Der Protest ist das eigentliche Wirkungsfeld der Linken

Seite 2: Das Reaktionäre und die gefälschte Wirklichkeit

Wer sich also auf Reaktionäres einlässt, weil es vermeintlich um die Revision einer womöglich gefälschten Wirklichkeit gehe, muss sich im Klaren sein, dass er in die Teufelsküche geraten kann, mag die Provokation noch so attraktiv sein.

Das muss auch einem Michel Houellebecq klar sein, und es geht ja nicht darum, dass ihm die Erfahrung des totalitären Systems fehlt (das wäre zu offensichtlich, so zu argumentieren), sondern im Allgemeinen um Gefühl und Verständnis für episteme und doxa, wie es immer wieder bei Hannah Arendt im Kontext der Politik heißt; um das Erkennen, um Fakten also, geht es dann und nicht nur darum, welche Vorstellung und Meinung man von der zerbrechlichen Wirklichkeit einbringt in die globale politische Diskussion.

Gegen den Austausch von Meinungen, insbesondere bei einer Diskussion über das Neue, über die Utopie und die Zukunft, sollte man in der Politik nichts haben: Kritische Diskussionen und ein lebendiger Austausch von Meinungen machen sowohl unsere Gesellschaft als auch unsere Kultur aus, aber der Populismus, der mit dem Unbewussten und den Gefühlen des potenziellen Empfängers spielt und diese steuert, will diesen Austausch nicht, und er verdreht oft noch die Fakten und erträgt keine kritische Begegnung und auch keine Dialektik.

Der Populismus kann also eine wahre Utopie nur verdammen. Sie macht ihm Angst, weil sie die Erneuerung der Gesellschaft anstrebt, ihre ganze Statik durcheinanderbringen will und muss, damit es vorwärtsgehen kann, und zwar auf allen Ebenen, die verfahrene Verhaltensmuster beinhalten. Dabei darf es natürlich keine einfachen Antworten geben, sondern solche, die rebellisch sind und manchmal alles auf den Kopf stellen, zumindest auf den ersten Blick.

Demagogische Gewalt über Massen – das kann nicht die Domäne einer Linken sein, die ihrem Begriff entsprechen will oder es zumindest versucht, indem sie ihre Kraft aus der Kraft der Utopie schöpft. Früher oder später kommt es nämlich zwangsläufig – wird die populistische Propaganda eingesetzt – zu einer Diktatur, und diese kennen wir zur Genüge aus dem ehemaligen Ostblock, der versuchte, das sowjetische Imperium am Leben zu halten. Und wir kennen sie auch aus Putins imperialen Machtträumen.

Im Sozialismus erlebte ich den institutionalisierten Marxismus wie eine Religion der Massen, in der das Individuum sich einer höheren Sache stellen beziehungsweise opfern musste. Es fühlte sich alles falsch, verlogen an, sodass Rebellion die einzige Antwort sein konnte – genauso der Rechten gegenüber, deren Demagogie mich immer angewidert hat. Also, der Populismus "killt" die Rebellion, und die Linke hat die Rebellion von der Pike auf gelernt, das ist ihr eigentliches Wirkungsfeld: der Protest, die immerwährende Infragestellung der gesellschaftlichen Situation.

Populistische Parolen sollten also der Linken ein Dorn im Auge sein, da diese der Parteipropaganda entspringen, und die populistische Partei betrachtet den Staat wie ihr Eigentum. Der Populismus will außerdem spalten und die Wähler in gute und böse trennen, um Vorurteile anzuheizen. Er ist zudem hysterisch und pathetisch, er beschwört den Mythos der großen Heldentaten seiner Nation: Wer hier nicht mitmacht, wird zum Feind erklärt.

Die Mentalität des Untertanen wird in seinem Unbewussten angesprochen – durch massive Propaganda. Aber was am wichtigsten ist: Er schafft ständig neue Feindbilder und neue bedrohliche Szenarien, damit der Bürger das Gefühl hat, es könne nur einen geben, der ihm hilft und ihn beschützen kann – seine Partei, seine Regierung. Die Pflicht der Linken ist es, gegen solche politische Instrumentalisierung zu protestieren und sie zu bekämpfen.

Kołakowski schreibt:

Der Linken ist die Liebe zum Märtyrertum und der bewusst nutzlose Heroismus fremd, ebenso wie ihr der Opportunismus angesichts der gegenwärtigen Situation und der Verzicht auf Ziele fremd ist, die im Augenblick utopisch erscheinen. Die Linke ist ein Akt des Protestes gegen die bestehende Welt, aber sie ist keine Sehnsucht nach dem Nichts. Die Linke ist eine Sprengstoffladung, welche die Verhärtung des sozialen Lebens aufbricht, aber sie führt nicht ins Leere.

Leszek Kolakowski, Der Mensch ohne Alternative

Zur Utopie gehört also die "negative Dialektik" beziehungsweise das negative, weil kritische Nachdenken über die Wirklichkeit und Gesellschaft, um eine "positive" Zukunft kreieren zu können. In diesem Sinne würde ich sagen, dass ein Kampf um bestimmte Begriffe zumindest nicht das Ende linker Bestrebungen sein kann: Denn wenn auch das Ziele solcher Einzelkämpfe Gerechtigkeit ist und womöglich diese sogar befördern, ist es doch zugleich als Umsetzbare gern gewählt, da sie Wählerstimmen bewegen können.

Unabhängig davon sollte es aber um grundsätzliche Fragen und Diskussionen gehen, die nicht schon in sich abgeschlossen sind, sondern die gemeinsame Antwort herausfordern, die alle Teile der Gesellschaft mitbedenken.

Artur Becker, geboren 1968 in Bartoszyce (Polen), lebt seit 1985 in Deutschland. Er ist Lyriker, Essayist, Romancier, Publizist und Übersetzer und debütierte 1984 mit Gedichten in der Gazeta Olsztyńska. Seit 1989 schreibt er auf Deutsch. 1997 erschien sein erster Roman "Der Dadajsee", 1998 sein erster Gedichtband "Der Gesang aus dem Zauberbottich". Mittlerweile hat er mehr als 20 Bücher veröffentlicht.

Becker schreibt für die Frankfurter Rundschau, die Neue Zürcher Zeitung und Rzeczpospolita. Becker wurde mit dem Chamisso-Preis (2009) sowie dem Dialog-Preis (2012) ausgezeichnet und hielt 2020 die Dresdner Chamisso-Poetikdozentur "Von der Kraft der Widersprüche", publiziert 2021.