Der Superbug ist da

Nach nur 50 Jahren sind die Antibiotika stumpf geworden

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In den USA wurde der erste Kranke mit Vancomycin-resistenten Staphylokokken (VRSA) identifiziert. Ein Zeichen, dass die Bakterien den Kampf gegen die Ärzte gewonnen haben.

Im nordamerikanischen Netzwerk der Gesundheitsüberwachung wurde bei einem Zuckerkranken die erste eitrige Entzündung gefunden, die auf 98 Prozent der verfügbaren Antibiotika nicht mehr anspricht. Obwohl das gegenwärtig nur eine Person in Michigan betrifft, werden die VRSA wie eine Lawine die westliche Welt erfassen. "Der böse Geist hat die Flasche verlassen," räsoniert Dr.Chang, einer der Mikrobiologen des Centers for Disease Control (CDC,) in Atlanta. Was bisher hinter verschlossenen Türen als Horrorszenarium angedacht wurde, ist nun eingetreten: die Antibiotika resistenz in ungeahntem Ausmaß.

Staphylococcus aureus, der auf der Haut lebende Vertreter der Kugelbakterien

Die Fähigkeit der Bakterien, die Abwehrstoffe des Menschen zu unterlaufen, ist die Kehrseite der Antibiotikaforschung. Die antiinfektiösen Arzneimittel machen keinen Unterschied zwischen den bösen und den guten Bakterien und beeinträchtigen deshalb die Symbiose mit Milliarden von Bakterien, die natürlicherweise Haut und Darm besiedeln. Auf der Haut sind es vornehmlich die Staphylokokken, und im Darm mit der weitaus größeren Oberfläche geht es um die Enterokokken. Die natürliche Flora hat eine Schutzfunktion und ist harmlos, solange die Erreger nicht unter die Haut und Schleimhaut gelangen oder mit dem Blut in andere Organe verschleppt werden. Erst dann erzeugen die Kugelbakterien (Kokken) eitrige Entzündungen wie sie von Hollywood dramatisch in Szene gesetzt wurden: die lebensrettende Amputation unter Whiskey-Narkose oder die aufsteigende Blutvergiftung mit Fieberdelir.

Tatsächlich werden die meisten Antibiotika gegen andere Bakterienstämme eingesetzt. Weil die systemisch verabreichten Arzneimittel überall hin gelangen, kommt es ungewollt zur Abwehrreaktion bei den Kugelbakterien. So ist die Resistenz gegen Staphylokokken und Enterokokken ein ungefährer Gradmesser für die bakterielle Anpassungsfähigkeit. Bei den eigenständigen Infektionen durch Staphylokokken und Enterokokken gilt Vancomycin als Rettungsanker, der nur im Notfall und nach gründlicher Abwägung eingesetzt wird. Die Resistenz gegen Vancomycin signalisiert, dass der Arzt mit dem Rücken an der Wand steht, weil er nichts Besseres mehr aufzubieten hat. In "Hospital Practice", einem inzwischen eingestellten besonders kritischen medizinischen Journal fragte bereits 1997 Dr.Tabaqchali Vancomycin-resistant Staphylococcus aureus: Apocalypse now?

Chromagar als Nährmedium für den Labortest auf Staphylokokken

Vancomycin-resistente Enterokokken (VRE) werden seit einem Jahrzehnt mit erschreckend steigender Häufigkeit beobachtet. Auf der Suche nach den Ursachen fanden Mikrobiologen heraus, dass Tierzüchter ungeniert Vancomycin dem Futter beimischen, weil die Beeinflussung der Darmbakterien bei Rindern und Schweinen deren Wachstum fördert und den Fleischpreis in die Höhe treibt. Heftiger Protest der Mediziner verringert zwar die antibiotisch stimulierte Aufzucht. Der Protest kommt allerdings zu spät. An der Harvard Medical School in Boston hat sich in den letzten vier Jahren die Zahl der Personen mit VRE verdoppelt. Dr.Carmeli, der im August in "Emerging Infectious Diseases", einem Organ der CDC, die umfangreichste Untersuchung zu Vancomycin-resistenten Enterokokken vorlegen wird, stellt fest: "Die neuesten Antibiotika führen zu einer erschreckend raschen Zunahme der Resistenzen, unabhängig von der Dauer der Behandlung." Aus weiteren Analysen schließen die Forscher:

Die modernen Wirkstoffe verändern die Darmflora. Sie vernichten die normale Enterokokken-Flora, und die Neubesiedelung des Darmes in der Rekonvaleszenz erfolgt dann überwiegend durch die zwischenzei tlich entstandenen resistenten Enterokokken.

Die Verwandtschaft von Enterokokken und Staphylokokken ließ viele Mediziner befürchten, dass es den Vancomycin-resistenen Staphylokkus (VRSA) geben wird. Die ersten Kranken, bei denen die minimale Hemmkonzentration in der Petrischale höher sein musste als üblicherweise, signalisierte in Japan bereits vor 2 Jahren einen drohenden Umschwung. Mit dem Kranken aus Michigan sind die Befürchtungen vom "Superbug", der normale Heilungsprozesse in eitrigen Entzündungen verwandelt, zur Realität geworden. Die wirkliche Überraschung erwuchs allerdings aus dem genetischen Fingerprint. In den Vorstufen war eine deutliche Reorganisation der Bakterienwand aufgefallen, so noch Walsh und Howe von der Universität Bristol in ihrem Übersichtsartikel im Annual Review of Microbiology vom Juli. Die Mikrobiologen vom Centers for Disease Control (CDC) interpretieren die Vancomycin-Resistenz nicht mehr bloß als kleinen Schritt in der Anpassung der schon zuvor auf andere Antibiotika resistent gewordenen Kugelbakterien. "Der genetische Kode spricht vielmehr für ein jumping gene", so Dr.Chang von den CDC. Danach ist die Resistenz sozusagen als Gesamtpaket von den Enterokokken auf die Staphylokokken weiter gegeben worden.

Die heutige Situation im Kampf gegen die menschenpathogenen Bakterien wird demnach prekärer als vor Einführung der Antibiotika. Erinnern wir uns: was über Jahrtausende Leid und Tod brachte, schien mit dem Schlagwort "Antibiose" in den 40er Jahren zum größten Erfolg der Medizin zu werden. In Deutschland entwickelten die Forscher Sulfonamide als Bakterienkiller mit engem Erregerspektrum. Zum begehrten Mitbringsel der alliierten Truppen gehörte jedoch Penicillin, von A.Fleming erkannt und 1941 in London erstmals am Menschen eingesetzt. Von dem frühen universellen Antibiotikum wurden um 1950 etwa 150 Tonnen jährlich hergestellt. Nur ein Jahrzehnt später kam die Ernüchterung: zunehmend weniger Infektionen sprachen auf den außergewöhnlichen Stoff an, weil zwei von drei Kranken penizillin-resistent waren. Die Kugelbakterien hatten sich angepasst, indem die widerstandsfähigen Keime zur Normalpopulation wurden. Seitdem schlagen die Bakterien den Medizinern regelmäßig ein Schnippchen.

Weder das vielgepriesene Breitbandantibiotikum, noch selektive, gegen eine bestimmte Bakterienspezies gerichtete Wirksubstanzen sind von Dauer. Die Antibiotikaforschung ähnelt deshalb dem Wettlauf zwischen Hase und Igel: die Zyklen für die Neuentwicklungen werden beständig kürzer, weil die Bakterien die Resistenz immer rascher in ihren genetischen Kode einpassen. Sollte die Auffassung vom "jumping gene" zutreffen, haben sich die Bakterien ihrerseits formiert und zu einem eigenen Netzwerk zusammengefunden. Neue Abwehrstoffe der pharmazeutischen Industrie können dann noch weniger als bisher vorausgeplant werden.

Die Gründe für das Versagen der Antibiotika sind hausgemacht, wenn auch multifaktoriell. Missbrauch hat zumindest die Geschwindigkeit für das Stumpfwerden der anfänglich wirksamen Stoffe beschleunigt. Da ist die Sorglosigkeit vieler Ärzte und Zahnärzte im Umgang mit der Antibiose und ihren Wirkstoffen. Bei Fieber wird die Ursache nicht dingfest gemacht, oder die triviale Virusgrippe wird unnötig antibiotisch angegangen. Die Erreger werden nicht isoliert und gezielt in wirksamer Konzentration bekämpft, sondern bereits vorsorglich, also blind behandelt. Glaubt man der Zahl der in Deutschland verordneten Arzneimittelpackungen, wird jeder Bundesbürger in jedem Jahr mit 1-2 Antibiotika behandelt - die meisten sicher unnötig. Nicht messbar sind die Mengen, die erlaubt oder unerlaubt in der Tierzüchtung verabreicht werden und unbemerkt die Mikroflora bei den Kontaktpersonen verändern. Zudem verleitet die Gewissheit, das Antibiotikum wird es schon richten, Ärzte und Kranke, die vorsorgliche Desinfektion ebenso wie die tägliche Sauberkeit gering zu achten.

Die Erkenntnisse mit den Vancomycin-resistenten Enterokokken zeigen unmissverständlich: im Krankenhaus liegen die Brutstätten für die Superbugs. Es beginnt auf den Intensiv- und Wachstationen, weil die Schläuche, die in den Kranken gelegt werden, und die postoperativen Wunden typische bakterielle Eintrittspforten sind und bei Entzündungen den Einsatz von Antibiotika erforderlich machen, gegen die solche Bakterien noch nicht resistent wurden. Deshalb erfolgt hier der häufigste Wechsel zu den neuen, von der Arzneimittelindustrie entwickelten Wirkstoffen. Nach der Verlegung auf die Normalstation nimmt der Kranke das Erregerspektrum mit. Kein Wunder also, dass in den USA zwischen 20-35 Prozent der Hospitäler von multiresistenten Kugelbakterien besiedelt sind. Das will heißen: Ärzte, Pflegepersonal und Mobiliar tragen die gefährlich en Keime und sorgen für deren Verbreitung. Dieser Prozess wird durch zunehmend mehr Kranke, jetzt mit Superbugs, unaufhaltsam fortgeschrieben. Dr.Samore, Mitarbeiter der Harvard-Studie, sieht keinen Ausweg; in einem Symposium sagte er: "Kein mittelgroßes Krankenhaus mit jährlich 12 Tausend Patienten kann sich den laborchemischen Aufwand leisten, nach Superbugs zu fahnden. Und wenn schon: wir können Aids-Kranke nicht isolieren, wie sollten wir Superbug-Träger in lebenslange Quarantäne schicken?"

Schon heute, in der Zeit der multiresistenten Bakterien, steht der Arzt vielen Entzündungen innerer Organe machtlos gegenüber. Im Krankenhaus und auf Pflegestationen sterben ebenso viele Menschen an der antibiotika-resistenten Lungenentzündung durch Pneumokokken wie vor Einführung des Penizillins. Superbugs vervielfachen dieses Risiko, weil sie sich an Kranken auswirken, deren Haut aus anderen Gründen weniger widerstandsfähig wird, nämlich bei Zuckerkranken und Personen mit Durchblutungsstörungen. Ein weiteres Risiko ist der ärztliche Eingriff. Mediziner und Pflegekräfte können bei invasiven diagnostischen Verfahren und wie bei allen anderen Eingriffen, ob künstliche Befruchtung, Herzoperation oder Organ-Transplantation die allumfassend resistenten Keime unbeabsichtigt weitergeben. Flüchtigkeitsfehler in der Desinfektion lassen sich nicht restlos vermeiden. Auch aus diesem Grund wird die Krankenhausbehandlung so riskant wie die Blinddarmoperation in der Zeit vor dem Penizillin. Praktisch unkontrollierbar ist die Übertragung der Superbugs in Notfallambulanzen und bei Unfällen, weil die Träger von Superbugs ohne "Gesundheitspass" nicht ausgemacht, und das Umfeld nicht wirklich keimfrei gehalten werden können.

Die Behörden bemühen sich, gar nicht erst das Gefühl von Unsicherheit aufkommen zu lassen. Da das Problem erkannt ist, gehe es jetzt um die richtige Strategie, und die muss in Richtlinien gegossen werden. "Wir wollen einen Schutzwall gegen die Organismen errichten und verhindern, dass die Superbugs weiterverbreitet werden," so Dr.Paton von der kanadischen Gesundheitsbehörde. Angesichts der seit 50 Jahren bekannten Problematik im Umgang mit Antibiotika kann dieser Optimismus nicht überzeugen. Immerhin haben die CDC in den USA seit 1995 klare Empfehlungen verkündet. Vielerorts, wie in Boston durch das Massachusetts Department of Public Health, sind die Verhaltensregeln noch detaillierter dargestellt worden.

Tatsächlich werden wir uns selbst schützen müssen: so wenig Krankenhaus wie möglich, und wenn schon, dann so wenig Eingriffe wie möglich. "Nichtinfizieren ist besser als Desinfizieren" war der Leitsatz in der vorantibiotischen Ära. Dahin werden wir zurückkehren. Bleibt zu hoffen, dass sich die Superbugs in ihrem natürlichen Umfeld, auf der Haut und auf der Darmschleimhaut, weiterhin normal, will sagen symbiontisch, verhalten und nicht noch zusätzlich zu einer neuen Art von Krankheitserregern mutieren.