Der Protest ist das eigentliche Wirkungsfeld der Linken

Die Linke hat die Rebellion von der Pike auf gelernt. Buchauszug

Zur Schwäche der Linken, was die ideologisch-politische Niederlage gegenüber großen Volksparteien, den Reaktionären wie auch den Rechten und Identitären angeht, lässt sich sagen, dass sie auch dort ausgemacht werden kann, wo die Linke brav geworden ist, obwohl sie meint, sie würde immer noch beißen.

Der Text ist ein Auszug aus dem Buch von Artur Becker: Links. Ende und Anfang einer Utopie 144 Seiten. Es erscheint am 2.5.2022

Denn da sie mehr und mehr in Frankreich und Deutschland in die Ecke gedrängt wurde – man müsste etwas zynisch sagen, in eine demokratische Einsamkeit, weil sie auf ihren eigenen Wunsch Wähler verlor –, fing sie an, mit Eifersucht auf ihre Gegner zu schielen und mit Fremdkörpern und -kräften zu experimentieren, zu denen zum Beispiel der Populismus gehört – die Bücherregale sind europaweit voll mit solchen Büchern, die einen linken Populismus als Alternative beschwören.

Was der Populismus in Osteuropa, im Realsozialismus also, angestellt hat, indem er zum Mittel von rechtskonservativen, nationalistischen bis totalitären Regimen geworden war, interessiert die westlichen Heiler und Propheten nicht. Das Paradoxe ist auch, dass die Linke dem Reaktionären meistens nur noch mit der gängigen Skepsis begegnet, unabhängig davon, ob diese durch Verfassungstreue oder Bildung oder Konformismus oder kritischen Menschenverstand motiviert ist, obwohl sie selbst auf die Wirklichkeit "reaktionär" und revisionistisch reagieren müsste – nämlich progressiv kritisch.

Stattdessen ist das ganze Feld, auf dem die Linke einst die besten Karten gehabt hatte, weil sie in ihrer kritischen Haltung eine Koinzidenz lange aufrechterhalten konnte, den Reaktionären diverser Provenienz überlassen worden: den Konservativen, den Rechten, den geistig und kulturgeschichtlich Verwirrten, den Linksradikalen und den Aggressiven und vor allem den Verschwörungstheoretikern. Und leider auch den parlamentsfähigen Postneofaschisten: Marine Le Pen, Viktor Orbán, Giorgia Meloni, Matteo Salvini, AfD und PiS.

Ich will nicht damit sagen, dass die Linke einen wesentlichen Beitrag geleistet hat im Kontext der Erfolge der Rechten. Das sollen Soziologen beurteilen. Und Philosophen. Mich macht etwas anderes skeptisch: Wenn nämlich nach Lösungen gesucht wird, die die Linke aus ihrem Mutterbeet herausreißen und ihr einen Erfolg prophezeien, wenn sie denn endlich erkennen würde, dass die Zeiten sich geändert hätten, dass Marx und Freud längst zu Grabe getragen worden seien und Nietzsche ihnen schon bald folgen würde, wie Michel Houellebecq in seiner Dankensrede von 2016 schreibt, die er im Rahmen der Verleihung des Frank-Schirrmacher-Preises gehalten hatte.

Das größte Potenzial der Linken

Denn ich würde eher sagen, dass das größte Potenzial der Linken gerade ihr natürlicher Drang zum kritisch-utopischen Denken und Handeln ist, und da werden auch sofort ihre Wurzeln sichtbar, die von Marx über Gramsci zu Lukács und dann zu Kołakowski und Adorno führen.

Oftmals ist es zielführend, sich anzuhören, was die Philosophie oder die Soziologie zu sagen haben, da sie versuchen, eine überzeugende Ordnung herzustellen und zugleich die von ihnen kreierten Begriffe kritisch im Auge zu behalten, um, ganz dialektisch, die konstitutive Nichtidentität von Begriff und Gegenstand zu markieren. Jedenfalls stünden einem Adorno wohl die Haare zu Berge, wenn er läse, wie Houellebecq in seinen Essays mit Begriffen "herumschmeißt", wie ein gut gelaunter Fischhändler auf dem Fischmarkt.

Gerade ein solch wildes Um-sich-Werfen von Begriffen, das Gefühle anspricht und dessen Botschaft leicht verständlich ist, wird aber heute in Bezug auf die Linke oft eingefordert. So heißt es bei Chantal Mouffe:

Ein linkspopulistischer Ansatz sollte versuchen, ein alternatives Vokabular zur Verfügung zu stellen, um diese Forderungen auf egalitäre Ziele umzulenken. Das bedeutet nicht, dass man die Politik rechtspopulistischer Parteien stillschweigend gutheißen sollte, sondern dass man sich weigern sollte, den Wählern die Verantwortung dafür in die Schuhe zu schieben, wie ihre Forderungen artikuliert werden. Ich bestreite nicht, dass es Menschen gibt, die sich vollkommen mit diesen reaktionären Werten identifizieren, aber ich bin überzeugt, dass andere nur von diesen Parteien angezogen werden, weil sie das Gefühl haben, dass sie die Einzigen sind, die sich für ihre Probleme interessieren. Stellte man ihnen eine andere Sprache zur Verfügung, so bin ich überzeugt, dass viele ihre Lage anders erleben und sich den progressiven Initiativen anschließen würden.

Chantal Mouffe

Mouffes Vorschlag, den linken Populismus salonfähig zu machen, die Sprache zu ändern, um den abtrünnigen Wählern entgegenzukommen und ihre Probleme nicht in die Schublade mit der Aufschrift "Reaktionäres Denken und Verschwörungstheoretiker" zu stecken, ist durchaus verständlich. Aber Populismus lässt sich nicht instrumentalisieren und verbiegen – er muss eine breite Masse erreichen und ist deshalb nicht gerade zimperlich, was seine Feinde angeht.

Doch viel wichtiger ist, dass der Zeitgeist, um es etwas provozierend zuzuspitzen, heute solcher Art ist, dass das ganze System grundsätzlich infrage gestellt wird, und da die Linke in den Augen der Skeptiker, eben auch der Abtrünnigen, ein Teil dieses Systems sei, ist es ihnen unmöglich, in die Linke oder Sozialdemokratie wieder Vertrauen zu fassen. Viele Trump-, PiS-, Orban- oder FN-Wähler protestieren gegen das ihnen suspekt gewordene System, obwohl sie sich selbst nicht für Rechte oder gar Verschwörungstheoretiker halten.

Nach einem neuen Vokabular suchen

Insofern müsste man, sollte man nach einem neuen Vokabular suchen, dieses nicht innerhalb des Systems, sondern außerhalb von diesem ändern, und dies würde auf eine Revolution hinauslaufen, wie es die "Gelbwesten" teilweise vorgemacht hatten. Die Linken müssten sich nicht den Rechten angleichen, sondern wieder entdecken, dass ihre Stärke im Gegenteil liegt: Im fruchtbaren Dialog mit allen Standpunkten, die es zu einer Frage gibt. Die Linken sollten wieder die Demokratie verteidigen, verstanden als System, das für Gleichheit und Teilhabe steht, nicht für Ideologie, Propaganda und Ausgrenzung.

Diese Entwicklungen zeichnen nach Jason Stanley (How Fascism Works) den Weg in den Faschismus aus:

Das beredtste Kennzeichen faschistischer Politik ist die Spaltung. Sie versucht, die Gesellschaft in "uns" und "sie" zu unterteilen. Viele verschiedene politische Bewegungen verlassen sich auf diesen Mechanismus – die kommunistische Politik zum Beispiel nutzt die Klassenspaltung als Waffe. Um die faschistische Politik zu beschreiben, ist es notwendig, die Methoden darzustellen, wie sie "uns" von "ihnen" aufgrund ethnischer, religiöser oder rassischer Überlegungen unterscheidet und wie sie diese Spaltung zur Gestaltung von Ideologie und zur endgültigen Formung ihrer Kräfte nutzt.

Jason Stanley

Stanley, der an der Yale University Philosophie lehrt, führt in seinem kurzen Buch eine ganze Reihe von Beispielen solcher Entwicklungen an, und so dürfen in seinem Panoptikum Donald Trump, Viktor Orbán oder die PiS (Recht und Gerechtigkeit) aus Polen nicht fehlen.

All die von Stanley beschriebenen Zutaten der faschistischen Politik finden sich im Handeln der oben genannten Hauptdarsteller: In Polen werden intellektuelle Eliten infrage gestellt und diffamiert, kritische Theaterintendanten und Schriftsteller werden nicht mehr gefördert, Polens Opferrolle wird mythologisiert, die Frauen kämpfen seit Jahren schon gegen das rigorose Abtreibungsgesetz – der patriarchale Staat und die patriarchale katholische Kirche haben hier das Monopol; Subjekte und Institutionen, die regierungskritisch sind, werden finanziell nicht unterstützt – das geschieht auch in Ungarn; es wird andauernd betont, dass die Regierung demokratisch handle und die Demokratie das A und O ihrer Politik sei, obgleich die Stabilität der Gewaltenteilung nicht mehr vorhanden ist; die wirtschaftliche Lage wird gnadenlos ausgenutzt, um immer wieder neue Feindbilder zu kreieren; und dann wird noch die ethnische Komponente eingebaut – die Angst vor dem fremden Mann an der Tür, der ins Land einfalle und rauben und morden wolle.

Für Flüchtlinge gibt es in solch einer Konstellation keine Chance, zumal sie ideologisch und konfessionell eine Bedrohung für die vermeintliche Einheit des Volkes darstellen (mit Ausnahme der Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine – aus bekannten Gründen); Stanley spricht in diesem Zusammenhang treffend von einer "Entmenschlichung".