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Der Ukraine-Krieg als Menetekel

Bild: maxpixel.net

Wir werden in einer Welt leben oder in keiner Welt: Russlands Angriff auf das Nachbarland markiert nach Ansicht von Experten eine Serie von Krisen (Teil 1)

Klima, Krieg, Migration – die Krisen unserer Zeit verschmelzen miteinander. Ihre Ursachen und ihre Folgen umfassen buchstäblich den Erdball. Nationale Autarkie und Souveränität sind angesichts globaler Krisen illusionär. Nur wenn wir einsehen, dass eine Rückkehr zur sogenannten Normalität versperrt ist, haben wir noch eine Chance.

Wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht, um den Ansturm des Hungers zu verhüten und den Zusammenbruch des weltweiten Nahrungssystems zu verhindern.

António Guterres, der Generalsekretär der Vereinten Nationen, warnt mit drastischen Worten vor den globalen Auswirkungen des Ukraine-Krieges [1]. Er übertreibt nicht. Die Welt steuert auf eine Hungerkrise im kommenden Herbst zu, die laut Aussage von Expertinnen und Experten 100 Millionen Menschen oder mehr treffen könnte. Hansjörg Küster, Professor für Pflanzenökologie an der Leibniz-Universität Hannover, spricht [2] sogar von bis zu einer Milliarde Hungernden.

Die Anbaugebiete in Russland und der Ukraine gelten als die Kornkammer der Welt. Etwa ein Drittel der weltweiten Weizenexporte kommt aus dieser Region. Die Ukraine spielt für weitere Agrarrohstoffe eine zentrale Rolle, wie ein Bericht [3] des Redaktionsnetzwerks Deutschland ausführt:

Die Ukraine ist der weltweit wichtigste Exporteur von Sonnenblumenöl, der zweitgrößte Roggen-Produzent für den Weltmarkt nach Australien. Beim Weizen steht die Ukraine an Platz 5 der Exporteure, bei Mais und Raps auf Platz 3.

Jetzt wäre die Jahreszeit für die Frühlingsaussaat, aber Landarbeiterinnen und Landarbeiter sind geflohen oder wurden zum Militär eingezogen. Außerdem ist Treibstoff knapp und Feldarbeit in den umkämpften Gebieten zu gefährlich. Russland wiederum begrenzte Mitte März als Reaktion auf die Sanktionen die Getreideexporte, um den Preisanstieg für Nahrungsmittel im Land einzudämmen.

Weltweite Demonstrationen gegen den russischen Einmarsch in die Ukraine (0 Bilder) [4]

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Die ab dem Spätsommer zu erwartende Verknappung nehmen die Märkte schon jetzt vorweg. Seit Kriegsbeginn am 24. Februar stiegen die Preise für die wichtigen Agrargüter um das Doppelte. Die Tonne Weizen riss mehrmals die Marke von 400 Euro, im Herbst 2021 kostete sie noch zwischen 170 und 190 Euro.

Teil 2: Der Ukraine-Krieg als Menetekel: Ein Wendepunkt der Globalisierung [6]

Gleichzeitig verteuern Krieg, Sanktionen, die allgemeine Unsicherheit und Spekulation die Energie. Auch darunter leidet die Landwirtschaft, denn Diesel, Dünger und Pestizide machen einen großen Teil der Ausgaben der Erzeuger aus.

Die Kosten für Düngemittel und Schädlingsbekämpfung hängen eng mit den Preisen für Erdöl und Erdgas zusammen. Besonders die Herstellung von mineralischem Dünger ist energieintensiv und wird typischerweise mit Erdgas durchgeführt. Fuel, Fertiliser, Food - in einer industrialisierten Landwirtschaft sind sie untrennbar verwoben.

Wegen der gestiegenen Erdgaspreise haben die europäischen Firmen Yara und Borealis angekündigt, ihre Produktion zu drosseln. Russland war bislang ein bedeutender Exporteur von Düngemitteln [7], dessen Lieferungen fürs Erste ausfallen werden. Seit Kriegsbeginn sind die Kosten für 100 Kilogramm Dünger von 23 Euro auf 80 Euro gestiegen, berichten deutsche Bauern.

Der Ernteausfall betrifft nicht nur die Länder, die von den Kriegsparteien direkt beliefert werden. Agrarrohstoffe werden global gehandelt, auf dem Weltmarkt setzt sich ein Preis durch. Die Welternährung hängt von den russischen und ukrainischen Ausfuhren ab, große Regionen können die Bevölkerungen nicht (mehr) selbst versorgen. Wenn russische Panzer in Richtung Kiew rollen und die Felder brach liegen, dann müssen die Armen auf der anderen Seite des Erdballs den Gürtel enger schnallen.

Die Teuerung beeinflusst auch die Lebensmittelpreise insgesamt, weil Mais, Weizen, Soja und andere Ölsaaten die Basis für die meisten Nahrungsmittel bilden. Martin Banse [8], Direktor des Instituts für Marktanalyse am Johann Heinrich von Thünen-Institut und ein Experte für den internationalen Agrarhandel, erklärt:

Diese Produkte dienen nicht nur als Grundlage für Nahrungsmittel wie Brot, Pflanzenöle, sondern auch Tierfutter. Deutlich steigende Preise für Getreide und Ölsaaten treiben somit auch die Kosten für die tierische Erzeugung in die Höhe.

Deshalb werden aller Voraussicht nach die Preise für Milch, Milchprodukte, Schokolade, Bier und Fleisch weiter steigen, weltweit und auch in Deutschland.

Ukraine-Krieg: Die Krise vor der Krise

Die globale Nahrungsproduktion litt bereits vor dem Ukraine-Krieg unter wachsenden Problemen, sagt Martin Banse:

Die Marktsituation insbesondere bei Weizen war schon vor Ausbruch des Krieges durch niedrige Lagerbestände und hohe Preise angespannt. Deswegen reagiert der Markt jetzt mit diesen extremen Preisausschlägen.

Die Preise für Getreide, Ölsaaten und anderen Lebensmittel erreichten zum Jahreswechsel den höchsten Stand seit 20 Jahren. Die Ursachen sieht der Agrarökonom in der wachsenden Nachfrage auf dem Weltmarkt und den hohen Kosten für Energie, Transport und Düngemittel. Ähnlich sieht es Sebastian Hess vom Institut für Agrarpolitik und landwirtschaftliche Marktlehre an der Universität Hohenheim.

Die globalen Agrarmärkte waren ohnehin seit einigen Monaten durch relative Rohstoffknappheit und steigende Preise geprägt.

Mit dem Angriff auf die Ukraine gießt das russische Regime noch einmal kräftig ins Feuer. Aber welche Ursachen hat die Teuerung auf den Energie- und Agrarmärkten? Die Covid-19-Pandemie schränkt seit 2020 die landwirtschaftliche Produktion ein und verzögert Lieferungen. Die Entwicklung geht aber über ein vorübergehendes Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage hinaus.

Zu den Preistreibern zählt die ökologische Krise, weil zunehmende Dürren, veränderte Niederschlagsmuster, Starkregen und Stürme die landwirtschaftlichen Erträge mindern. 2021 haben die Wetterextreme in zahlreichen Regionen zu schlechten Ernten geführt.

Der Klimawandel trägt auch zur Teuerung von Energie und Industrierohstoffen bei. Wegen einer starken Dürre in China mussten im Frühjahr 2021 viele Wasserkraftwerke die Produktion drosseln. Außerdem erhöhte eine ungewöhnliche Hitzewelle im Sommer den Strombedarf für Klimaanlagen. Die so entstandene Stromknappheit in China verstärkte die Nachfrage auf den Weltmärkten nach Kohle und Erdgas und trieb die Preise nach oben. Die häufigeren Wetterextreme beeinflussen schließlich die Transportkosten. All das hemmt die Produktivität im Agrarsektor, eine Tendenz, die künftig immer stärker werden wird.

Die höheren Preise für Grundnahrungsmittel und Energie beeinflussen auch die Arbeitskosten, die steigenden Kosten hemmen das Wirtschaftswachstum insgesamt. Die zunehmende Wasserknappheit verschärft übrigens auch den sogenannten Chipmangel.

Weil 2021 der Monsun in Taiwan praktisch ausfiel, sah sich die Regierung gezwungen, Wasser zu rationieren, auch für die Halbleiterindustrie, die große Mengen davon benötigt. Die taiwanesische Produktion deckt etwa zwei Drittel des weltweiten Halbleiter-Marktes. Kurz, auch die ökologischen Verwerfungen tragen zur Lieferkettenkrise bei.

Steht die Welt vor einer Welle von Revolten?

Die Zahl der Unterernährten steigt seit 2015 wieder an, nachdem sie Jahrzehnte lang zurückgegangen war. Im Jahr 2021 hatten laut dem UN-Welternährungsprogramm 957 Millionen Menschen nicht genug zu essen. Die kommende Teuerung von Energie und Nahrung trifft die ärmsten Menschen und Länder besonders hart, denn sie müssen einen größeren Teil ihrer Einkommen dafür ausgeben.

Die steigenden Weizenpreise machen die Kommentatoren nervös.

Die gegenwärtigen Marktreaktionen mit Preisnotierungen für Weizen von über 400 US-Dollar pro Tonne deuten eine Aufwärtsentwicklung an, die höher liegt als in der "Nahrungsmittelpreiskrise"

Das sagt Martin Banse. Als die Kosten für Lebensmittel 2007 und 2008 in die Höhe schossen, trug die entstehende Unzufriedenheit viel zu den Aufständen des Arabischen Frühlings bei, die scheinbar stabile Regime in Nordafrika und dem Nahen Osten in kurzer Zeit reihenweise zu Fall brachten.

Wird die gleiche Dynamik einsetzen, wenn im Sommer oder Herbst Brot und Diesel für viele unerschwinglich werden? In zahlreichen Ländern des Nahen Ostens, Afrikas und Asiens werden Grundnahrungsmittel und Treibstoff vom Staat stark subventioniert und so die Preise unter einer gewissen Schwelle gehalten.

Die Herrschenden wissen seit jeher, dass bei steigenden Brotpreisen der Umsturz droht. Aber die finanziellen Möglichkeiten der Staaten im Globalen Süden zu dieser Subventionierung sind begrenzt, schon deshalb, weil sie sich nur begrenzt auf den Finanzmärkten Kredit verschaffen können. Eine Erhöhung der Zinsen könnte ohnehin viele von ihnen zahlungsunfähig machen.

Trotzdem werden sie sich bemühen, die Teuerung abzufedern, aber Protest und Aufruhr sind zu erwarten, besonders in südamerikanischen, asiatischen und afrikanischen Krisenregionen mit urbanen Zentren. Bürgerkriege, zwischenstaatliche Konflikte und massenhafte Flucht könnten abermals zunehmen, so wie es nach dem Scheitern des Arabischen Frühling der Fall war.

Multilateralismus? Kaputt!

Während der Lebensmittelpreis-Krise 2008 erließen viele Regierungen Exportverbote und bemühten sich um bilaterale Abkommen mit den Erzeugerländern, um bevorzugt beliefert zu werden. Indem sie Getreide horteten, vergrößerten sie allerdings die Knappheit anderswo. Auch das könnte sich dieses Jahr wiederholen, befürchtet die Food and Agricultural Organisation (FAO) der Vereinten Nationen. Sie appelliert [9] an die Regierungen, die Märkte offenzuhalten:

Besonders Exportbeschränkungen müssen vermieden werden; sie verschlimmern die Preisschwankungen, begrenzen die abfedernde Wirkung des Weltmarktes und haben mittelfristig negative Folgen. Die Markttransparenz und der politische Dialog sollten intensiviert werden. Beides spielt eine Schlüsselrolle, wenn die Agrargütermärkte unter Unsicherheit leiden.

Die Warnung dürfte auf taube Ohren stoßen, die Regierungen werden voraussichtlich abermals Vorräte horten und Ausfuhren unterbinden.

Dieses Verhaltensmuster zeigten sie jedenfalls in sämtlichen internationalen Krisen seit dem Arabischen Frühling. Während der ersten Welle von Covid-19 kauften selbst die Mitgliedsländer der Europäischen Union einander Medikamente und Beatmungsgeräte weg und schlossen ihre Grenzen. Kurz darauf scheiterte eine effektive globale Verteilung der Impfstoffe aufgrund von nationalen Manövern und Sonderverträgen mit den Herstellerfirmen.

China, Russland und USA sabotierten ein abgestimmtes Vorgehen im Rahmen des WHO-Programms Covax und betrieben stattdessen eine bilaterale Impfdiplomatie, um befreundete Nationen und Partner an sich zu binden.

Belastungsproben ausgesetzt, versagt die sogenannte Staatengemeinschaft mittlerweile regelmäßig.

Unter "Multilateralismus" werden zwei verschiedene Dinge verstanden - einerseits die Gleichbehandlung aller Handelspartner (mit dem Kern der Meistbegünstigungsklausel [10]), andererseits ein integratives Vorgehen bei internationalen Problemen. Beides ist gegenwärtig in einer tiefen Krise. Dass es einen allseitigen Vorteil überhaupt geben könne, scheint kaum noch vorstellbar, weil das übergeordnete Interesse darin besteht, den Konkurrenten zu schaden.

Die eskalierenden geopolitischen Auseinandersetzungen zwischen Welt- und Mittelmächten verhindern, dass Krisen kontrolliert und aufgelöst werden, ob es sich um eine Pandemie, Migration, Hunger oder Klimawandel handelt – allesamt Probleme, die sich nur global und kooperativ lösen lassen. Obwohl ihre Folgen immer krassere Formen annehmen und keine Nation sich ihnen ganz entziehen kann, hofft man darauf, dass die Katastrophen "den strategischen Gegner" härter treffen als einen selbst.

Gleichzeitig aber zeigt der Ukraine-Krieg, wie groß die gegenseitige Abhängigkeit ist. Der Versuch des "Transatlantiks", sich auf allen Ebenen von Russland zu entkoppeln, wird zu heftigen Verwerfungen führen. Das Wegbrechen des russischen Marktes kann die deutsche Exportindustrie noch verkraften, schwieriger wird es bei den Energiekosten.

Auch einige wichtige Wertschöpfungsketten sind betroffen. Beispielsweise dürfte sich der Chipmangel noch verschärfen, weil die russischen Ausfuhren von Aluminium und Palladium zurückgehen.

Die Ursachen von Krieg, Migration und Klimawandel sind miteinander verwoben, sie sind gleichzeitig ökologisch, wirtschaftlich und politisch. Zu einer Ursachenbekämpfung scheint die sogenannte Weltgemeinschaft allerdings nicht in der Lage zu sein.


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Links in diesem Artikel:
[1] https://news.un.org/en/story/2022/03/1113882
[2] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/weizen-aus-der-ukraine-ohne-das-getreide-droht-eine-hungersnot-17876452.html
[3] https://www.rnd.de/politik/warum-bangladesch-hungert-wenn-in-der-ukraine-krieg-ist-UNSGRMEAFRGQTJECBD36DCFGHA.html
[4] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_6545246.html?back=6594057;back=6594057
[5] https://www.heise.de/bilderstrecke/bilderstrecke_6545246.html?back=6594057;back=6594057
[6] https://www.heise.de/tp/features/Der-Ukraine-Krieg-als-Menetekel-Ein-Wendepunkt-der-Globalisierung-6600051.html
[7] https://www.heise.de/tp/features/Preisexplosion-bei-Duengemitteln-eine-Chance-fuer-die-Agrarwende-6548738.html
[8] https://www.thuenen.de/de/ma/personal/institutsleitung/dir-u-prof-pd-dr-martin-banse/
[9] https://t.co/cng5mresxH
[10] https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/meistbeguenstigungsklausel-40940