Besser als Agatha Christie und Edgar Wallace: The plot thickens

The Third Man

Anatomie einer Gesellschaft, Teil 3

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Was bisher geschah: Anna Maria Caglio sagt vor Gericht aus, dass ihr Ex-Geliebter Ugo Montagna und Piero Piccioni, der Sohn des Außenministers, schuld am Tod von Wilma Montesi sind und das mit Hilfe von Polizeichef Pavone vertuschen wollten. - Der Carabinieri-Oberst Pompei hat für Innenminister Fanfani einen Geheimbericht angefertigt, in dem viel Unvorteilhaftes über Montagna, dessen Vergangenheit und dessen dubiose Geschäfte steht. - Pavone wird von Ministerpräsident Scelba suspendiert. - Der Untersuchungsrichter Raffaele Sepe soll herausfinden, wie Wilma wirklich gestorben ist. - Ständig melden sich nun neue Zeugen, Selbstdarsteller und Verrückte. - Die Zeitungen, Zeitschriften und Illustrierten überbieten sich mit sensationellen Enthüllungen, und es schlägt die Stunde der Paparazzi …

Teil 2: Im Medienzirkus: Die Handlungsreisende der Wahrheit vs. Mister X

"Die öffentliche Meinung in Italien", schreibt die New York Times am 11. April 1954, "wurde in den vergangenen Monaten so sehr von Schwindel- und Korruptionsvorwürfen in Beschlag genommen, die aus dem Wilma-Montesi-Fall erwuchsen, dass außenpolitische Entwicklungen total vernachlässigt worden sind oder nur sehr geringe Aufmerksamkeit gefunden haben." Das hat auch damit zu tun, dass wichtige Termine häufig von Leuten aus der zweiten Reihe wahrgenommen oder auf später verschoben werden, weil in der Presse gerade die neuesten Meldungen über Piero Piccioni breitgetreten werden und sein Vater, der Außenminister, tagelang seine Wohnung nicht verlässt. Als im März Konrad Adenauer in Rom weilt und auch mit Attilio Piccioni konferiert, ist das die Hauptnachricht - dass das Treffen tatsächlich stattgefunden hat, nicht der Inhalt der Gespräche.

Marchese und Cavaliere in Personalunion

Dr. Sepe treibt inzwischen unbeirrt seine Ermittlungen voran. Anders als Oberst Pompei, der es sehr schwer hatte, an Polizeiakten heranzukommen, werden ihm keine größeren Steine in den Weg gelegt. Doch der Fall ist politisch brisant. Italien leistet sich einen extrem aufgeblasenen, von Mussolini übernommenen Polizeiapparat. Als Mario Scelba, ab Februar 1954 Ministerpräsident, noch Innenminister war, hat er das überschüssige Personal für Aufgaben eingesetzt wie die, die Anhänger linker Gruppierungen und die Gewerkschaften zu drangsalieren. Im Januar 1954 wird das Innenministerium vorübergehend (in der ersten Regierung Fanfani) von Giulio Andreotti geleitet, der auch Möglichkeiten findet, unausgelastete Polizisten zu beschäftigen, zum Beispiel durch die Bespitzelung von Dr. Sepe. Vor dessen Büro treffen die Herren zwei dort stationierte Reporter vom kommunistischen Parteiorgan L’Unità. Nicht nur die Polizei will wissen, mit wem Dr. Sepe spricht, diese aber hat das beste Instrumentarium für eine Überwachung. Sepe und seine rechte Hand, der von Oberst Pompei empfohlene Carabinieri-Offizier Cosimo Zinza, treffen Vorkehrungen, um die Spitzel zu düpieren und die Identität von Zeugen zu verschleiern. Dabei hilft ihnen die labyrinthische Struktur des Justizpalastes, in dessen Korridoren sich Überwacher leicht abschütteln lassen. Melton S. Davis wird Sepe und Zinza in seinem Montesi-Buch All Rome Trembled (1957) mit Rex Stouts Meisterdetektiv Nero Wolfe und seinem Adlatus Archie Goodwin vergleichen.

Leider gibt es keine Verteilerliste für die Polizeiberichte. Die wäre sehr interessant, denn von Sepes geheimnisumwitterter Untersuchung dringt viel nach außen. Andreotti, der große Strippenzieher der italienischen Politik, wird noch Jahre später herumerzählen, dass Sepe sich vom Schwarzen Schwan becircen ließ sowie der Versuchung erlegen sei, selbst ein Medienstar zu werden und sich deshalb bei der Presse angebiedert habe. Das soll die Montesi-Untersuchung diskreditieren und ist doch nicht völlig aus der Luft gegriffen. Eine Illustrierte bringt eine Homestory über Sepe, mit Bildern aus dessen Familienalbum. Sein Cousin, der auch für mehrere Magazine arbeitende Rom-Korrespondent des Corriere della Sera, kommt in den Polizeiberichten genauso vor wie Telefonate mit Journalisten anderer Blätter oder der dreistündige Besuch eines Reporters von Il Paese in Sepes Privatwohnung. Andererseits wird ein damals bei der Abendausgabe des Paese tätiger Journalist später enthüllen, dass zumindest in der Anfangsphase der Untersuchung die saftigsten Stücke von Fanfani kamen, mit einem Offizier der Carabinieri als Verbindungsmann. Das zur Erinnerung daran, dass Fanfani, der Mann vom linken Flügel der regierenden Democrazia Cristiana, zwar die erste Runde im parteiinternen Machtkampf verloren hat, sich aber noch lange nicht geschlagen gibt. Die meisten der Intrigen und Taktierereien rund um den Montesi-Skandal liegen bis heute im Dunkeln.

Cosimo Zinza

Ugo Montagna scheint sich rasch mit der Aufmerksamkeit anzufreunden, die er in der Öffentlichkeit genießt, obwohl das eigentlich zu viel Publicity für ihn ist. Bisher ließ er sich gern mit einflussreichen Persönlichkeiten photographieren, aber sonst blieb er diskret im Hintergrund, wo er seine Geschäfte anbahnte. Als Hauptfigur in der Montesi-Affäre darf er sich zunächst über eine Berichterstattung freuen, die auch viel Positives über ihn zu sagen weiß. Das muss man im kulturellen Kontext sehen. In einem Land, in dem die Institutionen und die Bürokratie schlecht funktionieren, greift man irgendwann zur Selbsthilfe. Wer es einmal über die offiziellen Kanäle versucht hat und eine kleine Ewigkeit auf eine Baugenehmigung, ein behördliches Dokument oder eine simple Auskunft warten musste, wird unwillkürlich eine gewisse Bewunderung für Leute wie Montagna empfinden, die den kurzen Weg zum Ziel kennen, an den Vorschriften vorbei, und die Kontakte haben, die man braucht, damit sich Türen öffnen, die einem sonst verschlossen bleiben.

Davon profitiert auch Silvio Berlusconi, dem viele Italiener noch immer Respekt zollen, weil er "den Großen" (einem ineffizienten, nicht selten korrupten und mit Privilegien durchzogenen System) die Stirn bietet und mit seinen Tricksereien das praktiziert, was ihm "der kleine Mann" gern nachmachen würde. Erfahrungsgemäß geht das so lange gut, bis sich die Einsicht durchsetzt, dass ein solches Verhalten zu Lasten der Allgemeinheit geht. Bei Berlusconi wird die Sache dadurch kompliziert, dass die traditionellen Rollenzuteilungen durcheinander geraten sind. Gescheitert ist er (vorerst?) daran, dass er den Übergang vom einen Rollenfach ins andere vermasselt hat. Obwohl selbst einer von den Großen, operierte er wie der Mann im Hintergrund. Für seine Freunde veranstaltete der Cavaliere in seiner Villa in Arcore Bunga-Bunga-Partys, obwohl das die Aufgabe von Leuten wie dem Marchese gewesen wäre. Als die Ruby-Affäre die Medien beschäftigte, gehörte es in Deutschland mit dazu, Berlusconis Lotterleben mit der Dekadenz der alten Römer zu vergleichen wie etwa in der Welt. Interessanter ist die Montesi-Affäre. Durch sie kommt man Berlusconi und dem durch ihn repräsentierten Teil der italienischen Politik viel näher als durch die Sexgewohnheiten von Nero und Caligula.

Richtlinie Nummer 2

Einer von den Montagna-Freunden, der Polizeichef Pavone, musste schon zurücktreten. Polito, Roms Polizeipräsident "auf Lebenszeit", wurde in den Ruhestand verabschiedet. Als nächsten erwischt es Giuseppe Spataro, den ehemaligen Postminister. Er verliert sein Amt als Generalsekretär der DC. 1954 hat Italien noch keinen Ministerpräsidenten wie Berlusconi, der beide Rollen übernimmt, die des Regierungschefs und die des Marchese. Aber Mario Scelba, als früherer Innenminister politisch verantwortlich für die anfangs schlampigen Ermittlungen im Fall Montesi, steht unter Druck. Also verspricht er wieder einmal Reformen. Scelba hält eine Rede, in der er sich fragt, wie es dazu kommen konnte, dass sich der Bürger der Bürokratie gegenüber als Untertan fühlt, dass der Bürger auf das Wohlwollen der Behörden angewiesen ist, wenn er nichts weiter als sein Recht verlangt und warum er lieber Mittelsmänner (wie Montagna) einschaltet, statt sich direkt an die Verwaltung zu wenden? Weil jetzt alles besser werden soll, wird eine Broschüre mit dem Titel "Richtlinien für die öffentliche Verwaltung Nr. 1" verbreitet. Die Richtlinien Nr. 2 werden nie gedruckt. Scelbas Sätze von 1954 sagt inzwischen Mario Monti.

Nach einer kurzen Zeit auf dem Abstellgleis feiert Amintore Fanfani sein Comeback. Beim Parteitag der Christdemokraten im Juli 1954 wird er zum Nachfolger von Spataro als Generalsekretär gewählt. Fanfani kündigt eine Erneuerung von Partei und Gesellschaft und ein Eintreten für mehr Moral in der Politik an. Seine Iniziativa-Gruppe erringt klare Mehrheiten in wichtigen Beschlussgremien. Ohne ihn geht von nun an nicht mehr viel in der DC. Auch Scelba will den Beweis dafür antreten, dass er auf der Seite der Moral steht. Um zu demonstrieren, dass er und seine Regierung nichts zu verbergen haben, hat er ein liberales Kabinettsmitglied um eine weitere Untersuchung gebeten. Der Sonderermittler stützt sich im Wesentlichen auf den Bericht, den Oberst Pompei für Fanfani angefertigt hat und informiert im Juli 1954 das Parlament über die Ergebnisse seiner Nachforschungen.

Für den Marchese ist das nicht erfreulich. Er wird als ein Mann geschildert, der Nazis, Faschisten und Republikanern dient, wenn es ihm einen Vorteil bringt und der es immer schafft, auf der Seite der Gewinner zu stehen. Montagna, wird bekannt, hat ein schwer durchschaubares Geflecht aus mindestens zwölf Firmen angelegt; die meisten davon haben mit Immobilien zu tun. Obwohl es keinen Zweifel daran gibt, dass er vermögend ist und privat über mehrere luxuriöse Wohnsitze und Automobile verfügt, hat er für die Jahre 1951, 1952 und 1953 keine Steuern bezahlt (das kommt einem irgendwie bekannt vor). Piero Piccioni, sein Bruder und eine Schwester haben mit Piccioni sen., dem Außenminister, jahrelang eine gemeinsame Steuererklärung abgegeben und es so gedreht, dass keines der Geschwister Geld an den Staat abführen musste. Dr. Galeazzi-Lisi, Leibarzt des Papstes mit florierendem Optometrie-Geschäft in der Innenstadt, zahlt so wenig Steuern wie der Sohn von Giuseppe Spataro, der zusammen mit Montagna Wohnungen und andere Immobilien gekauft und wieder verkauft und dabei Millionen umgesetzt hat.

Piero Piccioni. Bild: Privatarchiv der Familie. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Im Mai und Juni 1954 müssen sich - als Nebeneffekt von Dr. Sepes Ermittlungen - 200 Banker und Börsenmakler vor Gericht verantworten. Sie haben mit gefälschten oder durch Bestechung besorgten Importlizenzen Dollars zum offiziellen Wechselkurs erworben und mit einem Aufschlag von zwanzig Prozent auf dem Schwarzmarkt verkauft. Auch dabei konnte der Marchese behilflich sein. Für die meisten Italiener ist sowieso klar, dass die politische Klasse korrupt ist. Darum nehmen sie Montagnas diesbezügliche Mauscheleien relativ gelassen hin. Als aber herauskommt, dass der Marchese und seine Freunde keine Steuern zahlen und die Gier der Reichen unersättlich ist, herrscht große Empörung. Dabei ist viel Scheinheiligkeit mit im Spiel. Im Italien der Nachkriegszeit herrscht eine Goldgräbermentalität. Viele Geschäftsleute müssen ihr Geld schon deshalb verstecken, weil sie es nicht legal verdient haben. In Rom gibt nur ein Drittel der theoretisch Steuerpflichtigen überhaupt eine Steuererklärung ab. Christdemokratische Politiker haben sich kürzlich eine Abfuhr geholt, als sie die katholische Kirche um Hilfe bei der Hebung der Steuermoral baten. Die Gläubigen zur Steuerehrlichkeit zu verpflichten, hieß es aus dem Vatikan, bedeute eine unzumutbare Benachteiligung der ehrlichen Bürger gegenüber den nicht so ehrlichen Italienern. Jetzt verspricht die Regierung wieder einmal eine Änderung der Steuergesetze, damit so etwas wie bei Montagna nicht mehr passieren kann.

Vielleicht ist es die Flucht nach vorn, wenn sich der stets untadelig gekleidete Marchese weiter in der Via Veneto sehen lässt und seinen luxuriösen Lebensstil zur Schau stellt, als wäre nichts gewesen. Im August 1954 lässt er sich mit einer jungen Frau namens Gianna Alfieri beim Tanzen, Reiten und Schwimmen photographieren und gibt bekannt, dass er einen Spielfilm über die Montesi-Affäre drehen will, mit Gianna, der Laiendarstellerin, als Anna Maria Caglio und der Schauspielerin Pina Bottin als Adriana Bisaccia. Ziel des nie realisierten Projektes ist es, die Jagd- und sonstigen Veranstaltungen in Capocotta als harmloses Vergnügen lebensbejahender Menschen zu zeigen. Montagna hat ein Drehbuch verfasst, in dem die Jagdgesellschaft am Strand die tote Wilma Montesi findet. Er und seine Freunde haben mit der Leiche weiter nichts zu tun. Muto macht daraus eine Verschwörung, um dem italienischen Establishment zu schaden. Montagna und Piero Piccioni, so der Plan, spielen sich selbst. Auch für Alida Valli ist eine Rolle vorgesehen. Dazu gleich mehr.

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