Ausnahmezustand in Neukaledonien: Frankreichs Kolonialpolitik entzündet heftige Unruhen

Starke Präsenz von Kanaky (das ist Neukaledonien aus Sicht der Unabhängigkeitsbefürworter/innen) auf der diesjährigen 1. Mai-Demo in Paris. Foto: B. Schmid

Koloniale Vergangenheit holt Gegenwart ein: Tiefe Kluft zwischen den Unabhängigkeitsbestrebungen der Kanaken und Paris. Der fatale Schritt von Macron.

In Neukaledonien wurde der Ausnahmezustand verhängt.

Ab 18 Uhr gilt eine nächtliche Ausgangssperre. Um diese Zeit geht in den Tropen die Sonne unter. In drei Tagen gab es rund 200 Festnahmen, politische Führer wurden unter Hausarrest gestellt, die ersten fünf am Dienstagabend.

Die Regierung in Paris hat über den südfranzösischen Militärflughafen Istres 1.000 zusätzliche Polizei- und Gendarmeriekräfte zu den 1.700 vor Ort entsenden lassen. Darunter befinden sich auch 100 Mann der GIGN, einer Eliteeinheit, die mit der deutschen GSG 9 vergleichbar ist: Die Armee wurde aus ihren Kasernen geholt, um "Häfen und Flughafen zu sichern".

Dazu wurde eine Mediensperre verhängt, insbesondere durch das Verbot der Nutzung von TikTok, das einem Blackout unterworfen wurde und vor Ort nicht mehr zugänglich ist.

Heftige Unruhen

Das sind einige der Schlaglichter zur aktuellen Lage auf der politisch und administrativ zu Frankreich gehörenden, rund 17.000 Kilometer von Paris entfernten Inselgruppe Neukaledonien. Der Archipel, dessen gut eine Viertelmillion Menschen zählende menschliche Bevölkerung überwiegend auf der Hauptinsel Grande Terre lebt, liegt im Westpazifik in knapp 1.500 Kilometern Entfernung von Australien.

In der Nacht zum Dienstag dieser Woche begannen in Neukaledonien heftige Unruhen. Ihr Ausbruch hängt unmittelbar damit zusammen, dass die französische Nationalversammlung in Paris an diesem Dienstag ein Gesetz annahm, das weitreichende Auswirkungen auf die Zukunft der Inselgruppe haben könnte.

Konflikt über Unabhängigkeit

Diese Inselgruppe bildet eines der drei derzeit zu Frankreich zählenden Territorien im Pazifik, neben der kleineren Inselgruppe Wallis und Futuna sowie dem weitaus bekannteren Französisch-Polynesien, dessen Inselparlament und -regierung seit 2023 durch Befürworter der Unabhängigkeit und einer Loslösung von Frankreich binnen zehn bis 15 Jahren geführt werden.

In Neukaledonien existieren ebenfalls starke Bestrebungen eines Zugangs zur Unabhängigkeit, die jedoch ebenfalls auf starke Gegenkräfte treffen und just durch die jüngste Gesetzesinitiative blockiert zu werden drohen.

Das Gesetz aus Paris: Macron und die Rechte

Dieses, im März durch den Senat – das konservativ dominierte Oberhaus in Paris – und am Dienstag nun durch die Nationalversammlung verabschiedete Gesetz öffnet die Wählerverzeichnisse für künftige Unabhängigkeitsreferenden auch für französische Staatsangehörige, die sich in jüngerer Zeit auf der Inselgruppe niederließen, was bislang durch Vereinbarungen mit Verfassungsrang blockiert wurde.

Dazu gedrängt hatten zunächst Konservative, die die Abstimmung im Senat angesetzt hatten (obwohl normalerweise die Nationalversammlung, die verfassungsrechtlich ein größeres Gewicht hat), sowie Rechtsextreme.

Auch das wirtschaftsliberale Regierungslager unter Emmanuel Macron stimmte dem nun zu. Die unterschiedlich ausgerichteten Linksparteien stimmten geschlossen dagegen, die Abstimmung ergab: 351 Ja- und 153 Nein-Stimmen.

Erneut hat sich das Regierungslager damit, wie im Dezember 2023 bei dem umstrittenen und mittlerweile durch das Verfassungsgericht teilweise annullierten Ausländergesetz, mit Konservativen und Rechtsextremen bei der Abstimmung zusammengetan.

Vorgeschichte: Die "Kanaken" werden abgedrängt

Das bis dahin durch eine melanesische Bevölkerung bewohnte Neukaledonien war 1853 durch Frankreich unterworfen worden. Anders als die Mehrzahl der französischen Kolonien, die vor allem zum Rohstofferwerb dienten, wurde die Inselgruppe – ähnlich wie das von 1830 bis 1962 durch Frankreich kontrollierte Algerien – hingegen als Siedlungskolonie behandelt; wobei in den ersten Jahrzehnten vorwiegend politische und andere Sträflinge dort angesiedelt wurden, später jedoch mehr und mehr freiwillige Siedler hinzukamen.

Dabei drängten die Kolonisatoren die sich selbst als "Kanaken" (Menschen) bezeichnende melanesischen Einwohner auf der Hauptinsel immer mehr in den gebirgigen und landwirtschaftlich schwer nutzbaren Teil, also die Nordhälfte von Grande Terre ab.

Weiße Siedler sichern sich die besten Plätze

Die weitaus fruchtbarere Südhälfte der Insel sowie die städtischen Zonen, vor allem die Hauptstadt Nouméa, blieben angesiedelten Weißen vorbehalten.

Entsprechend gestalteten sich lange Zeit die Lebensbedingungen für die altansässige Bevölkerung. Diese siedelt in Dörfern oder ab in Armenvierteln rund um die Hauptstadt, waren weitestgehend vom Bildungssystem ausgeschlossen und damit auch vom Zugang zu besseren Arbeitsmöglichkeiten.

Ein Teil driftete – ähnlich wie bei Bevölkerungsgruppen etwa in sogenannten Indianerreservaten in Nordamerika, wobei die Kanaken allerdings im Gegensatz zu den Ureinwohnern der USA rund die Hälfte der Gesamtbevölkerung darstellten – in Alkoholismus und Perspektivlosigkeit ab.

Paris, Loyalisten und Befreiungsbewegungen

Erstmals wurde infolge von Massenprotesten 1988 ein Abkommen zwischen der Regierung in Paris, den "Loyalisten" (also den in der weißen Inselbevölkerung verankerten Befürwortern eines Verbleibs bei Frankreich) und den in der Befreiungsbewegung FLNKS sowie der Gewerkschaft USTKE zusammengeschlossenen Unabhängigkeitsbefürwortern geschlossen.

Es sah eine zehnjährige Übergangsperiode bis zu einer endgültigen Entscheidung über die Unabhängigkeit vor. Nach zehn Jahren wurde es 1998 durch ein neues Abkommen, die "Vereinbarung von Matignon" abgelöst.

Vereinbarungen zu einer Übergangsfrist

Dieses sieht erneut eine fünfzehn- bis zwanzigjährige zusätzliche Übergangsfrist vor. Es erkannt explizit die Perspektive eines Übergangs zur Unabhängigkeit an. Die Zeit bis zu einer erneuten Entscheidung über diese Frage, die frühestens 2013 und spätestens 2018 eingeleitet werden sollte, war sollte dabei für Verbesserungen der Lage der kanakischen Bevölkerung, die Hebung ihres Bildungsstands und die Heranbildung von Führungskräften aus ihren Reihen genutzt werden.

Beim ersten Abkommen, der "Vereinbarung von Nouméa" von 1988, gab es nur einen einzigen Arzt und zwei Ingenieure aus den Reihen der kanakischen Bevölkerung. Bis 1988 waren immerhin 344 Führungskräfte ausgebildet worden. Allerdings war parallel dazu die Zahl der Führungskräfte auf der Insel mit europäischer Abstammung von 2.000 auf 4.500 erhöht worden.

Das "Abkommen von Matignon" sah ebenfalls vor, dass die spätere Entscheidung über die Unabhängigkeit von jenen, die zum Zeitpunkt seines Abschlusses (1998) bereits seit zehn Jahren, also seit dem Jahr des "Abkommens von Nouméa" auf der Inselgruppe lebten, aber auch deren dort geborene Kinder getroffen werden sollte.

Nach 1988 dort angesiedelte französische Staatsbürgerinnen und -bürger hingegen sollten zwar bei Frankreich betreffenden Wahlen wie Präsidentschafts- und Parlamentswahlen mitstimmen dürfen, jedoch nicht bei Unabhängigkeitsreferenden und bei der Wahl des Inselparlaments, um nicht die bisherige Bevölkerung durch die Schaffung neuer Fakten mittels Zuzugs zu majorisieren.

Die Inselbevölkerung …

Die Inselbevölkerung besteht zu gut vierzig Prozent aus melanesischen "Kanaken", zu weiteren zehn Prozent aus Pazifikbewohnern von anderen Insel – wie etwa Wallis und Futuna -, zu rund vierzig Prozent aus europäischstämmigen Einwohnern sowie zu etwa zehn Prozent aus weiteren Einwanderern, besonders aus Asien.

… und das Gleichgewicht, das Paris bricht

Dieses, damals mühsam ausgehandelte Gleichgewicht bricht nun die französische Seite mit dem Ansinnen, 20 bis 25.000 in jüngeren Jahren auf der Insel angesiedelte Franzosen – deren Ankunft auch durch staatliche Subventionen, günstige Flugtickets und Kredite begünstigt worden war – künftig mitstimmen zu lassen.

Referenden zur Unabhängigkeit

Voraus gingen drei Referenden zur Unabhängigkeit, die, wie die Vereinbarung von Matignon von 1998 es vorgesehen hatte, 2018 (also im spätest möglichen Jahr), dann 2020 und 2021 durchgeführt worden.

Das Abkommen hatte drei aufeinander folgende Referenden vorgesehen, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Kanaken zuvor in relevanten Teilen nicht in die Wählerverzeichnisse eingetragen waren. 25.000 von ihnen fehlten 2018 noch in den Wählerverzeichnissen, 2023 waren es noch 11.000.

Das erste Referendum 2018 brachte einen Stimmenanteil von 43 Prozent für die Unabhängigkeit, das zweite (2020) zwischen 46 und 47 Prozent. Viele Beobachter erwarteten für das dritte einen knappen, möglicherweise für die Unabhängigkeit positiven Ausgang.

Es wurde dann aber im Herbst 2021 unter Bedingungen abgehalten, die von der Covid-Epidemie – diese tötete kurz zuvor 300 Menschen in der insgesamt 110.000 Personen zählenden kanakischen Bevölkerung –, damit zusammenhängenden Versammlungsbeschränkungen sowie der Trauer in der kanakischen Bevölkerung geprägt waren.

Die traditionelle Kultur sieht eine einjährige Trauerperiode vor. Die Unabhängigkeitsbefürworter forderten damals eine sechsmonatige Aufschiebung des letzten Referendums. Die französische Staatsmacht verweigerte dies.

Letztlich boykottierten die Unabhängigkeitsbefürworter die Abstimmung, die Beteiligung fiel von 86 Prozent (2020) auf 43 Prozent im Jahr 2021. Die dann erreichten, scheinbaren 96 Prozent für den Verbleib bei Frankreich konnten unter diesen Umständen kaum gewertet werden.

Feuer an der Lunte

Die weitere Entwicklung hätte nun Gegenstand von Aushandlungen sein müssen. Dass die französische Staatsmacht nun doch einseitig, durch die Veränderung des Wählerregisters – diese müsste noch im Juni durch eine verfassungsändernde Parlamentarische Versammlung bekräftigt werden – eine einschneidende Veränderung durchzog, legte das Feuer an die Lunte.

Die Unruhen seit Montagabend hatten zunächst eher Riot-Charakter, da die Pro-Unabhängigkeits-Bewegungen – die in den Monaten seit November mehrere Märsche mit Zehntausenden Menschen organisiert hatten – die junge Generation nicht mehr zurückhalten konnten. Die Organisationen wurden selbst vom eruptiven Charakter der Riots überrascht.

Die weitere Entwicklung ist jedoch zunächst offen und hängt vor allem davon ab, ob auf die Riots nun organisierte Proteste oder Widerstandshandlungen folgen.