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Der Prozess des Jahrhunderts: Showdown in Venedig

Pulp

Anatomie einer Gesellschaft, Teil 4

Was bisher geschah: Es kommt heraus, dass der Marchese und seine Freunde nicht nur Orgien feiern, sondern auch keine Steuern zahlen. - Prinz Moritz von Hessen gerät in Verdacht, der "Dritte Mann" zu sein. - Der Außenminister tritt zurück. - Gegen Ugo Montagna, Piero Piccioni und Saverio Polito wird Haftbefehl erlassen. - Piccioni präsentiert nach mehreren Anläufen sein Alibi Nr. 5, mit Alida Valli in der Hauptrolle. - Das Establishment schlägt zurück: Giuseppe Sotgiu, Verteidiger von Silvano Muto und Galionsfigur der Kommunisten, wird seinerseits in einen Sexskandal verwickelt. - Piccioni und Montagna kommen frei. - Tazio Secchiaroli wird zum bekanntesten Paparazzo von Rom. - Die Montesis lassen sich davon abbringen, in einem Film mitzuspielen, der Marchese tut nur so, als ob er einen produzieren wollte und der Schwarze Schwan dreht tatsächlich einen, den aber keiner sehen will (oder kann) …

Teil 3 [1]: Besser als Agatha Christie und Edgar Wallace: The plot thickens

Bleiben wir noch einen Moment beim Film. Wie sollte man die Montesi-Affäre auf die Leinwand bringen? Alberto Lattuada und Mike Hodges geben die Antwort: als gallige Komödie. Lattuada wirft mit La spiaggia (Der Strand) einen bitterbösen Blick auf eine Elite, die dem eigenen Vorteil und dem Geld die Moral unterordnet. Der Film mit einer nackt im Meer badenden Existentialistin kam auf dem Höhepunkt der Montesi-Affäre in die italienischen Kinos und löste einen Skandal aus. Die schöne Prostituierte Anna Maria macht mit ihrer kleinen Tochter Urlaub an der ligurischen Küste, wo sie von einer heuchlerischen Bourgeoisie begeistert aufgenommen und dann - als durch einen dummen Zufall enttarnte Hure - wie eine Aussätzige behandelt wird, ehe sich alles wieder umdreht, weil die untreuen Ehefrauen und die ins Bordell gehenden Ehemänner ihr Verhalten an dem misanthropischen Millionär ausrichten, dessen Reichtum an diesem Strand den Ton angibt.

La spiaggia

Lattuada wurden moralische Verworfenheit und kommunistische Propaganda vorgeworfen. Die feine Gesellschaft Italiens reagierte mit ungläubigem Staunen darauf, dass ausgerechnet Piero Piccioni, der Sohn des Außenministers, die Musik zu La spiaggia geschrieben hatte (unter seinem Künstlernamen Piero Morgan). Bis dahin hatte man die Reihen fest geschlossen gehalten. Jetzt wussten die konservativen Meinungsmacher nicht mehr genau, ob sie Piccioni jun. gegen Vorwürfe in der Montesi-Affäre in Schutz nehmen oder ihn wegen seiner Mitwirkung an Lattuadas Film attackieren sollten.

Fast zwanzig Jahre später, Anfang der 1970er, erinnerte sich Mike Hodges an die Affäre, als er über Erfolge der Neofaschisten bei italienischen Regionalwahlen las. Das inspirierte ihn zu einem seiner besten Filme, Pulp. Gedreht wurde auf Malta, weil an jedem der vorab ausgesuchten Schauplätze in Italien mit der örtlichen Mafia neu verhandelt werden musste, was auf die Dauer zu enervierend (und zu teuer) war. Michael Caine spielt den früheren Bestattungsunternehmer Mickey King, der jetzt in einem Land am Mittelmeer lebt und Krimis schreibt, oder - genauer - diktiert, woraus Hodges einen der witzigsten Filmanfänge der 1970er macht.

Pulp

King erhält den Auftrag, als Ghostwriter die Memoiren des mit der Mafia verbandelten Gangsterdarstellers Preston Gilbert (Mickey Rooney als Mussolini-Verschnitt) zu verfassen. Das ruft einen als Priester getarnten Killer auf den Plan, der das Erscheinen der Autobiographie verhindern soll. Luciano Pigozzi, der "italienische Peter Lorre", tritt als Hellseher auf; Robert Sacchi, der Doppelgänger von Humphrey Bogart, mimt einen CIA-Agenten; und Leopoldo Trieste, als Ivan Cavalli in Fellinis Der weiße Scheich noch selbst Leidtragender der durch die Trivialliteratur in die Welt gesetzten Phantasien, gibt Kings mit einer Blasenschwäche geschlagenen Verleger. Die Spur führt zum Politiker Prinz Cippola (die Hitler- bzw. Mussolini-Figur in Thomas Manns "Mario und der Zauberer" heißt Cipolla) und zurück in die Vergangenheit, zum Grab einer tot aufgefundenen jungen Frau am Strand. Dieses Grab ist das emotionale Zentrum der Geschichte. Am Ende sorgt die CIA dafür, dass alles vertuscht wird, während Cippola und seine Freunde Jagd auf ein Wildschwein machen wie Montagna und seine Freunde in Capocotta. Pulp ist halb Farce und halb Tragödie. Damit trifft Hodges genau den richtigen Ton für einen Film über die Montesi-Affäre. Wenden wir uns zunächst wieder der Farce zu.

Pulp

Wilma, Wanda oder doch die Rote Gianna?

Viel Arbeit haben die Advokaten. Anna Maria Caglio strengt mehr als ein Dutzend Zivilklagen an und wird ihrerseits - nur eine Auswahl - von Montagna, Piccioni, Ex-Polizeipräsident Polito und Graf Francesco di Campello verklagt. Letzterer hat eine Villa in der Nähe von Capocotta und nimmt Anstoß daran, dass die Handlungsreisende der Wahrheit Muto erzählt hat, dass ihr der Marchese erzählt hat, dass die Gräfin di Campello eine dumme Gans ist, mit der er mal geschlafen hat. Polito wird von Rachele Mussolini verklagt, der Witwe des Duce. 1942, nach der Absetzung und Verbannung Mussolinis, hat er das Ehepaar auf die Insel La Maddalena eskortiert und sich Rachele dabei, sagt sie, mit offener Hose genähert. Polito klagt gegen die Republik, die ihm die Pension streichen will, die er dafür erhält, dass 1943 bei einem Autounfall sein Verstand aus dem Gleichgewicht geraten ist. Der Unfall soll außerhalb der Dienstzeit stattgefunden haben; das Problem mit der mentalen Balance wird nicht bestritten. Leone Piccioni schreibt in einem Artikel, dass Augusto Torresin das Telefonat seines Bruders Piero mit Alida Valli erfunden hat und wird von diesem genauso verklagt wie die Epoca, die den Artikel abgedruckt hat. Leone seinerseits verklagt den Hellseher Del Duca, weil der geschrieben hat, dass Piero Wilma vergewaltigen wollte, worauf diese gestorben sei, und Del Duca verklagt eine Zeitung, die ihn einen Scharlatan nennt.

Die Montesis verklagen mehrere Zeitungen, die behaupten, dass die Regierung etwas vertuschen wollte (das würde bedeuten, dass Wilma an Orgien teilgenommen hat) sowie den Autor Indro Montanelli und seinen Verleger Leo Longanesi. Montanelli hat das Buch Addio, Wanda! geschrieben. Untertitel: "Kinsey-Report über die Situation in Italien". Auf Einladung der amerikanischen Botschafterin Clare Booth Luce stattet der berühmte Sexualforscher Italien einen (fiktiven) Besuch ab. Er soll die Ursachen für die sexuelle Lethargie der Italiener ergründen und Vorschläge machen, wie das Land seine moralischen, ökonomischen und politischen Probleme überwinden könnte, um dann schnurstracks der NATO beizutreten, was für die USA aus geostrategischen Gründen sehr wichtig wäre. Am Schluss beschwört Kinsey die Botschafterin: "Im Namen des Atlantischen Paktes, wählen Sie! Das Italien mit bleichem Antlitz oder das Italien mit gesunder Gesichtsfarbe? Das Italien von Wanda, oder das Italien von Wilma Montesi?" In Italien, so Kinsey, "gibt es das Laster. Es gibt Capocotta. Es gibt Mädchen, die an den Stränden sterben. Jungfrauen, jawohl, aber nur auf einer Seite." "Eine Seite" ist wörtlich zu nehmen. Wilma war Jungfrau, als sie starb. Da sind sich die Experten einig. Weil aber viele von Orgien in Capocotta und einem Sexualverbrechen ausgehen, widmen sich die Zeitungen - meist durch die Blume und doch so, dass es allgemein verständlich ist - auch dem Liebesleben der jungen Italienerinnen. Da erfährt der geneigte Leser von Anal- und Oralverkehr und von anderen Möglichkeiten der lustvollen Betätigung, bei denen das Hymen intakt bleibt. Wer oder was aufgeklärt wird, weiß man bei Kriminalfällen immer erst am Schluss.

Adriana Bisaccia, neben Caglio die zweite "Tochter des Jahrhunderts", will sich nicht mehr äußern, wird als Verkäuferin in einem Laden in Rom gesichtet und dann als Vertreterin einer Parfümfirma auf Sizilien. Ihr Schweigen ist zu verschmerzen, weil sich andauernd Verrückte, Selbstdarsteller und Exhibitionisten melden, um der Öffentlichkeit etwas mitzuteilen. Berichtet wird über alles. Ein Tänzer, der sich Rudolf Valentino nennt, ist - sagt er - mit Wilma auf einem Floß hinaus aufs Meer gefahren, wo sie ins Wasser sprang und ertrank, weil sie vergessen hatte, dass sie nicht schwimmen konnte. Rudy verbringt einen Tag im Knast und geht dann in den Petersdom, wo er sich aus Enttäuschung darüber, dass man ihm nicht glauben will, die Pulsadern aufschneidet. Üblicherweise wird ein Gotteshaus, in dem Blut vergossen wurde, geschlossen und neu geweiht. Aber von Leuten wie Rudy (er überlebt) hat die katholische Kirche so die Nase voll, dass sie tut, als wäre nichts gewesen.

Auch mit den eigenen Leuten hat es der Vatikan nicht leicht. Dr. Sepe erhält einen Brief, der mit "Gianna la Rossa" unterzeichnet ist. Die Rote Gianna schreibt, dass sie alles über den Tod von Wilma Montesi weiß und einen weiteren Brief bei einem Dorfpfarrer in der Provinz Parma deponiert hat. Der Priester ist schnell gefunden. Don Tonino Onnis berichtet Sepe, dass am 16. Mai 1953 eine große, schöne, etwa 30-jährige Frau mit roten Haaren zu ihm in die Sakristei kam, ihn um eine Schreibmaschine bat, den fraglichen Brief in die Maschine tippte und ihm ein versiegeltes Kuvert übergab. Nachdem Don Onnis’ Bischof den Umschlag geöffnet, das darin enthaltene Dokument studiert und festgestellt hat, dass das Beichtgeheimnis nicht berührt ist, wird es Sepe übergeben. "Wenn diese Zeilen gelesen werden", schreibt die Rote Gianna, "werde ich tot sein. Ich will, dass man weiß, dass ich keines natürlichen Todes gestorben bin, sondern dass ich von Marchese Montagna und Piero Piccioni umgebracht wurde."

Don Tonino Onnis

Sie sei in einen Strudel des Lasters geraten, fürchte täglich um ihr Leben und habe erfahren müssen, dass Menschen wie sie oder Wilma gegen das Geld und den Einfluss von Montagna und Piccioni nichts ausrichten können und beseitigt werden, wenn sie nicht mehr nützlich sind. Um anderen jungen Mädchen dieses Schicksal zu ersparen, werde sie versuchen, ein Drogengeschäft anzubahnen und Montagna und Piccioni bei der Übergabe des Rauschgifts verhaften zu lassen. Soweit der Brief. Die landesweite Suche nach der mysteriösen Rothaarigen bleibt erfolglos. Sie lässt ein letztes Mal von sich hören, als der Bischof den jungen Dorfpfarrer auffordert, seine Nerven zu beruhigen und darauf einen Drohbrief von ihr bekommt. Nicht nur der Bischof glaubt, dass Don Onnis und die Rote Gianna ein und dieselbe Person sind.

Andererseits ist Rom in den 1950ern tatsächlich ein Zentrum des internationalen Drogenhandels, und Parma ist ein Hauptumschlagplatz in Norditalien. Falls Don Onnis die Rote Gianna erfunden hat, könnte ihn ein echter Fall inspiriert haben. Die rothaarige Corinna Versolatto war Garderobendame im Piccolo Slam, bis der berüchtigte römische Nachtclub 1952 von der Polizei geschlossen wurde, unter anderem wegen Drogenhandel. Dort verkehrten Filmstars und so gut wie alle Hauptfiguren der Montesi-Affäre. Corinna ging 1952 zurück in ihre Heimatstadt Triest, arbeitete für die Militärregierung (Triest stand bis 1954 unter internationaler Verwaltung) und hatte Kontakte zu einem Drogenring. Als sie an einer Überdosis starb, wurde viel darüber spekuliert, ob sie als Polizeispitzel eingeschleust worden und aufgeflogen war oder ob sie umgekehrt die Regierung für die Drogendealer ausspioniert hatte. Unter den vielen Telefonnummern in ihrem Adressbuch wurden auch die von Montagna und Piccioni gefunden.

Fest steht, dass sich der Rauschgifthandel unter dem Einfluss der Mafia zu einem Geschäft mit enormen Gewinnen entwickelt hatte, begleitet von einer bis dahin nicht gekannten Brutalität. Der aus den USA deportierte, bis kurz vor Wilma Montesis Tod im zwanzig Kilometer von Torvaianica entfernten Tor San Lorenzo residierende Frank Coppola gilt als Schlüsselfigur beim Einstieg der Mafia im Immobiliensektor, wo Drogengeld gewaschen wurde. Es ist schwer vorstellbar, dass Montagna bei seinen Transaktionen nicht mit der Mafia in Berührung kam. Ein abgelegenes, durch ein bewachtes Tor gesichertes Jagdrevier in Küstennähe wie Capocotta war eigentlich ideal für den Rauschgiftschmuggel und für andere Geschäfte, die das Licht der Öffentlichkeit scheuen mussten. Zwei Monate nach Beginn seiner Untersuchungen beschloss Dr. Sepe, die Rauschgiftspur nicht weiter zu verfolgen. Wie bei so vielem im Fall Montesi kann man über die Gründe nur spekulieren. Hielt er die Hinweise in dieser Richtung für unerheblich? Bei Ermittlungen, wo er sich mit jeder noch so abstrusen Aussage intensiv beschäftigte? War er an einen toten Punkt gekommen? Wollte sich der sonst so unerschrockene Sepe nicht mit mächtigen Leuten anlegen, die auch dann ein Interesse daran haben mussten, dass die Verbindung zwischen Rauschgift, Mafia, pharmazeutischer Industrie, Politik, Verwaltung und Immobilienbranche nicht zu hell beleuchtet wurde, wenn Wilma Montesi nie etwas mit ihren Geschäften zu tun gehabt haben sollte? Man weiß es nicht.

Wo ist die Gerechtigkeit?

Im Frühjahr 1955 erklärt Amintore Fanfani, jetzt Generalsekretär, die Umstrukturierung der Democrazia Cristiana für abgeschlossen. Nach der Parteireform, sagt er, könne er sich wieder mehr der Politik widmen. Fanfani sitzt fest im Sattel. Seine Gruppe Iniziativa Democratica arbeitet mit anderen DC-internen Gruppierungen wie der Concentrazione zusammen, der Vertreter des rechten wie des linken Flügels angehören. Am 21. Juni teilt Fanfani Ministerpräsident Scelba mit, dass ihn das Exekutivkomitee der Partei leider nicht mehr unterstützen kann. Am Tag darauf tritt Scelba zurück. Er habe sein Amt nicht durch das Wählervotum verloren, sagt er, sondern durch Intrigen und persönliche Rivalitäten in der DC. Als Strippenzieher im Hintergrund macht der Corriere della Sera Pater Messineo aus, den Chefredakteur der Jesuitenzeitung Civiltà Cattolica. Einige Kommentatoren erinnern daran, dass es zwei für die Civiltà schreibende Patres waren, die Anna Maria Caglio den Termin beim damaligen Innenminister Fanfani besorgt haben.

Nach den Machtkämpfen der vergangenen Jahre sehnt sich die Partei nach Ruhe und innerer Geschlossenheit. Davon profitiert auch der Ex-Außenminister Attilio Piccioni, Fanfanis ehemaliger Rivale, der in die Politik zurückkehrt und seine Karriere in einer Reihe von hohen Ämtern ausklingen lassen darf. In Hintergrundgesprächen wird Scelbas Ablösung als letzter Schritt zur - auch moralischen - Erneuerung der Partei verkauft. Sei es, dass es sich wieder um einen dieser Zufälle handelt, sei es, dass nach der Versöhnung der Lager (mit Scelba als Sündenbock) und der inneren Konsolidierung der DC durch neue Enthüllungen keiner mehr etwas zu gewinnen hat, es aber viel zu verlieren gibt: aus der Montesi-Affäre ist damit die Luft raus. Man weiß es nur noch nicht, als Raffaele Sepe seine seit 16 Monaten andauernden Untersuchungen am 20. Juli 1955 für beendet erklärt.

Dr. Sepe legt der italienischen Öffentlichkeit ein Dokument mit 400 Seiten vor, in denen er zu dem Ergebnis gelangt, dass die Fußbad-Theorie Unsinn ist. Wilma wurde ohnmächtig, vermutlich unter Drogeneinfluss, sexuelle Akte sind trotz ihrer vaginalen Jungfräulichkeit nicht auszuschließen, also sollte sie vielleicht doch vergewaltigt werden. Die Ohnmächtige wurde zum Strand von Torvaianica gebracht und dort abgelegt, wo sie ertrank. Weil es keinen Beweis für eine Mordabsicht gibt, soll die Anklage auf Totschlag lauten. Der Täter, glaubt Sepe, war Piero Piccioni. Montagna hat Beihilfe geleistet. Polito, der Polizeipräsident von Rom, hat beim Vertuschen geholfen. Sepes Dokument nötigt sogar dem kommunistischen Paese Sera Bewunderung ab: "Hier ist der Beweis dafür, dass sich unser Land in Ordnung bringen und die Wunden von zwanzig Jahren Diktatur mit den Mitteln heilen kann, die es bereits besitzt."

Piccioni, Polito und Montagna während des Prozesses

Dann geht wieder Zeit ins Land. Viel Zeit. Seit dem Tod Wilma Montesis sind fast vier Jahre verstrichen, als am 20. Januar 1957 der "Prozess des Jahrhunderts" gegen Piccioni, Montagna und Polito beginnt. Auf Beschluss des Kassationsgerichts wird in Venedig verhandelt, weil das einer der verschlafensten Flecken von Italien ist und in Rom Ausschreitungen befürchtet werden. Angelo Roncalli, der katholische Patriarch von Venedig, hat vergeblich versucht, das Spektakel mit allerlei dubiosen Halbweltfiguren von seiner Stadt fernzuhalten. Seit der Präsentation von Sepes Dokument hat sich die Berichterstattung verändert. Es gibt weiter Artikel in parteipolitisch gebundenen Blättern, aber es dominieren jetzt die zu großen Medienkonglomeraten mit Sitz in Mailand gehörenden, wöchentlich erscheinenden Illustrierten. Sie präsentieren den Fall als einen jener Photoromane, die Wanda in Fellinis Der weiße Scheich so liebt - mit sich selbst spielenden Akteuren, die es jederzeit mit Fernando Rivoli aufnehmen könnten und mit vielen erfundenen Geschichten. Die Darstellung komplexer politischer Zusammenhänge würde der Auflage schaden, mit einem Aufzeigen von Verbindungen zwischen Wirtschaft und organisiertem Verbrechen würde man die Anzeigenkunden verärgern. Aus der Montesi-Affäre ist die Vorläuferin der heutigen Telenovelas geworden.

Silvano Muto hat sein Magazin Attualità eingestellt. "Wo genau ist die Gerechtigkeit?" fragt er frustriert. "Ich habe versucht, den angelsächsischen Journalismus in Italien einzuführen. Dabei habe ich viele unangenehme Fakten über wichtige Persönlichkeiten entdeckt, und im Gegensatz zum normalen italienischen Reporter habe ich diese Tatsachen veröffentlicht; jetzt habe ich viele Feinde. […] die Schreiberlinge, die sich hier Journalisten nennen, werden mich nie bei einer ihrer Zeitungen oder einem ihrer Magazine mitarbeiten lassen. In Italien habe ich keine Zukunft. Meine Hoffnung ist, auswandern und für eine Zeitung in England oder den Vereinigten Staaten arbeiten zu können. Dann kann ich ein echter Journalist sein." Das klingt wehleidig. Ganz unrecht hat Muto aber nicht. Trotz vereinzelter Publikationen in Buch- oder Broschürenform wird es bis ins nächste Jahrtausend dauern, ehe sich italienische Autoren fundiert mit der Affäre beschäftigen. Die Briten sind da viel schneller. 1957 erscheinen The Montesi Scandal von Wayland Young und All Rome Trembled von Melton S. Davis.

Die mediale Auseinandersetzung mit der Montesi-Affäre in Italien ist - wie manche Haupt- oder Nebenfigur der Geschichte auch - ein Produkt der faschistischen Diktatur. Nach Jahrzehnten, in denen nichts berichtet werden durfte, was den Mächtigen peinlich war, brechen mit der toten Schreinerstochter am Strand von Torvaianica alle Dämme. Der Furor, mit dem nun nachgeholt wird, was so lange verboten war, hat die Funktion eines reinigenden Gewitters und legt ein Fundament, auf dem eine nachfolgende Generation von Journalisten aufbauen kann, endet aber zunächst als Strohfeuer. Das Einüben der Regeln einer kritischen Berichterstattung und der journalistischen Sorgfaltspflicht braucht Zeit. Bei der Montesi-Affäre wird viel ausprobiert. Das kann erklären, warum sich auch seriöse Blätter so schwer damit tun, zwischen harter Nachricht, Gerücht und gezielt gestreuter Falschinformation zu unterscheiden. Aber warum ist das bei den Vertretern der Justiz genauso?

Affentheater mit ein wenig Glamour

Mit einer Ausnahme (Adriana Bisaccia reagiert nicht auf die Vorladung) marschieren in Venedig so gut wie alle auf, die Dr. Sepe bei Hunderten von Vernehmungen befragt hat: die Angeklagten, die Angestellten von Capocotta, die Zauberer und die Selbstdarsteller, die Verrückten und die Jesuiten, Piccionis Ärzte und Wilmas Angehörige. Leute, die schon früher gelogen haben, streiten jetzt ab, was in Sepes Protokollen steht, geben widerwillig die alten Lügen zu oder erfinden neue. Einige der Zeugen werden noch im Gericht wegen Meineids festgenommen, im Schnellverfahren zu Haftstrafen verurteilt und früher oder später begnadigt, weil sie widerrufen haben. Michele Simola, ein junger Sizilianer, hat Sepe berichtet, dass Wilma reiche Römer mit Drogenpaketen belieferte, sitzt seither wegen Irreführung der Behörden hinter Gittern und wird in Handschellen vorgeführt, um sich vom Gericht sagen zu lassen, dass er ein dreister Lügner ist. Natalino Del Duca, der Autor von Documenta Zeta, sieht seine Glaubwürdigkeit zerstört, weil herauskommt, dass ihm die Welt die Enthüllungen über Hitler mit Vollbart am Nordpol verdankt. In der Urteilsbegründung des Gerichts wird das viel Platz einnehmen, was man auch nicht recht versteht.

Einmal fährt das Gericht nach Rom, zur Rekonstruktion des möglichen Tathergangs. Am Strand von Torvaianica wird eigentlich nur festgestellt, dass da jetzt viel mehr los ist als 1953, weil eine wichtige Verbindungsstraße für den Verkehr freigegeben wurde. Bei der Ortsbesichtigung in Capocotta bleibt die Frage offen, ob ein Gebäude abgerissen wurde, in dem die Orgien stattgefunden haben könnten oder ob das Gebäude nie existierte. Ein andermal, in Venedig, sitzt der aus Turin angereiste Signore Ceppi vor dem Richter. Niemand weiß, warum er vorgeladen wurde. Schließlich findet man heraus, dass er von Politos Verteidigern als Entlastungszeuge benannt wurde. Also fragt ihn der Richter, ob er Polito kennt. Signore Ceppi sagt aus, dass ihn Polito nach der Befreiung durch die Alliierten verhaften ließ. Nach mehreren Monaten im Gefängnis wurde er entlassen, weil niemals Anklage erhoben oder auch nur das Verbrechen benannt wurde, das er begangen haben sollte. Das wird protokolliert, dann darf der Zeuge nach Hause fahren.

Hier kann man wieder spekulieren. War es ein folgenschwerer, nicht mehr korrigierbarer Fehler, die ganze Angelegenheit in einem Aufwasch erledigen zu wollen, statt die diversen Nebenklagen vom Hauptverfahren abzutrennen (bei einigen der etwa dreißig Advokaten, die für die Angeklagten und die Nebenkläger im engen Gerichtssaal sitzen, weiß man bis zum Schluss nicht so genau, wen sie repräsentieren)? Kam die endlos lange Zeugenliste dadurch zustande, dass sich die Behörden nicht dem Vorwurf aussetzen wollten, dass etwas vertuscht werden sollte? Ist das im Lauf des Prozesses größer und nicht kleiner werdende Durcheinander den Mysterien des italienischen Rechts geschuldet? Oder gibt es geheime Regieanweisungen im Hintergrund, um aus dem "Prozess des Jahrhunderts" ein Affentheater zu machen, das irgendwann keiner mehr sehen will? Falls Ja, ist es gelungen.

Für etwas Glamour sorgt Alida Valli. Sie hat sich vorübergehend ins Privatleben zurückgezogen und überlegt, die Filmkarriere ganz aufzugeben, bis sie von Luchino Visconti eine neue Chance erhielt. In Senso (1954) hat sie die ursprünglich Ingrid Bergman zugedachte Hauptrolle übernommen. Der Film spielt um das Jahr 1866, zur Zeit des Risorgimento, im von den Österreichern besetzten Venedig und erzählt von einer tragisch endenden Mesalliance. Als verheiratete Contessa Livia Serpieri verliebt sich Valli in den liederlichen Leutnant Franz Mahler (Farley Granger), der mit anderen Frauen schläft, unter seltsamen Stimmungsschwankungen leidet, mal nicht ohne die Contessa leben will und sie mal von sich stößt. Der Film ist auch ein Kommentar zu Vallis Affäre mit Piero Piccioni. Man hat den Eindruck, als spiele sie sich eine Last von der Seele. Wenn man sich Piccioni an die Stelle von Leutnant Franz denkt, wird aus der von Visconti als große Oper inszenierten Geschichte ein intimes Kammerspiel.

Senso

In der Wirklichkeit endet die Liebesbeziehung anders als im Film. Valli wirkt nicht glücklich über das, was sie mit Piccioni erlebt hat, bleibt aber bei ihrer Aussage. In der Nacht des 29. April 1953 war Piccioni nicht, wie von Caglio behauptet, mit Montagna im Innenministerium, um einen Plan zur Vertuschung der wahren Umstände von Wilma Montesis Tod zu schmieden, sondern bei ihr, Alida Valli, zuhause. Am 8. April war sie mit Piero auf der Party in Carlo Pontis Villa in Amalfi. Was sie sich dabei dachte, als ihr Liebhaber am Morgen des 9. April, dem Tag von Wilmas Verschwinden, Hals über Kopf abreiste und im Auto nach Rom raste, erfährt man nicht. Jemand wird später durchzählen und herausfinden, dass Alida Valli über hundertmal "Non ricordo" gesagt hat - "Ich erinnere mich nicht." Andere erinnern sich umso besser, sogar an kleinste Details. Mit Hilfe der Ärzte, die sich um Piccioni und seine Mandelentzündung gekümmert haben, gelingt es der Verteidigung, ein praktisch lückenloses Alibi des Angeklagten nachzuweisen - zu lückenlos und zu perfekt, finden einige Skeptiker, gestützt von zu vielen Koryphäen, die scheinbar nichts Wichtigeres zu tun hatten, als Piccionis Mandeln zu begutachten und dem Patienten strikte Bettruhe zu verordnen.

Familie mit Geheimnissen

Anna Maria Caglio, Schwarzer Schwan und Tochter des Jahrhunderts, trägt das Haar jetzt kürzer als 1954. Sie ist schlanker, wirkt zunächst reifer und damenhafter. Bei ihrem ersten Auftritt in Venedig hat sie blond gefärbte Haare, die bis zu einer späteren Zeugenaussage leuchtend rot geworden sind, falls das Rot nicht der Phantasie eines Prozessbeobachters entsprungen ist, von dem etliche Chronisten abgeschrieben haben. Caglio ist weniger bestimmt, fahriger, nicht mehr so überzeugend wie früher, oder zumindest berichten das die Korrespondenten. Die Präzision, mit der sie beim Muto-Prozess aussagte, ist verflogen. Vielleicht hat sie sich zu sehr auf ihr Gedächtnis verlassen (vier Jahre nach der Tat) und es versäumt, sich so gut vorzubereiten wie Piccionis Alibi- und Entlastungszeugen. Vielleicht hat die junge Frau die früher zur Schau gestellte Selbstsicherheit verloren, weil ihr inzwischen klar geworden ist, was für eine Lawine sie da losgetreten hat. Und vielleicht hat sie tatsächlich aus ein paar Fakten und vielen Erfindungen eine wüste Räubergeschichte fabriziert, wie ihr die Anwälte von Piccioni und Montagna vorwerfen.

In jedem Fall wird sie das Opfer einer Dramaturgie, die man miserabel nennen müsste, wenn das ein Film und nicht die Wirklichkeit wäre. Kein Regisseur würde die wichtigste Belastungszeugin irgendwo zwischen Okkultisten, durchgeknallten Pfarrern und Torwächtern von Capocotta auftreten lassen, deren Akzent keiner versteht. Des Glanzes ihrer früheren Darbietungen beraubt wird nun offenbar, dass ihre Einlassungen - mit Ausnahme des Treffens im Innenministerium, und da hat Piccioni in Alida Valli eine Alibizeugin - auf Hörensagen und Deduktionen beruhen. Beim Muto-Prozess spielte das keine Rolle, jetzt aber schon. Nur: Ist die ganze Geschichte deshalb auch erfunden? Der Venedig-Prozess insgesamt leidet unter den Schwächen in der Dramaturgie. Zeuge um Zeuge sagt aus, was seit Sepes Untersuchung bekannt ist und immer wieder breitgetreten wurde. Das langweilt das Publikum.

Neues gibt es erst im April, als plötzlich Wilmas Hinterbliebene im Mittelpunkt des Interesses stehen, nicht mehr die Angeklagten. Sepe hat viel Banales und wenig Sympathisches über die Montesis herausgefunden, die er im Verdacht hat, etwas zu verbergen. In seinem Auftrag wurden Telefonate abgehört, in denen Maria Montesi mit Journalisten über Honorare feilscht und sie drängt, mit ihrem Namen gezeichnete Artikel aufzupeppen. Und dann ist da noch Onkel Giuseppe. Sepe hat ohne Aufforderung einen Polizeibericht erhalten, in dem geraunt wird, dass Giuseppe Montesi in Wilmas Tod verwickelt sein könnte. Dem hat er keinen Glauben geschenkt. Aber für die Verteidiger ist Onkel Giuseppe ein willkommenes Geschenk.

Giuseppe Montesi ist Angestellter im Finanzministerium. Im Nebenjob erledigt er die Buchhaltung einer Druckerei. Sein Alibi bisher: Am 9. April 1953 war er lange in der Druckerei, weil die Lohngelder fällig waren. Den Rest des Abends hat er mit seiner Verlobten Mariella Spissu und einigen ihrer Verwandten verbracht. Allerdings hat Giuseppe 1955 ein paar seiner Arbeitskollegen wegen übler Nachrede verklagt. Diese haben der Polizei und Journalisten gegenüber unter etwas merkwürdigen Umständen behauptet (die Erinnerung kam spät, und der Besitzer der Druckerei kennt Piero Piccioni gut), dass er das Gelände bereits um 5 Uhr verlassen hat, mit seinem Auto und nach dem Anruf einer Frau (fünfzehn bis zwanzig Minuten später ging Wilma aus dem Haus ihrer Eltern).

Ida Montesi, Giuseppe Montesi und Mariella Spissu

Der unerfahrene, von einem Prozess dieser Größenordnung etwas überforderte Staatsanwalt Cesare Palminteri hat Anlaufschwierigkeiten und wirkt dann plötzlich so, als habe er die Seiten gewechselt. Von Palminteri in die Mangel genommen, gibt Maria Montesi zu, was sie unbedingt verbergen wollte: Giuseppe hat Wilma öfter zu Spritztouren in seinem Auto mitgenommen. Der Altersunterschied zwischen den beiden war gering, Giuseppe gibt sich gern als Casanova. Vielleicht hatte Maria Montesi Angst vor Gerüchten über eine Beziehung zwischen Onkel und Nichte. In der Version der Verteidiger hatten Maria und Wanda Montesi den Onkel von Anfang an in Verdacht, wollten das aber nicht eingestehen, um Schande von der Familie abzuwenden. Und Giuseppe? Der bricht unter der Last der Verhöre zusammen und ändert sein Alibi. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit erzählt er dem Gericht, wie es wirklich gewesen ist. Eine Stunde später melden die nach Venedig entsandten Reporter ihren Redaktionen, was er gesagt hat.

Ladykiller

Onkel Giuseppe hat am 9. April 1953 seinen Arbeitsplatz tatsächlich um 5 Uhr verlassen wie von den Arbeitskollegen behauptet. Aber er hat sich nicht mit Wilma getroffen, sondern mit Rossana Spissu, der Schwester seiner Verlobten Mariella. Die beiden haben ein Verhältnis, und Rossana ist inzwischen schwanger, wovon Mariella nichts weiß. Am 9. April waren sie in einem Stundenhotel in der Via Appia. Das ist das Liebesnest, mit dem Giuseppe Bekannten gegenüber geprahlt hat. Rossana fasst sich ein Herz und bestätigt sein revidiertes Alibi. Die neue Wendung schlägt ein wie eine Bombe. Weil man schon dabei ist, wird auch noch durchgestochen, dass die Polizei bei einer Durchsuchung von Giuseppes Zimmer in der Wohnung seines Vaters ein Bild von Wilma, die Mitgliedskarte für einen Privatstrand und Damenunterwäsche gefunden hat, Souvenirs von seinen Eroberungen.

Aus den bisherigen Hassobjekten Piero Piccioni und Ugo Montagna wird das Hassobjekt Giuseppe Montesi. Auch der Rest des Montesi-Clans kriegt sein Fett weg, während die in sehr einfachen Verhältnissen lebenden Spissu-Schwestern als Opfer eines gewissenlosen Frauenverderbers gesehen werden. Die spätere Star-Interviewerin Oriana Fallaci beschreibt den Onkel als "einen jungen Mann mit listigen Augen und Stiernacken, der mit einer Eleganz lebt und sich kleidet, die dem sonntäglichen Glanz eines Jungen ähnelt, der in Trastevere an irgendeiner Ecke steht". In der Presse wird missbilligend vermerkt, dass Onkel Giuseppe gebrauchte Anzüge wegwirft, statt sie aufzutragen und dass er nicht das billigste Fiat-Modell fährt, sondern eines aus der oberen Preisklasse, den Fiat Topolino. Woher, wollen die Kommentatoren wissen, hat er das Geld dafür? "Giuseppe", resümiert Stephen Gundle, "war ein Beispiel wie aus dem Bilderbuch für die Art, wie dem publizierten Hedonismus der Privilegierten von der unteren Mittelschicht nachgeeifert wurde. Jeder wollte seinen Anteil am süßen Leben und ganz besonders Leute mit einem geschärften Bewusstsein für Statusfragen."

Der Eindruck drängt sich auf, dass da einer für etwas geprügelt wird, was viele wollen, sich aber nicht zuzugeben trauen. Der Blick hinter die Fassade der Montesis gibt etwas preis, das man so oder so ähnlich auch in anderen Familien finden könnte. Weil das nicht sein darf, werden sie mit Verachtung gestraft, als wären sie ein Sonderfall. Während das Gericht seine Exkursion nach Torvaianica und Capocotta absolviert, erscheint in der Wochenzeitung L’Espresso ein zweiter offener Brief von Fabrizio Menghini, dem Medienberater der Montesis, an Giuseppe. In den vier Jahren, in denen er sich nun mit dem Fall beschäftigt, schreibt der Journalist, sei er zu der Überzeugung gelangt, dass der Onkel schuldig sei. Auch sein zweites Alibi sei falsch. Er solle gestehen, dass er Wilma am 9. April im Auto zum Strand von Ostia gebracht habe. Was dort geschehen sei, wisse er allein. Ostia gehört eigentlich zur widerlegten Fußbad-Theorie. Vielleicht ist Menghini im Eifer des Gefechts ein Fehler unterlaufen.

Zur Stützung von Menghinis These, denn mehr ist es nicht, bringt sein Kollege Luciano Doddoli neue Zeuginnen an. Signor und Signora Piastra, Bekannte von Rossana Spittu, sagen aus, dass sie mit dieser am 9. April gegen 6 oder 7 Uhr am Bahnhof Termini waren, um gemeinsam Signora Piastras Mutter zu verabschieden. Rossana wird wieder vorgeladen und beharrt darauf, dass sie zu der Zeit mit Giuseppe in dem Stundenhotel in der Via Appia war. Allerdings gibt sie zu, dass sie Giuseppe nicht aus Wahrheitsliebe das Alibi gegeben hat, sondern von ihm zur Aussage gezwungen wurde. In Italien hat ein uneheliches Kind, das der Vater nicht anerkennt, kaum Chancen. Giuseppe hat der von ihm schwangeren Rossana versprochen, dem Kind seinen Namen zu geben - im Austausch für das Alibi. Ob sie deshalb auch gelogen hat, oder ob die neuen Zeugen lügen, oder ob sie sich falsch erinnern, bleibt ungeklärt. Die Piastras legen ein von der Mutter der Signora benütztes Fahrscheinheft vor, das beweist, dass sie am 9. April 1953 tatsächlich in der Stazione Termini den Zug genommen hat. Das sagt zwar gar nichts darüber aus, ob Rossana am Bahnsteig war oder nicht, ist aber etwas Handgreifliches und angesichts der vielen Lügen und Halbwahrheiten in diesem Prozess sehr wirkungsvoll.

Hormontopf

Dann haben alle genug von der Montesi-Affäre. Der "Prozess des Jahrhunderts" wird in dem Gefühl beendet, dass er endlos weitergehen könnte und man deshalb lieber Schluss machen sollte. Also rasch die Plädoyers. Einer von Piccionis Verteidigern greift die Jesuiten an, die schuld daran seien, dass Anna Maria Caglio je Glauben geschenkt wurde. Einer der Verteidiger des Marchese zeichnet das Bild eines Märtyrers, der um ein Haar den Ränken einer eifersüchtigen Furie zum Opfer gefallen wäre und malt ihn grellen Farben aus, wie Montagna vor ihm auf die Knie gegangen ist und seine Unschuld beteuert hat. Der alte und gebrechliche Polito ist so überwältigt von den tollen Dingen, die sein Anwalt über ihn zu sagen hat, dass er aus dem Saal geführt werden muss. Aber den Vogel schießt Staatsanwalt Palminteri ab, der die Angeklagten verteidigt und deren Ankläger attackiert.

Caglios Femininität, meint Gundle, die sich beim Muto-Prozess zu ihren Gunsten auswirkte, ist in Venedig zu ihrem großen Manko geworden. Der Staatsanwalt kann sie nicht leiden, beschimpft sie als heimtückische Person, die Spaß daran habe, andere mit Dreck zu bewerfen. Es sei eine Beleidigung der anderen Italienerinnen, erklärt er, Caglio als "Tochter des Jahrhunderts" zu bezeichnen, denn: "Solche Frauen hat es all die Jahrhunderte hindurch gegeben, Frauen, die sich für Geld hingegeben haben." Einer Person wie dieser, der Geliebten von fast jedem und einem "Hormontopf", könne man nicht glauben. Der erfahrene Sepe freilich hat es getan. Gleich nach dem Ende des Prozesses, in dem ausschließlich Männer über die Aussagen einer jungen Frau verhandelt haben, treten in Italien die ersten Richterinnen ihren Dienst an. Auch das gehört mit zur Geschichte.

Anna Maria Caglio

Interessant ist Palminteris Bewertung der Alibis von Piccioni und Onkel Giuseppe. Beide haben zuerst gelogen. Beide haben für das zuletzt präsentierte Alibi fünf Zeugen. Die von Piccioni sind angesehene Mediziner und Freunde der Familie des früheren Außenministers. Die von Giuseppe Montesi wohnen in Blechhütten in einem Elendsviertel von Rom. Piero nutzt eine Wohnung, die Montagna seinem Vater überlassen hat, als kostenloses Liebesnest. Giuseppe prahlt mit einem solchen Liebesnest, geht aber in ein Stundenhotel oder hat Sex im Auto, weil er für mehr kein Geld hat. Piccioni glaubt der Staatsanwalt, Montesi nicht. Vielleicht ist Palminteri überzeugt davon, dass den Angeklagten schweres Unrecht widerfahren ist, will das revidieren und tut dabei des Guten zuviel. Jedenfalls glättet er nach Kräften die Widersprüche, Ausflüchte und Lügen in den Aussagen der Angeklagten, als sei er ihr Verteidiger.

An dem Tag, an dem Palminteri auf Freispruch plädiert, tritt wieder einmal ein Ministerpräsident zurück. In Antonio Segnis Regierungszeit, am 25. März 1957, wurden die Römischen Verträge unterzeichnet, wurde das Fundament für Euro und EU gelegt. Viele haben das gar nicht mitbekommen, weil der Prozess in Venedig die Schlagzeilen beherrschte. Die Regierungen gehen, sagen Spötter, aber die Montesi-Affäre bleibt. Am 28. Mai 1957 zieht sich das Gericht zur Beratung zurück. Nach siebeneinhalb Stunden gibt es ein Urteil. Das Gericht ist überzeugt davon, dass Wilma Montesi Opfer eines Verbrechens geworden ist. Piccioni kann es aber nicht gewesen sein, weil er ein Alibi hat. Ohne ihn als Täter keine Beihilfe durch Montagna und keine Vertuschung durch Polito. Also Freispruch auch für diese - genauso wie für die drei Torwächter von Capocotta, die Sepes Überzeugung nach gelogen haben, um den Marchese, ihren Arbeitgeber, zu decken. Verurteilt wird nur Adriana Bisaccia, die in Venedig nie erschienen ist. Sie wird zu zehn Monaten auf Bewährung verdonnert, weil sie Sepe unter Eid von durch Piccioni erzwungenen Abtreibungen und von zwei Kokainhändlern erzählt hat, die sie in eine Wohnung gesperrt und krankenhausreif geschlagen haben sollen, weil sie die Polizei informieren wollte.

Alles nichts gewesen, meldet der regierungsfreundliche Messaggero: "keine Orgien, kein Mädchenhandel, keine Bootsladungen voller Prostituierter, kein gar nichts". Die Wut eines Teils der Öffentlichkeit richtet sich gegen die Presse, die aus Sensationsgier einen Skandal aufgebauscht habe, wo keiner war. Ein anderer Teil ist frustriert darüber, dass der Prozess nur eine der vielen Fragen rund um das Schicksal der Wilma Montesi beantwortet hat: sie ist am Strand von Torvaianica und nicht von Ostia ertrunken, es war kein Unfall und kein Suizid, und irgendwer ist schuld an ihrem Tod. Das kommunistische Boulevardblatt Paese Sera entschuldigt sich dafür, dass es wohl etwas zu parteiisch war, gibt aber zu bedenken, dass es Anna Maria Caglio, einer jungen Frau von etwas mehr als zwanzig Jahren, gelungen sein müsste, die Jesuiten, den derzeitigen Generalsekretär der Democrazia Cristiana (Fanfani) und die Carabinieri zu täuschen, wenn der Staatsanwalt mit seiner Auffassung recht haben sollte.

Nachspiel

Täglich wird damit gerechnet, dass Onkel Giuseppe verhaftet wird, weil er schuld am Tod seiner Nichte ist. Aber hinter Gittern landet er wegen etwas ganz anderem. Die Klage gegen seine Arbeitskollegen, die angegeben haben, dass er die Druckerei am 9. April 1953 um 5 Uhr verlassen hat, wird zum Bumerang. Wegen Verleumdung seiner Kollegen und seines Arbeitgebers wird er in Einzelhaft gesteckt. Offenbar soll er unter Druck gesetzt werden, um ihm ein Geständnis abzupressen. Das misslingt. Nach 97 Tagen im Gefängnis wird er auf freien Fuß gesetzt. Das Verfahren gegen ihn läuft weiter. Im Dezember 1960 beginnt der Prozess. Einleitend stellt der Richter klar, dass Giuseppe zweifellos in die Ereignisse verwickelt war, die zum Tod seiner Nichte Wilma geführt haben. Er ist zumindest mitschuldig, soll das heißen, aber weil man das nicht beweisen kann, macht man ihm erst mal den Prozess wegen eines angeblich besonders schweren Falles von Rufmord.

Alles konzentriert sich jetzt auf die Montesis. Wilma, führt der Staatsanwalt aus, war ein krankhaft ehrgeiziges junges Mädchen und fasziniert von Autos, "diesen großen Verlockungen der modernen Zivilisation". Ihr Vater hatte eines, musste es aber verkaufen, weil die Schreinerei schlecht lief. Das hat ihm die Tochter nie verziehen, weiß der Staatsanwalt (woher bleibt sein Geheimnis). So ein Auto hätte sie über ihre Freundinnen und die anderen Mieter in der Via Tagliamento erhoben. Dann kam ihr Onkel, der Verführer, mit seinem Fiat. Und so weiter. Während der Verhandlung stellt sich heraus, dass der Onkel einer Mordanklage entgangen ist, weil die Nichte nach Überzeugung des Gerichts in Venedig nicht am 9., sondern am 10. April gestorben ist. An dem Tag hat er mit seinen Verwandten nach Wilma gesucht. Das steht fest.

Das Fahrscheinheft von Signora Piastras Mutter, das in Venedig Giuseppes Alibi erschütterte und als wichtiges Beweismittel gegen Rossana Spissu gewertet wurde, ist inzwischen verloren gegangen. Trotzdem wird Rossana wegen Meineids zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, weil sie Giuseppes Alibi Nr. 2 bestätigt hat, das nach Meinung der Staatsanwaltschaft erfunden war. Giuseppe erhält ebenfalls zwei Jahre, wegen Verleumdung. Beide müssen die Strafe nie antreten, weil sie in den Genuss einer routinemäßigen Amnestie kommen. Obwohl sich das Gericht ganz sicher war, dass Onkel Giuseppe in Wilmas Tod verstrickt ist, werden keine weiteren Ermittlungen angestellt. Recherchierenden Journalisten wird bedeutet, dass das Sache der Behörden sei. Einmischung unerwünscht. Reporter können immer noch wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung angeklagt werden, es ist nur nicht mehr ganz so einfach wie bei Muto. Das Knebelgesetz Mussolinis wurde entschärft, nicht abgeschafft.

Rossana Spissu

Die von Ugo Montagna gegen Caglio und Muto angestrengte Verleumdungsklage führt zu einem Prozess, der 1964 endlich stattfinden kann, nachdem er vorher viermal verschoben wurde. Inzwischen interessiert das keinen mehr. Die Richter in Rom widersprechen ihren venezianischen Kollegen und verkünden, dass ein Unfall keineswegs auszuschließen, ja sogar wahrscheinlich sei. Damit sind die Behörden wieder bei der längst verworfenen Fußbad-Theorie angelangt, mit der 1953 alles begonnen hat. Muto wird zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, Caglio zu zwei Jahren und sechs Monaten. Beide gehen durch alle Instanzen, können keine Aufhebung der Urteile erreichen, müssen aber auch nie hinter Gitter. Silvano Muto wandert doch nicht aus, findet jahrelang keine Arbeit und wird in den 1980ern in den Stadtrat von Rom gewählt. Im März 2010 wird Anna Maria Caglio - inzwischen verheiratet, geschieden und Mutter einer Tochter, die wie sie selbst Jura studiert hat (Anna Maria durfte wegen ihrer Vorstrafe nicht praktizieren) - ankündigen, noch einmal gegen das Urteil kämpfen zu wollen. Einem Reporter des Corriere della Sera wird sie ein Buch mit einer Widmung zeigen: der Richter, der sie verurteilt hat, hat es dem Marchese geschenkt.

Onkel Giuseppe lässt sich in den Tagen seines Prozesses mit den Spittu-Schwestern und seinem kleinen Sohn Riccardo photographieren. Er hat sich noch nicht entschieden, welche der Schwestern er heiraten will (die Wahl fällt dann doch auf Mariella, die Verlobte, und nicht auf Rossana, die Mutter seines Sohnes). Der Rest der Montesis will nie mehr mit Reportern sprechen. Mit der Strategie, unter allen Umständen den schönen Schein zu wahren und den Ruf der Familie zu schützen, haben sie das genaue Gegenteil erreicht. Als Piero Piccioni 2004 stirbt, wird sein Beitrag zur italienischen Filmmusik zurecht gewürdigt; manch ein Nachrufschreiber reserviert jedoch einen Absatz oder mehr für seine Rolle in der Montesi-Affäre. Alida Valli sagt nach dem Prozess in Venedig, dass sie sich von ihrem Ex-Geliebten benutzt fühlt. Den Makel, dass sie für ihn gelogen haben könnte, um ihm ein Alibi zu geben, wird sie nie mehr ganz los. Auch bei ihr wird an die Affäre erinnert, als sie 2006 stirbt - es ist nur inzwischen einiges durcheinander geraten wie bei der FAZ [2].

Ugo Montagna, der Marchese von San Bartolomeo, verschwindet nach und nach aus der Öffentlichkeit, kehrt zu seinen Geschäften und zu seinem Leben in den oberen Rängen der römischen Gesellschaft zurück. Seine steuerliche Belastung ist erträglich, aber doch deutlich höher als zuvor. Der Bericht von Oberst Pompei, dem zufolge er jahrelang gar keine Steuern zahlen musste, hat zu neuen Regelungen beigetragen. Die Montesi-Affäre hat auch zu einer stärkeren Reglementierung des Immobilienmarkts geführt. Es gibt mehr Kontrollen bei der Zuteilung von Bauland. Wer an staatlichen Förderprogrammen partizipieren will, braucht eine notarielle Beglaubigung seiner Integrität. Einen wie den Marchese kann das nicht lange ausgebremst haben. Auf dem Photo, das seine Grabplatte auf dem Flaminio-Friedhof in Rom schmückt (er starb 1990), zeigt er unverdrossen sein Vittorio-De-Sica-Lächeln.

Während die Montesis die Wohnung wechseln, um in der Anonymität zu verschwinden, dürfen sich die Grundstücksbesitzer von Torvaianica über stetig steigende Preise freuen. Mit dem Auffinden von Wilma Montesis Leiche, dem Anbringen eines provisorischen Kreuzes im Wasser und einem geschäftstüchtigen jungen Mann, der am Tor von Capocotta Hot Dogs und Coca Cola verkauft, beginnt dort der Tourismus. Giuseppe Sotgiu, der über einen Sexskandal gestolperte Anwalt von Silvano Muto, setzt als eine seiner letzten Amtshandlungen als Chef der Provinzialverwaltung durch, dass in Torvaianica ein Ferienheim für die Kinder Roms errichtet wird. Als 1954 die Straße zwischen Anzio und Ostia für den Verkehr freigegeben wird, ist der Strand von Rom aus bequem mit dem Auto zu erreichen. Die Entwicklung ist damit nicht mehr aufzuhalten. Überall schießen Wohn- und Wochenendhäuser, Bars, Restaurants und Strandcafés aus dem Boden, mal mit und öfter ohne Baugenehmigung.

Der Strand von Torvaianica - der Ort, an dem Wilma Montesis Leiche gefunden wurde

Viele Römer, die nicht zur Schickeria gehören, kommen durch die häufige Erwähnung der Via Veneto in der Montesi-Berichterstattung auf die Idee, dass sie da auch mal hingehen könnten. In der Straße mit ihren eleganten Cafés und teuren Geschäften drängeln sich die Bürger aus der Mittelschicht neben den Aristokraten und den Starlets, treffen die Selbstdarsteller auf die Voyeure, bald kommen die Touristen, und die Straße ist jetzt so überlaufen wie bei Fellini. Der Corriere d’Informazioni prägt den Begriff "das süße Leben" und ist eines jener am Nachmittag erscheinenden Klatschblätter, für das Marcello und Paparazzo in La dolce vita arbeiten. Die Straße, auf der die Reichen in ihren Luxuskarossen hin und her fahren, wird zur Aufreißmeile Nr. 1 von Rom. Die Hotels in der Via Veneto und um sie herum vermieten ihre Zimmer jetzt auch stundenweise. Anfangs sind Italiens Klatschreporter fast so diskret wie die Hoteliers und üben sich in Euphemismen, aber das US-Magazin Confidential schildert in deutlichen Worten, was in der Via Veneto geboten wird, Italiens Presse zieht bald nach.

Striptease in Trastevere

Es scheint, als sei die Montesi-Affäre die Büchse der Pandora. Was da unter dem Deckel hervorkam, tummelt sich jetzt auf der Via Veneto. Und weil seit der Montesi-Berichterstattung die alte Kultur des schamvollen Verhüllens nicht mehr richtig funktioniert und von der Lust an Skandal und Bloßstellung abgelöst wird, bleibt auch den Käufern der sich vermehrt an amerikanischen Vorbildern orientierenden Revolverblätter nichts verborgen. Im November 1958 geht das Ereignis der Saison über die Bühne. Peter Howard, ein Spross der Vanderbilt-Dynastie, richtet für Olghina di Robilant, Contessa aus Venedig und später Society-Reporterin für Fachorgane wie das People Magazine, im Keller des Restaurants Rugantino eine Geburtstagsparty aus.

Weil Olghina nicht immer nur Aristokraten sehen will, sind auch Leute aus dem Showbiz und sonstige Promis eingeladen. Elsa Martinelli ist gekommen, Italiens Antwort auf die unschuldige Audrey Hepburn, die sich gern in provokanten Posen photographieren lässt und die verruchte Lady gibt; Linda Christian, Hauptdarstellerin der "Hochzeit des Jahrhunderts" und längst von Tyrone Power, ihrem damaligen Traummann, getrennt; Edda, die Tochter von Mussolini; die unvermeidliche Novella Parigini, Malerin, Gastgeberin und Institution des römischen Nachtlebens, in deren Studio in der Via Margutta man sich berichten lassen kann, wie sie Sartre und Simone de Beauvoir, Cocteau, Truman Capote und Hemingway getroffen hat (hier [3] ist sie in Aktion zu sehen); und Novellas Freund Stiò Stajano, Enkel eines ehemaligen Generalsekretärs der Faschisten, der im Jahr darauf das erste seiner Bücher (mal autobiographisch, mal als Schlüsselroman) über die homosexuellen Vorlieben der High Society veröffentlichen wird (König Umberto II. inklusive), was ihn zum bekanntesten Schwulen von Italien machen wird.

Auch Tazio Secchiaroli und vier weitere Photographen stehen mit ihren Kameras bereit, weil es ein Arrangement zwischen den Promis und den Paparazzi gibt (die 1958 noch nicht so heißen, denn dafür muss Fellini erst La dolce vita drehen), die Öffentlichkeit mit Bildern vom Leben der Schönen und der Reichen zu versorgen und dabei so zu tun, als seien sie ohne deren Wissen und Einwilligung entstanden, weil das der Inszenierung eine besondere Authentizität verleiht. Irgendwann zieht Anita Ekberg wie üblich ihre Schuhe aus und fängt zur Musik der von Howard engagierten Jazzband an zu tanzen. Einige der adeligen Playboys erweisen sich als Kavaliere und werfen ihre Jacketts auf den kalten Kellerboden, damit sich Anita nicht verkühlt. Bei dieser Party jedoch - wie oft Anita wohl schon ihre Schuhe ausgezogen hat? - wird dem "kochenden Eisberg" die Schau gestohlen. Aïche Naná, Bauchtänzerin aus dem Libanon und 18 oder auch 22 Jahre alt, hat sich schon einige PR-Stunts ausgedacht, um Produzenten auf sich aufmerksam zu machen (in den 1960ern wird sie Mexikanerinnen in Italo-Western spielen). Vielleicht fühlt sie sich auch nur frei und enthemmt, weil sie etwas geschnupft oder inhaliert hat. Im Rom der 1950er gehören Drogen zum Partyaccessoire der Schickeria.

Aïche also stürmt die Tanzfläche und legt zur allgemeinen Begeisterung einen furiosen Striptease hin, bis sie nur noch ihr schwarzes Höschen trägt (Anita ist vermutlich nicht amüsiert). Einem Korrespondenten von Confidential wurde wohlweislich der Zutritt zur Party verwehrt. Aber den Klatschreporter Victor Ciuffa und einen Kollegen, der die Geschichte an den Confidential-Konkurrenten Whisper verkaufen wird, hat man reingelassen. Beide schreiben eifrig mit, auf dass die Welt erfahre, wie die Contessa di Robilant Geburtstag feiert. Der Restaurantbesitzer hat ein mulmiges Gefühl, weil der Striptease in Italien verboten ist und informiert die Polizei. Nach einigem Durcheinander löst sich die Party auf, die Gäste finden sich dann im Café de Paris wieder zusammen. Dort wird sich Ciuffa bald mit Federico Fellini verabreden, der für La dolce vita recherchiert. Der Reporter war eines der Vorbilder für Marcello; Fabrizio Menghini war ein anderes. Für seinen Film ließ Fellini das Stück der Via Veneto vor dem Café de Paris in Cinecittá nachbauen, weil er für die echte Straße nur eine sehr eingeschränkte Drehgenehmigung erhielt. (Tempi passati: Aus dem Restaurant Rugantino an der Piazza Sidney Sonnino 39-40 in Trastevere wurde später eine Filiale von McDonald’s. Weil aber die Zukunft nicht nur Schlechtes zu bieten hat, macht sich Ursula Andress in Elio Petris Das zehnte Opfer mit der SciFi-Version von Aïches Striptease für die Begegnung mit Marcello Mastroianni warm, und Piero Piccioni hat die Musik dazu komponiert.)

Das zehnte Opfer

Durch die Aussage von Tommaso Pavone beim Montesi-Prozess hat man interessante Dinge über das Selbstverständnis der italienischen Ordnungshüter erfahren. Pavone ist der Polizeichef, mit dem sich Montagna und Piccioni jun. im Innenministerium getroffen haben sollen und der zurücktreten musste, als Photos mit ihm und dem Marchese auftauchten. In Venedig hat er freimütig zugegeben, Weisungen vom damaligen Außenminister Piccioni sen. befolgt zu haben, weil er seine Aufgabe darin sah, den Interessen der Regierenden zu dienen. Das ist nicht wirklich das, was man von der Polizei eines demokratischen Landes erwartet. Doch für Pavone, der nach Venedig kam, um seinen Ruf zu retten, war es so normal, dass er keinen Grund sah, es zu verheimlichen. Bei der Party im Rugantino sind weder wichtige Politiker noch deren Söhne dabei, wohl aber junge Herren aus sehr einflussreichen Familien, von denen aus man ohne Umwege zur Democrazia Cristiana (und zur katholischen Kirche) gelangen könnte. Die Polizei, eigentlich für ihr rigoroses Vorgehen bekannt, hat viel Verständnis. Alles halb so wild, meint man. So hoch muss man das nicht hängen.

Nur die Klatschpresse ist nicht mehr das, was sie mal war, wie die Contessa später kopfschüttelnd vermerken wird. Ciuffa hat einen Chef, der immer bei ihm anruft und fragt, ob er eine "Erektion" für die Zeitung hat. Aïches Striptease hat das Zeug zu einer Super-Erektion. Er muss ins Blatt. Jeder mag selbst beurteilen, was an dem Event inszeniert war und was nicht und wie sehr er von Reportern und Redakteuren dramaturgisch überarbeitet wurde. Sollte alles geplant gewesen sein, haben die Akteure die Wirkung gründlich unterschätzt. Den Presseartikeln zufolge ist Novella Parigini gerade dabei, der Tänzerin ihr schwarzes Höschen abzustreifen, als die Polizei eintrifft. Die anderen Photographen haben sich auf die strippende Aïche konzentriert. Doch Tazio Secchiaroli ist auf einen Tisch geklettert, um das eigentlich Sensationelle einzufangen: die Tänzerin in Interaktion mit ihrem ganz speziellen Publikum.

Der riesige Skandal, den Aïches Striptease auslöst, ist nur durch die Montesi-Affäre zu verstehen. Reiche Männer aus der Oberschicht vergnügen sich mit einer jungen, fast nackten Frau: Zu den Phantasien, die über die Orgien von Capocotta im Umlauf sind, liefert Secchiaroli jetzt die Bilder. Dadurch wird alles noch einmal hochgespült, was man glücklich überwunden glaubte. Aïche Naná drohen drei Jahre Gefängnis wegen obszöner Zurschaustellung in einem öffentlichen Raum. Sie flieht nach Paris und wird irgendwann zu einer zweimonatigen Haft verurteilt, die sie nie antreten muss. Die US-Botschaft setzt Peter Howard in das nächste Flugzeug und schickt ihn nach Hause, um Schlimmeres zu verhüten. Eine Nummer von L’Espresso (14.11.1958) wird konfisziert, weil da Secchiarolis Photos abgedruckt sind. Das US-Enthüllungsblatt Confidential hinkt ausnahmsweise hinterher. Es bringt erst im März 1959 eine Photostrecke, damit auch die Amerikaner sehen dürfen, was so los ist in Rom, der Stadt der Sünde.

Des Papstes letzter Seufzer

Der Vatikan verlangt ein energisches Durchgreifen, um den Sumpf endlich auszutrocknen. Bei der katholischen Kirche weiß man, was zu tun ist, obwohl man sich in einer schwierigen Phase des Übergangs befindet. Angelo Roncalli, der soeben gewählte Papst Johannes XXXIII., muss sich erst einarbeiten (das ist derselbe Roncalli, der als Patriarch von Venedig vergeblich versucht hat, den Montesi-Prozess und den ihn begleitenden Medienauftrieb von seiner Stadt fernzuhalten). Doch sein Vorgänger auf dem Chefsessel hat noch die Richtung vorgegeben, der man im Vatikan nun folgt. Rückblende in das Jahr 1957: Papst Pius XII. gefällt das alles gar nicht, was man rund um die Montesi-Affäre erfahren muss (oder nicht mehr unter dem Deckel halten kann). Weil die Medien schon immer ein beliebter Sündenbock waren, stellt er sich an die Spitze einer Kampagne gegen die von der Filmindustrie verbreitete Unmoral. Schließlich stehen nun auch Maria und Wanda Montesi am Pranger, deren Filmbegeisterung manchen als irgendwie ursächlich für Wilmas Ende gilt. Wilma wäre zwar nichts passiert, wenn sie mit Mutter und Schwester ins Kino gegangen wäre, woraus man schließen könnte, dass die wirklich Bösen draußen vor der Tür lauern und nicht im Filmtheater, aber das spielt keine Rolle.

1957 werden in Italien auf Betreiben des Vatikans drei Filmplakate verboten: das zu Dino Risis Komödie Poveri ma belli (Arm aber schön), das zu Terence Youngs Zarak (mit Anita Ekberg, der Göttin der Via Veneto) und das zu Das Gänseblümchen wird entblättert mit Brigitte Bardot. Die Verantwortlichen für das Kleben der Plakate werden unter Anklage gestellt. Dann wird die Filmzensur verschärft (als Reaktion auf Aïche und die adeligen Playboy-Hedonisten wird man die Zügel weiter anziehen). Ganz dick kommt es für den Produzenten Carlo Ponti, der 1953 die Party in Amalfi gegeben hat, auf der auch Piero Piccioni und Alida Valli waren. An ihm wird ein Exempel statuiert. Ponti will sich weiter scheiden lassen und seine Gattin Giuliana will es auch, aber der Papst will die Ehe nicht annullieren, und eine Scheidung gibt es nicht im katholischen Italien.

Bei den Dreharbeiten zu The Pride and the Passion entflammt Cary Grant für Sophia Loren, die Carlo Ponti so gern heiraten würde, wenn er könnte. Für 1958 steht der Film Houseboat auf Grants Terminplan. Cary sorgt dafür, dass das Drehbuch umgeschrieben wird und Sophia die Hauptrolle erhält, die ursprünglich seiner baldigen Ex-Gattin Betsy Drake zugedacht war.

Houseboat

Ponti setzt das unter Druck. Er muss vollendete Tatsachen schaffen, bevor Cinzia Zaccardi (Loren) zu Tom Winters (Grant) auf das Hausboot zieht. Wohl in einer Panikreaktion fährt er nach Mexiko, wo er sich von Giuliana scheiden und mit Sophia trauen lässt - in deren Abwesenheit, weil alles ganz schnell gehen muss. Das ist im September 1957, als der Papst seinen Feldzug gegen den Film und die da propagierte Verworfenheit führt. Ein schlechterer Zeitpunkt ist kaum denkbar.

In Italien löst Pontis mexikanische Ehe einen enormen, von interessierter Seite angefachten Sturm der Entrüstung aus. Die Behörden machen dem verlorenen Sohn unmissverständlich klar, dass man ihn bei seiner Wiedereinreise ins Land des Heiligen Vaters wegen Bigamie anklagen wird und seine neue Gattin, die das nicht sein darf, wegen Konkubinentums. Auch von Exkommunikation ist die Rede. Sophia die Konkubine wird dann in aller Stille und von Verhaftung bedroht in ihre Heimat kommen, um für Clark Gable "Tu vuò fà l'americano" zu singen (It Started in Naples, 1960), und weil das auf Dauer kein Zustand ist, werden sie und Carlo die mexikanische Ehe 1962 annullieren lassen, um später in trauter Eintracht mit Giuliana nach Frankreich zu ziehen, wo sie 1966 - nach Pontis zweiter Scheidung von Gattin Nr. 1 und mit einer von Präsident Pompidou persönlich unterschriebenen Einbürgerungsurkunde in der Tasche - endlich so heiraten dürfen, dass ihnen der italienische Staat und die katholische Kirche nichts mehr anhaben können. Absurder geht es kaum.

It Started in Naples

Papst Pius XII. kriegt den Ausgang dieses Dramas nicht mehr mit. Nach dem letzten großen Aufbäumen gegen die Schlechtigkeit in der Welt (der Film und seine Repräsentanten) haucht er am 9. Oktober 1958 sein Leben aus. Von seinen letzten Tagen und seinem Sterbebett werden Bilder nach draußen geschmuggelt und veröffentlicht. Das ist, wenn man so will, ein Höhepunkt der Paparazzo-Photographie, der nichts heilig ist und die durch die Montesi-Affäre den entscheidenden Schub bekommen hat. Verkauft hat die Photos, wie sich bald herausstellen wird, Riccardo Galeazzo-Lisi, der Leibarzt. Der Papst ist da schon tot. Sonst hätte er darüber nachdenken können, ob die Feinde, die es zu bekämpfen gilt, nicht ganz woanders sitzen als da, wo er sie sucht. Galeazzo-Lisi ist einer der Freunde von Ugo Montagna und Mitglied der Jagdgesellschaft von Capocotta. Von denen, die nicht an Piero Piccionis Mandelentzündung glauben, wird dieser Herr verdächtigt, die Alibizeugen organisiert zu haben. Einen Beweis dafür gibt es nicht. Wie üblich gilt die Unschuldsvermutung.

Was aus der Striptease-Episode wurde, erfährt man zum Beispiel hier [4] beim Independent: Weil Olghina di Robilant Geburtstag feierte und sich Aïche Naná dabei auszog, drehte Federico Fellini La dolce vita, und Tazio Secchiaroli wurde ein bekannter Paparazzo. Die Dolce-vita-Jahre begannen 1958. Bis dahin, erinnert sich die Contessa, war Rom unschuldig und puritanisch. Fellini, der Provinzler aus Rimini, kannte nur den Klatsch, war wie eine Zofe, die durch das Schlüsselloch spioniert und dann schamlos übertreibt, was sie da in einem kleinen Ausschnitt von der Wirklichkeit gesehen hat. So bereinigt man die Vergangenheit. Ohne die vielen unangenehmen Wahrheiten über die italienische Gesellschaft, die gute und die nicht so gute, die die Montesi-Affäre von 1953 bis 1957 nach oben gespült hatte, hätten Secchiarolis Photos von Olghinas Geburtstagsfeier - die päpstliche Kampagne gegen anstößige Filmplakate hin oder her - nie diese Beachtung gefunden. Das Ereignis im Rugantino isoliert zu betrachten ist praktisch, weil man sich dann leicht spöttisch darüber wundern kann, was sie eigentlich sollte, die ganze Aufregung. So reduziert man einen Skandal, der sogar die Regierung ins Wanken brachte, auf eine Anekdote und den nackten Busen einer Tänzerin. Das ist die Boulevardisierung der Geschichte. Und man entsorgt dabei die Leiche einer jungen Frau, von der bis heute niemand sicher weiß, unter welchen Umständen sie ums Leben kam.

La dolce vita

Aïches Striptease war nicht der Anfang einer Entwicklung, sondern deren Endpunkt. Fellini registriert das in La dolce vita sehr genau. Den Striptease hebt er sich für die letzte Episode auf. Marcello fährt mit den üblichen Gestalten des römischen Nachtlebens - Schauspieler, Starlets, Adelige, eine Malerin, Figuren aus dem internationalen Jet Set, Giò Stajano als er selbst - zur in einem Waldstück am Meer gelegenen Villa eines reichen Geschäftemachers, um die Annullierung von Nadias Ehe zu feiern. Das ist Fellinis Version von Capocotta. Weil sich alle furchtbar langweilen, soll sich eine der Frauen ausziehen. Schließlich macht es Nadia, denn die anderen sind zu routiniert, oder man hat sie schon oft genug nackt erlebt. Marcello versucht lustlos, die Gäste zu Ausschweifungen zu animieren, die überhaupt nur noch als Inszenierung denkbar sind (mit einem Zitat aus Tod Brownings Freaks, damit der Zuschauer auch weiß, was er von der Party zu halten hat). Das ist so traurig, dass es kaum auszuhalten ist. Eine deprimierendere Orgie hat man im Kino nie gesehen.

La dolce vita

Man muss das tun, sagt der Zeremonienmeister, was man dem Tourismus schuldig ist. Als der Morgen graut, kann man das Orgienhaus endlich verlassen. Draußen am Strand ist etwas los. Und damit sind wir wieder da, wo wir angefangen haben: Beim Klatschreporter Marcello, der einmal Journalist oder Schriftsteller werden wollte, als er noch Moraldo hieß und am Ende von Die Müßiggänger den Zug von Rimini nach Rom bestieg und der jetzt Berichte schreibt, in denen er Promis mit Paul Newman oder Marlon Brando vergleicht, wenn die Kasse stimmt. Bei dem mysteriösen toten Wesen, das die Fischer aus dem Meer ziehen. Und bei dem Mädchen Paola, das so unschuldig dreinblickt, als könne sie kein Wässerchen trüben. Was wohl aus ihr geworden ist?

La dolce vita



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[2] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kino/kino-die-tote-am-strand-1331111.html
[3] http://www.youtube.com/watch?v=OYEAo_SOA6A
[4] http://www.independent.co.uk/news/world/europe/the-roman-orgy-that-kicked-off-la-dolce-vita-1031222.html