es um Tugenden, um Ideale, um gemeinsame Ziele, die "wir" haben müssten – und um Versuchungen, denen "wir" zu widerstehen hätten.

Da muss der Präsident Vorbild sein, der Edelste von allen, und darüber hinaus der Nation den ihr zustehenden Glanz verleihen – so wie halt eine Queen, ein König in Spanien, Schweden oder wo sonst noch Staaten sich neben ihren geschäftsführenden Regierungen einen Repräsentanten der jeweils nationalen Überlegenheit leisten.

Dass ein Frank-Walter Steinmeier da mit seinen hierarchischen Kolleginnen und Kollegen nicht so recht mithalten kann, sollte man ihm nicht vorwerfen. Der deutsche "König" steht nun einmal keinem Adelsgeschlecht vor, dessen zahlreiche Angehörige zu unterhalten sind und deren Liebesleben die Leute unterhält. Das Schloss Bellevue hat er nur für seine Amtszeit geborgt – überhaupt: Amtszeit! Ist das noch ein König, der gewählt wird und dessen Ende festgeschrieben ist?

Andersherum: Passt eine solche Figur nicht gerade zu einer so bescheidenen Nation wie Deutschland? Im Unterschied zu den Royals dieser Welt kostet er wenig, Skandale sind eher selten, und er steigt viel öfter zu seinem Volk herab. Den Schein, Herrschaft und Untertan seien nicht Gegensätze, sondern Teile einer an einem Strang ziehenden Gesellschaft, pflegt er so vielleicht noch besser als die echten Könige.

Bundespräsidenten-Reden laufen deshalb stets auf einige wenige Kernbotschaften hinaus: Unser Staat ist gut, wir können stolz auf ihn sein, die Macht wird gerecht ausgeübt und dafür täglich zu arbeiten ist die erste und befriedigende Bürgerpflicht. Und bei allen Unterschieden und verschiedenen Interessen – "wir" sind doch alle Deutsche und halten zusammen! Nicht nur nach innen, sondern auch nach außen: Gerade bestens zu studieren an Steinmeiers Tiraden gegen Russland.

Noch ruft der "König von Deutschland" nicht zu den Waffen. Einstweilen hofft er, dass die russische Niederlage auch ohne sie eintritt. Aber wer weiß, wie seine Weihnachtsansprache nächstes Jahr beginnt...


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[2] https://www.dw.com/de/deutschlands-rolle-im-jugoslawien-konflikt/a-5805165
[3] https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2022/10/221028-Alles-staerken-was-uns-verbindet.html
[4] https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2022/10/221028-Alles-staerken-was-uns-verbindet.html
[5] https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2022/10/221028-Alles-staerken-was-uns-verbindet.html
[6] https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2022/10/221028-Alles-staerken-was-uns-verbindet.html
[7] https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2022/10/221028-Alles-staerken-was-uns-verbindet.html