Der Ukraine-Krieg und seine Folgen für Russland
Lage in Ostukraine spitzt sich zu. Kämpfe hinterlassen massive Schäden an Mensch und Material. Perspektive für Russland ist düster.
Offiziell wollte man in der Ostukraine ethnische Russen schützen und deren Territorien und die Krim endgültig eingliedern. Nach über zwei Jahren belasten Hunderttausende getötete ukrainische wie russische Soldaten und Zivilisten und zerstörte Gebiete mit allen ökonomischen und ökologischen Folgen das Schuld-Konto der Russischen Föderation, deren Führung zudem ihr eigenes Land und dessen Ansehen ramponiert hat.
Realistisch ist ein Szenario, bei dem Russland nach einem Ende der Kämpfe aus dem Krieg geschwächt herauskommt: politisch instabiler und autoritärer, sozial und regional tiefer gespalten, militärisch enger umstellt, mit weniger internationalem Einfluss.
Die Bevölkerung, die Familien bezahlen diesen Krieg mit dem Leben der Soldaten. Wie schon in den acht Jahren des sogenannten Bürgerkrieges in der Ostukraine sind dessen Ereignisse und Spuren von Anfang an auch in den grenznahen Gebieten im Westen Russlands sichtbar. Wie hoch Verluste und Brüche im Land noch werden, hängt von der Dauer des Krieges ab.
Innenansichten als Momentaufnahmen
Im Oktober 2023 behaupteten bei Umfragen des regierungsunabhängigen Lewada-Zentrums noch 83 Prozent der Befragten in Russland, dass sie in "guter bis normaler Stimmung" leben, nur 17 Prozent verspüren "Unruhe und Ängste".
Dabei sind junge Leute unter 24 Jahren mit 13 Prozent weniger besorgt als die Älteren über 55 Jahren mit 27 Prozent. Gutsituierte sind zu 84 Prozent zufrieden und nur zu zwölf Prozent beunruhigt. Bei Menschen, die sich mit ihrem Einkommen gerade so Essen und Kleidung leisten können, ändert die Kriegssituation für 83 Prozent nichts, 14 Prozent fühlen sich beunruhigt.
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Die Zahlen halten sich seit einem Jahr auf diesem Niveau. Der Zustand des Landes im Krieg scheint inzwischen als Normalität empfunden zu werden, dem die Bevölkerung sich angepasst hat.
Widersprüche und Unterschiede sind jedoch unübersehbar. Walerij Fjodorow, Chef von Russlands führendem Meinungsforschungsinstitut WZIOM, machte vier Bevölkerungsgruppen aus, die das Maß an Betroffenheit durch die Folgen der "militärischen Spezialoperation" unterscheidet.
Die Russen aus Sicht des Kremls
Gruppe eins ist "das kämpfende Russland". Hierzu zählt er die Familien der Armeeangehörigen, Soldaten, Mobilisierten und Freiwilligen, die Bevölkerung in Westrussland, ethnisch russische Kriegsflüchtlinge oder Übersiedler aus der Ukraine seit 2014, aber auch die Anhänger/Befürworter einer starken Rolle des Militärs im Staat.
Letztere sollen etwa 15 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Zweitens beschreibt Fjodorow das "hauptstädtische Russland" als Mischung vergleichsweise komfortabel und privilegiert lebender Leute in Millionenstädten, die trotz des Wegfalls globalisierter Jobs und Geldquellen weiter versuchen, Lebensstandard und Normalität zu erhalten.
"Das tiefe Russland"
Als dritte Gruppe wird "das tiefe Russland" benannt, Menschen in Gebieten abseits großer Zentren in der ferneren Provinz, wo Versorgungs- und Lebensbedingungen immer vergleichsweise schwierig waren und sich der Alltag deshalb kaum geändert hat.
Als das "ausgereiste Russland" werden, viertens, die Emigranten ausgemacht, die nach Beginn des Krieges und der Teilmobilisierung im September 2022 ins Ausland gingen. Neben politisch kritischen, bedrohten und verfolgten Personen und Kriegsdienstverweigerern zählen hierzu auch Leute, die wegen internationaler Sanktionen ihre Erwerbsarbeit auf dem Territorium der Russischen Föderation (RF) nicht weiter ausüben können. Es dürfte mittlerweile über eine Million Menschen sein, die in postsowjetische Länder, die EU, die Türkei und andere Länder ausgereist sind.
Die Umfragen in Russland
Umfrageergebnisse zur sogenannten öffentlichen Meinung – zum Krieg, zur allgemeinen Entwicklung sowie dem Handeln von Präsidenten und Regierung – lesen sich im Sinne der herrschenden Macht relativ positiv, aber widersprüchlich. Bei Befragungen im Oktober 2023 sichern 76 Prozent der Armee ihre Unterstützung zu, nur 16 Prozent sagen Nein.
Aber nur 62 Prozent meinen, die Armee kämpfe erfolgreich. Gleichzeitig befürworten 55 Prozent der russischen Bürger sofortige Friedensverhandlungen, vier Prozent mehr als im Vormonat. Nur 38 Prozent setzen weiter auf Kampfhandlungen allein. Kriegseuphorie unter der Bevölkerung sähe anders aus.
Ausnahmezustand auf Dauer
Mit Kriegsbeginn wurden in der Russischen Föderation offiziell weder der Kriegszustand noch ein Ausnahmezustand erklärt. Der sprichwörtliche "Drucker im Kreml" musste pausenlos arbeiten, um Hunderte von Gesetzen auszuspucken, die die Duma allein im ersten halben Jahr durchwinkte.
Diese schränken politische Grundrechte und Freiheiten ein, fesseln Presse und Medien, die Freiheit von Kunst und Wissenschaft.
Je länger die Kämpfe andauern und größer die Probleme im Land werden, umso eifriger sind Abgeordnete verschiedener Fraktionen beim Ausmachen von Gegnern im eigenen Land und in patriotischer Rhetorik.
Alle politischen, demokratischen, grundrechtlichen und zivilgesellschaftlich-emanzipatorischen Räume sind und werden radikal verengt; staatliche Einschränkung und Verfolgung individueller und oppositionell organisierter Meinungsfreiheit, politischer Betätigung gegen den Krieg ist Alltag.
Das wird wohl mit dem Ende des Krieges so bleiben. Niemand erwartet, dass diese Gesetzesänderungen, Regelungen oder politischen Urteile mit einer Waffenruhe oder dem erklärten Ende der "Spezialoperation" zurückgenommen werden. Das System rutscht weiter in Richtung Diktatur.
Bei alledem bleibt das "Phänomen Putin" offensichtlich genauso wirkmächtig wie das "russische Narrativ" akzeptiert wird und identitätsbildend wirkt. Mit dem Handeln des Präsidenten zeigten sich 2023 im November 85 Prozent der befragten Menschen in Russland zufrieden, das sind fünf Prozent plus im Vergleich zum September, als noch 17 Prozent gegen ihn sprachen.
Das tun im November nur noch 13 Prozent. Selbst bei allem Misstrauen in die Ergebnisse von Umfragen und Wahlen in Russland muss man davon ausgehen, dass Wladimir Putin seit seiner Wiederwahl 2012 zu keinem Zeitpunkt das Vertrauen der Bevölkerungsmehrheit verloren hat.
Langfristig belegen die Umfragen, dass dies keine Selbstverständlichkeit ist: Die Erhöhung des Rentenalters 2018 quittierte die Bevölkerung als Verrat Putins mit Protesten und Umfragewerten zwischen 60 und 70 Prozent.
Das "Phänomen Putin" basiert zuerst auf sozialen Erfahrungen der als traumatisch erlebten "Ära Jelzin" nach dem Ende der UdSSR 1991 und dem daraus folgenden Zusammenbruch von Staat und Ökonomie.
Danach gelang es der Macht im Kreml mit Putin, das Land zu stabilisieren und die Lebensverhältnisse für die breite Bevölkerung zeitweise zu verbessern, auch wenn die Korruption blieb. Es blieb der Wunsch nach "Stabilität" durch einen starken Staat.
Das Bewusstsein für den entrichteten Blutzoll nach dem Überfall und dem Sieg über Hitlerdeutschland einerseits und der Verliererstatus nach dem Kalten Krieg andererseits begründen die Zustimmung zu Putins Außen- und Sicherheitspolitik. Nach wie vor herrscht die Illusion, der Präsident würde über den politischen Lagern stehen.
Jenseits von Autorität, Repression und Populismus fußt Putins Popularität vor allem darauf, dass er in jeder Generation und jeder gesellschaftlichen Schicht seine Anhänger hat. Für alle relevanten politischen Parteien und Richtungen fungiert er als "Sicherheitsgarant" und somit als eine Art kleinster gemeinsamer Nenner: Für Liberale, Neoliberale und russische Nationalisten ist er der Garant gegen die befürchtete Rückkehr von Kommunismus und Stalinismus.
Für die KPRF garantiert er ein Minimum an Sozialstaat und das Fernhalten der Ultranationalisten von der Macht.
Sein System bindet die Oligarchen ein und sichert ihre Profite, scheint sie jedoch irgendwie in Schach zu halten. Und fast alle schätzen Putin dafür, dass er Russlands Rolle international gestärkt hat und nicht – wie Jelzin – eine westliche Demokratie propagiert, die dem Land nur Verachtung, Unterwerfung und den Ausverkauf einbrachte.
Suchbewegungen in der Sackgasse
Im Frühjahr 2023 wurde die neue außenpolitische Strategie Russlands offiziell vorgestellt. Damit ist die Abwendung vom sogenannten westlichen Entwicklungsmodell vollzogen und Russlands Selbstzuordnung als stabiler Partner der EU überholt.
Die Priorität der eigenen Entwicklung mit Ausrichtung auf China, Indien, Lateinamerika wurde manifestiert. Der einstige Plan B (Eurasien und Brics plus) wurde zur strategischen Grundlage. Russland stellt das als Folge des Verrats durch den transatlantischen Westen dar, der darauf abzielt, "Russland auf jede erdenkliche Weise zu schwächen, seine schöpferische zivilisatorische Rolle, seine Macht, seine wirtschaftlichen und technologischen Fähigkeiten zu unterminieren, seine Souveränität in der Außen- und Innenpolitik einzuschränken und seine territoriale Integrität zu zerstören."
Die Russische Föderation habe diesen Kurs nicht gewählt und "betrachtet sich nicht als Feind des Westens, isoliert sich nicht von ihm, hegt keine feindlichen Absichten ihm gegenüber und erwartet, dass die Staaten der westlichen Gemeinschaft in Zukunft die Sinnlosigkeit ihrer Konfrontationspolitik und ihrer hegemonialen Ambitionen erkennen, die komplexen Realitäten einer multipolaren Welt berücksichtigen und zu einer pragmatischen Interaktion mit Russland zurückkehren."
Die Vision vom gemeinsamen Wirtschaftsraum "von Lissabon bis Wladiwostok" ist genauso endgültig gescheitert, wie sich die bis vor Kurzem noch unerschütterliche Hoffnung Russlands auf eine privilegierte Partnerschaft mit Deutschland als ökonomischer Vormacht Europas als Illusion erwies.
Russland ist an der Seite Chinas nicht ebenbürtiger, sondern ökonomisch schwächerer Partner und davon abhängig, seine Rolle als Rohstofflieferant und -markt spielen zu können.
Dem Macht-System in Russland ist es über zwanzig Jahre nicht gelungen, den Reichtum an Ressourcen und die Gewinne aus deren Verkauf dazu zu nutzen, die Wirtschaft nachhaltig zu modernisieren, um internationale Macht nicht nur auf Abhängigkeiten durch Handel und militärischer Stärke aufzubauen.
Das durch die Kriegswirtschaft forcierte "Weiter so" ist tatsächlich keine Umkehr, sondern führt ökonomisch und außenpolitisch tiefer in die Sackgasse. Die Suche nach neuen Wegen oder Alternativen für Russland würde einen Realitätscheck und eine Debatte voraussetzen, die öffentlich während des Krieges kaum führbar ist.