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Der gelähmte Moloch

Was vom 19. Bundestag zu erwarten ist

Es gibt so etwas wie das "eherne Gesetz" des Parlamentarismus. Es lautet: Je größer ein Parlament, desto undemokratischer ist es.

Das größte Parlament der Welt ist der Nationale Volkskongress in China mit 2.987 Mitgliedern. Eine reine Staffage zum Abnicken von Entscheidungen der Parteiführung. An zweiter Stelle steht das Europäische Parlament mit seinen 751 Mitgliedern. Es hat sehr viel zu sagen, das heißt, es darf pausenlos quasseln, aber nichts entscheiden. Für Entscheidungen ist die Europäische Kommission zuständig. An dritter Stelle kommt der Deutsche Bundestag mit 709 Abgeordneten. Aufs Abnicken versteht der sich auch - und wie. Und an vierter Stelle steht die Oberste Volksversammlung von Nordkorea mit immerhin noch 687 Delegierten. Die dürfen auch nur akklamieren.

Selbst Riesenländer wie die USA, in denen einzelne Bundesstaaten wie Kalifornien oder Texas größer als ganz Deutschland sind, kommen in ihrem Repräsentantenhaus mit gerade mal 435 Abgeordneten aus.

Wozu also braucht man ein solch gewaltiges Gremium, wenn die Mehrheit seiner Mitglieder ohnehin nur abnickt, was die Regierung beschließt? Genau dazu: zum Abnicken. Handlungsfähig sind solche Superstrukturen überhaupt nicht. Sie stehen sich selbst im Wege. Und das ist ihr höherer Sinn: Sie sollen nicht entscheiden. Sie sollen abnicken, was anderswo entschieden wird. Dazu können sie gar nicht groß genug sein. Denn durch das geschäftige Gewusel der vielen Parlamentarier entsteht der falsche Eindruck größter Wichtigkeit und bedeutsamer Aktivität. Doch in Wahrheit stehen die einander meistens gegenseitig im Weg.

Gewiss sind verlässliche Vorhersagen über das künftige Verhalten des neuen Parlaments am Anfang schwer möglich. Dazu gibt es zu viele Unwägbarkeiten. Aber so manches ist auch wägbar. Gewiss ist, dass die ebenso wilde wie fragile Mischung aus Pechschwarzen, Schwarzen, Grünen und Gelben fortan stärker auf Fraktionsdisziplin wird achten müssen als noch die große Koalition, die ja über eine kommode Mehrheit verfügte und die Zügel auch mal hätte schleifen lassen können. Hat sie aber trotzdem nicht: In Sachen Fraktionsdisziplin waren die zu allen Zeiten beinhart.

Gewiss ist auch, dass die parlamentarischen Debatten etwas aggressiver, aber wohl kaum geistreicher werden. Die Parteien werden ihre Gegensätze stärker hervorheben müssen, aber nicht ihr intellektuelles Niveau. Die große Koalition hat die Leichenstarre in die parlamentarischen Debatten einkehren lassen, das neue Parlament wird die grölende Parteienkeilerei wieder fröhliche Urständ' feiern lassen. Ob das ein Fortschritt ist?

Falls Parlamentarier überhaupt jemals etwas zu sagen gehabt haben sollten, so ist das schon lange her: Die Masse der Parlamentarier nimmt an Entscheidungen des Parlaments nur noch dadurch teil, dass sie ihrer Fraktionsspitze folgen und deren Wünschen entsprechend abstimmen. Daran kann sich wenig ändern; denn der Zwang zu primitiv polarisierender Keilerei liegt im System der parlamentarischen Debatte zwischen Regierung und Opposition, bei der es auf Betonung der Gegensätze und dessen, was beide trennt, ankommt und eben nicht darauf, Sachverhalte klärend zu erörtern. Der tiefere Grund dafür, dass die "normalen" parlamentarischen Debatten so unsäglich niveaulos und primitiv sind, liegt eben nicht darin, dass die Abgeordneten primitive Menschen sind. Er liegt in der politischen Struktur, in die parlamentarische Debatten eingebettet sind. Die Struktur macht aus klugen Menschen rechthaberisch auftretende Idioten. Mit dem Zerfall der großen Koalition, dem Eintritt der SPD in die Opposition und dem Hinzukommen der AfD dürfte das Pendel im neuen Bundestag wieder in Richtung polarisierender Keilerei ausschlagen.

Die Debattenkultur in den Parlamenten ist tot

In der Frühzeit des Parlamentarismus entstanden das Ideal und die Realität der klassischen parlamentarischen Debatte: Hochgebildete und hochintelligente Meister der gehobenen Rhetorik tauschten in brillanter Rede geistreich Gedanken miteinander aus.

Diese Form der geistvollen parlamentarischen Debatte gibt es nicht mehr. Sie ist tot. Sie ist unwiederbringlich auf dem Altar der Parteiendemokratie geschlachtet worden. Roger Willemsen spricht gar davon, der Bundestag sei nur noch das "Leichenschauhaus der parlamentarischen Idee".1 [1] Und das Bestürzende daran ist: Er übertreibt noch nicht einmal.

Als Instrument der Streitkultur ist die klassische Überzeugungsdebatte unter dem Einfluss des politischen Parteiensystems, der Fraktionsdisziplin und der Verbreitung von Parlamentsdebatten in Funk und Fernsehen für alle Zeiten ausgerottet worden, weil es im Parlament niemanden mehr gibt, den man überzeugen müsste. Da sind ja alle schon willige Parteigänger der eigenen Fraktion.

Die parlamentarische Diskussion und das Aushandeln von Gesetzen und Verordnungen sind de facto nicht mehr als ein Schattenboxen. Ein Schaukampf. Denn die Entscheidungen, um die es geht, sind längst gefallen, bevor die Debatte überhaupt begonnen hat. Der demokratische Diskurs ist in den heutigen Parlamenten zur bloßen Eristik verkommen, zur Kunst, um jeden Preis Recht zu behalten, zur blöden Rechthaberei. "Eristische Dialektik" nannte der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788-1860) ein posthum veröffentlichtes Werk, in dem er 38, nicht immer ganz ernst gemeinte rhetorische Kunstgriffe beschrieb, die es ermöglichen sollen, aus Streitgesprächen als Sieger hervorzugehen - und zwar auch dann, wenn Tatsachen gegen die eingenommene Position sprechen. Er verstand die Kunstgriffe als Beispiele für rabulistische Argumentation.

Es geht nicht mehr darum, andere Parlamentarier zu überzeugen. Die Fronten bestehen so oder so und können durch noch so überzeugende Rhetorik nicht mehr erschüttert werden. Es geht auch nicht mehr darum, parlamentarische Mehrheiten zu gewinnen oder zu verändern. Auch die stehen längst fest. Die Entscheidungen sind getroffen und sind vor Beginn der Debatte unverrückbar.

Eigentlich bräuchte man überhaupt nicht mehr darüber zu reden; denn das Reden wird so oder so an den getroffenen Entscheidungen nichts mehr ändern. Es geht ausschließlich darum, in den Parteien, den Fraktionen oder sonst wo im Vorfeld der Debatte getroffene Entscheidungen vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Das Stichwort lautet nicht mehr "parlamentarische Debatte mit Niveau", sondern "Schlagabtausch".

Parlamente sind als Austragungsstätten für leeres Geschwätz konzipiert

Kritiker werfen den Parlamentariern manchmal vor, dass sie ihre Reden "zum Fenster hinaus" halten. Was für ein Aberwitz! Alle parlamentarischen Reden werden "zum Fenster hinaus" gehalten. Parlamentarische Reden werden nur noch "zum Fenster hinaus" gehalten. Das gilt als Notwendigkeit noch viel mehr für die Jamaikakoalition, falls die denn je zu Stande kommen sollte.

Mit dem Parlamentarismus eng verknüpft war ja stets die naive Vorstellung, dass so etwas wie eine Regierung durch kultivierte Debatte möglich sei, dass also die Vernunft von Entscheidungen wie einst Phoenix aus der Asche aus Diskussionen emporsteigen könne - so wie das aus den geistreichen Debatten im antiken Athen und Rom möglich gewesen sein soll. In den hoch ritualisierten Debatten moderner Parlamente ist von vornherein jede Hoffnung darauf begraben, dass aus dem primitiv-rechthaberischen und dennoch zahnlosen Parteiengebrüll auch nur Rudimente von Vernunft hervorgehen könnten.

Um überhaupt möglich zu sein, müsste eine konstruktive Streitkultur in irgendeiner Weise institutionalisiert sein, also etwa dadurch, dass eine seriöse Debatte wenigstens dazu führen kann, dass einzelne Abgeordnete anders abstimmen und sich womöglich gar die Mehrheitsverhältnisse ändern. Doch das ist im neuen Bundestag noch weniger der Fall als in den vorangegangenen.

Denn wenn das möglich wäre, bräche unweigerlich das bestehende Gleichgewicht der Kräfte in jedem Parlament zusammen. Das wiederum ist aber durch die Rolle der politischen Parteien und der Fraktionen völlig ausgeschlossen. Jede Änderung der Mehrheitsverhältnisse gefährdet die Regierung. Und weil das so ist, erscheint es ausgeschlossen, und zwar total. Folglich gibt es keinerlei Anreiz zur kultivierten oder auch nur halbwegs zivilisierten Debatte. Im Gegenteil, die "Regierungsparteien kontrollieren das Kabinett nicht, vielmehr begleiten sie sein Tun rühmend und dankend. Die Opposition sieht ohnmächtig zu und wird angesichts der langen vergeblichen Arbeit unbeherrschter und böser", schreibt Roger Willemsen.

Verbaler Schlagabtausch und dröhnende Rhetorik

Deshalb geht es bei parlamentarischen Debatten vorwiegend nur darum, ein bisschen gegen die jeweiligen Gegner zu pöbeln. Und da primitive Pöbelei beim Publikum nicht so gut ankommt, findet im Plenum stets nur ein verbaler "Schlagabtausch" statt. Aber selbst den will das Publikum inzwischen auch nicht mehr hören. Er ist ja auch geistlos und langweilig und führt zu gar nichts. Darauf wird man sich im neuen Bundestag mit seinen sechs Fraktionen, zwei mehr als der vorherige, einrichten müssen. Die stehen allesamt unter dem Zwang, sich voneinander deutlich abzuheben.

Das altehrwürdige Ritual der parlamentarischen Debatte ist schon vor langer Zeit zur billigen Show verkommen. Und da es überhaupt nicht mehr darum geht, die Debattenteilnehmer der anderen Fraktionen zu überzeugen, zu beeinflussen und sie mit Argumenten zu konfrontieren, die sie beeindrucken könnten, können die Redner der Gegenseite getrost aggressiv attackiert werden - geht es doch vor allem darum, sie möglichst effektvoll zu demontieren.

Das Resultat dieses Verfalls der Debattenkultur ist ein niveauloses Schmierentheater, in dem die Beteiligten rabaukenhaft gegeneinander auskeilen - einer der Gründe für die in vielen Jahren gewachsene Politikverdrossenheit großer Teile der Bevölkerung: Das einfältig-rechthaberische und selbstgefällige Gewäsch parlamentarischer Debattenredner ist dem Publikum längst zuwider. Verbale Prügeleien und wechselseitige Schuldzuschreibungen sind das genaue Gegenteil dessen, was ein Volk mit Fug und Recht von einem Parlament erwarten kann.

Der Niedergang der Debattenkultur in den Parlamenten steht allerdings in eklatantem Gegensatz zu den Notwendigkeiten unserer Zeit. Auch dies ein Indiz dafür, dass die Welt der entwickelten repräsentativen Demokratien aus den Fugen geraten ist.

Niemand zeigt die unerträgliche Nichtswürdigkeit parlamentarischer Debatten unverhohlener als die Abgeordneten selbst. Wer sich davon überzeugen will, sollte nur einmal in einer Plenardebatte des Bundestags dabei sein oder sie wenigstens im Fernsehen anschauen.

Während sich ein Redner einer Fraktion am Rednerpult abmüht, lümmeln sich die wenigen anwesenden Abgeordneten wie die Flegel von der letzten Bank in ihren Sitzen. Die meisten bleiben der Debatte sowieso fern. Diejenigen, die anwesend sind, lesen derweil in der Zeitung oder in sonst irgendetwas, fummeln wie die Pennäler an ihrem Handy, unterhalten sich mit anderen Kollegen, lachen blöd oder telefonieren. Der eine oder andere hält auch schon mal ein Nickerchen. Dass jemand einem Redner zuhört, kommt auch vor, ist aber eher selten.

Wer da zuschaut, bekommt unweigerlich den Eindruck, dass da eine Horde von Neandertalern direkt aus der Wildnis ins Bundestagsplenum verpflanzt und in Einheitsanzüge mit Schlips gesteckt wurde und nun nach Affenart mit den vorhandenen Geräten herumspielt.

Natürlich klatschen die schon aus Prinzip nur dann, wenn ein Vertreter der eigenen Fraktion spricht - egal, was der so sagt. Aber da klatschen sie viel. Schließlich ist der Laden ja dafür da, dass man immer nur den eigenen Leuten zujubelt. Wenn jemand von der Gegenfraktion spricht, gähnen alle anderen demonstrativ oder zerstreuen sich sonst wie, bloß nicht mit Zuhören. Und bei jemandem von der Gegenseite würden die anderen wohl nur dann klatschen, wenn der verkünden würde, er wolle seine Fraktion verlassen.

Die klassische Debatten(un)kultur passt nicht mehr

Das Informations- und Kommunikationszeitalter erfordert eine neue Diskurskultur. Der banale Streit darum, wer jetzt gerade Recht hat und schon immer Recht hatte oder die besseren Konzepte verficht, ist nicht mehr zeitgemäß. Er ist verantwortungslos. Gebraucht wird eine Lösungskultur und ein gemeinsamer Lösungsdialog, der Parteigrenzen überwindet, nicht sie aber in Stein meißelt.

Aber eine Diskurskultur, die Lösungen für Probleme zu erarbeiten versucht, kann aus einer parlamentarischen Parteiendemokratie aus strukturellen Gründen nicht hervorgehen. Man kann sich das von Herzen wünschen - so wie den Weltfrieden. Aber der wird deshalb auch nicht kommen. Die Struktur der Parlamente in Parteienstaaten mit ihren Regierungsmehrheiten und Oppositionsminderheiten, ihren Fraktionen und ihrem Fraktionszwang steht einer lösungsorientierten Diskurskultur entgegen und macht sie unmöglich.

Es hilft nicht, wenn man bloß über die Politiker und ihre nichtssagenden Reden in den Parlamenten schimpft; denn dahinter stehen institutionelle Zwänge, und erst wenn diese beseitigt sind, würde eine parlamentarische Redekultur möglich sein, bei der am Ende sinnvolle Ergebnisse herauskommen. Von selbst werden diese Zwänge aber nicht verschwinden.

Parlamentarier im Würgegriff des Fraktionszwangs

Über die Entscheidungsfreiheit des Abgeordneten wird stets gebetsmühlenhaft das Grundgesetz (GG) zitiert: Nach Artikel 38 GG sind Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Nach Artikel 46 GG darf kein Abgeordneter in irgendeiner Weise gerichtlich, dienstlich oder sonst außerhalb des Bundestags wegen seiner Abstimmung zur Verantwortung gezogen werden.

Die Abgeordneten sind so frei, wie sie es sein wollen - niemand kann sie zwingen, bei einer Abstimmung die Hand zu heben oder sie unten zu lassen oder eine blaue, rote oder weiße Abstimmungskarte abzugeben.

Soweit die Theorie.

Die Wirklichkeit sieht anders aus.

Unbestritten und unbestreitbar ist, dass die Fraktionen im Bundestag und in den Länderparlamenten so gut wie immer einmütig abstimmen - schon immer einmütig abgestimmt haben und auch in Zukunft einmütig abstimmen werden. So gut wie immer bedeutet: In mehr als 99 Prozent aller Fälle. Das gilt nicht nur bei namentlichen Abstimmungen, bei denen Namenskarten abgegeben werden und das Stimmverhalten des einzelnen Abgeordneten im Protokoll festgehalten wird.

Viele Abgeordnete kommen überhaupt erst kurz vor einer Abstimmung ins Plenum und schauen, wann der Stimmführer ihrer Fraktion die Hand hebt oder welche Farbe die Stimmkarte hat, die der Geschäftsführer seiner Fraktion an der Urne hochhält.

Manche kommen nur, weil die "Stallwache" der Fraktion im Plenum über die Rufanlage durchgeben ließ, dass die Mehrheit im Plenum gefährdet ist und die Kollegen schleunigst ins Plenum kommen mögen.

Die volle Abgeordnetenentschädigung wird nur dann ausgezahlt, wenn ein Abgeordneter an den Pflichtsitzungen des Bundestags teilnimmt und seine Anwesenheit durch seine Unterschrift bestätigt. Üblicherweise gilt in den Sitzungswochen Anwesenheitspflicht von Dienstag bis Freitag. Verpasst jemand einen Sitzungstag oder vor allem eine namentliche Abstimmung, gibt es pro Tag Abzüge zwischen 50 bis 100 Euro.

Immer mal wieder kommt es vor, dass trotz aller Disziplinierungsmaßnahmen und Drohungen ungewiss ist, wie Abstimmungen ausgehen. Und immer wenn die Fraktionsspitzen nicht sicher sind, was passieren könnte, lassen sie es erst gar nicht auf den riskanten Versuch ankommen, wie die Mehrheit wohl ausfallen könnte. Das wäre einfach zu demokratisch-naiv gedacht. Nein, dann wird erst mal geübt, und zwar so lange, bis das Richtige herauskommt.

Die Freiheit des Abgeordneten ist eine Illusion

Probeabstimmungen dienen nicht etwa dazu, mal ein bisschen herumzuprobieren, wie die Abgeordneten sich wohl entscheiden könnten. Da wird nichts im Wortsinne "geprobt". Das wäre ja auch albern; denn die meisten Abgeordneten sitzen lange genug im Parlament, um zu wissen, wie man abstimmt. Die müssen nicht noch üben. Probeabstimmungen sind ein Instrument der Disziplinierung in der Hand der Fraktionsführungen.

Kommt dabei nicht das gewünschte Ergebnis heraus, nimmt die Fraktionsspitze sich die Wackelkandidaten in der eigenen Fraktion zur Brust und bekniet sie unter Einsatz vielfältiger Druckmittel. Wenn die dann schließlich versprechen, "richtig" abzustimmen, kommt die nächste Probeabstimmung. Und bis alle Abgeordneten zur Raison gebracht sind, können schon mal mehrere Probeabstimmungen nötig werden.

Um zu erreichen, dass Abgeordnete widerstandslos und ungeprüft den Entscheidungen der eigenen Fraktionsspitze folgen, braucht man keine kompetenten und erst recht keine unabhängigen Abgeordneten. Da reicht es völlig hin, wenn man einen gehorsamen Parteisoldaten hat, der brav alles abnickt, was man ihm vorsetzt. Und das ist nun einmal die einzige Qualifikation eines Parlamentariers, die wirklich gebraucht wird: Er muss spuren. Wie weit sich doch die real existierenden Demokratien vom Ideal einer lebendigen Demokratie entfernt haben.

Der parlamentarische Tiger hat keine Zähne

Wer abweicht, gilt als Verräter. Und er ist es aus parteilicher Perspektive ja auch; denn wenn eine Regierung einmal bei einer wichtigen Abstimmung keine Mehrheit bekommt, bedeutet das in aller Regel ihr Ende. Der Fehler liegt in dem System, in dem die Zukunft einer Regierung so sehr von der Geschlossenheit ihrer Abgeordneten abhängt, dass der gnadenlose Fraktionszwang schier unvermeidlich erscheint.

Fälle von Abweichung sind außerordentlich selten, ja, sie kommen so gut wie gar nicht vor. Aber wenn sie vorkommen, enden alle ähnlich: Der Abweichler wird gemobbt und isoliert und gibt entweder selbst auf oder wird abgestraft - in der Regel dadurch, dass seine Wiederwahl unmöglich gemacht wird. Wer von der Mehrheit abweicht, darf alle Hoffnungen auf eine Karriere in Partei, Fraktion oder gar Regierung fahren lassen.

Eine freie und unabhängige Meinung kann sich ein Abgeordneter, der auch noch eine Karriere machen möchte, nicht leisten - schon gar nicht in Schicksalsfragen für die eigene Partei, Fraktion oder gar Regierung. Bei anderen Themen mag das anders sein: Wenn er sich den Luxus einer eigenen Meinung zur Lage der Landwirtschaft in der südlichen Mongolei leistet, nimmt ihm das wohl niemand krumm…

"Soweit wir Mitglieder der Regierungsfraktion sind, sind wir im Grunde, was Kontrolle und Gesetzgebung anlangt, nicht mehr in der Rolle des Parlaments nach der klassischen Gewaltenteilungslehre."2 [2] Mit anderen Worten: Das Parlament verzichtet in seiner Mehrheit freiwillig und ohne wirkliche Not auf seine vornehmste und angeblich wichtigste Aufgabe, die Kontrolle der Regierung, und überlässt das lieber der Opposition. Doch die ist machtlos und kann eigentlich nur wirkungslos schimpfen. Der parlamentarische Tiger hat keine Zähne, und die Opposition ist je nach Lage nur ein kleiner oder ein etwas größerer Rohrspatz. Er schimpft jedenfalls wirkungslos vor sich hin …

Fraktionsdisziplin ist kein demokratisches Instrument

Das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten im Bundestag und in den Länderparlamenten ist in jeder Legislaturperiode ausgiebig untersucht worden. Das Ergebnis war stets das Gleiche: Sie folgen bei praktisch allen Entscheidungen der Fraktionsdisziplin. Ausnahmen gibt es so gut wie keine.

Auf jeden Fall ist die Durchsetzung von Fraktionsdisziplin kein ur- und erzdemokratischer Prozess. Die Fraktionsdisziplin allein wäre kein Problem, fügte sie sich nicht in eine Vielzahl von undemokratischen Prozeduren ein, die einander in ihrer Fülle zur Degenerierung der entwickelten Demokratie ergänzen.

Fraktionsdisziplin ist ein hierarchisches Instrument, mit dem Entscheidungen jedenfalls nicht von unten nach oben stattfinden. Die Richtung ist umgekehrt: von oben nach unten. Und wenn Entscheidungen in Parlamenten von oben nach unten stattfinden, dann ist das jedenfalls nicht gerade das Muster gelebter Demokratie.

Tatsächlich treiben die Fraktionsführungen aller Parteien erheblichen Aufwand, um Fraktionsdisziplin zu erzwingen. Es versteht sich von selbst, dass sie von ihren Abgeordneten erwarten, dass sie grundsätzlich so abstimmen, wie sie es ihren Abgeordneten vorgeben. Sie sprechen zwar meist mit vornehmer Zurückhaltung davon, dass sie das "erwarten". Aber sie meinen, dass sie das "verlangen" und in Zweifelsfall auch "erzwingen".

Einen Einblick darin, wie das praktisch abläuft, hat der CSU-Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler der Internetplattform abgeordnetenwatch.de gegeben. "Jeder Abgeordnete muss nach seiner Fraktionsordnung einen Tag vor der Abstimmung schriftlich anzeigen, wenn er bei der Abstimmung von der Fraktionslinie abweichen will." Zugespitzt könnte man sagen: Sogar das freie Gewissen muss bei der Fraktionsführung angemeldet werden.

Jede Fraktion hat ihren eigenen Stil bei der Durchsetzung des Fraktionszwangs. So gibt es bei der SPD-Fraktion einen "einen einstimmig zu Beginn der Legislatur verabschiedeten Beschluss über das Selbstverständnis der Fraktion. Darin ist festgehalten, dass es dem Selbstverständnis der Fraktion entspricht, in der Fraktion getroffene Entscheidungen geschlossen im Bundestag zu vertreten."

In der CDU werden Abweichler von der Fraktionslinie ganz unverblümt als "EDEKA-Club" bezeichnet. Edeka steht dabei für das "Ende der Karriere", also die Streichung von der Liste zur nächsten Wahl.

Die Fraktionsspitzen aller Parteien können den Fraktionszwang, den sie ausüben, so oft leugnen, wie sie mögen, sie konnten es nicht verhindern, dass "Abweichler" hinterher in den Medien ausgiebig darüber berichteten, wie sie kaltgestellt wurden.3 [3]

Im Parlament geht es für den einzelnen Abgeordneten nur noch darum, ebenso wie die Fraktionsspitze abzustimmen, ohne jede Entscheidung noch auf ihre sachliche Richtigkeit und politische Stimmigkeit zu prüfen. Verantwortungsbewusstes Handeln sieht anders aus.

Im Kinderglauben an das Funktionieren der Demokratie geht alle Macht vom Volke aus, das seine Abgeordneten in die Parlamente wählt. Und die Parlamente bestimmen die Zusammensetzung der Regierung und kontrollieren deren Tun. In Wahrheit laufen die Entscheidungen in umgekehrter Richtung: Alle Entscheidungsprozesse in Parlamenten finden von oben nach unten statt. Dafür sorgen die Fraktionsspitzen. Die gelebte Demokratie in den Parlamenten ist tot. Sie hat sich selbst gemeuchelt.

Die Parlamentarier degradieren sich selbst zum Stimmvieh

Ein System der Willensbildung und Entscheidungsfindung, in dem Parlamentarier sich permanent daran orientieren, wie die Fraktionsspitze oder der "Stimmführer" entscheidet, um sich ebenso zu verhalten, lädt geradezu zum Verzicht auf ein eigenes Urteil ein.

Es führt zur Diffusion von Verantwortung und dazu, dass Abgeordnete sich selbst zum Stimmvieh degradieren. Sie geben sich zufrieden damit, dass sie nichts zu sagen haben. Ihre Interessen liegen ganz woanders: ein kommoder Job, eine komfortable Ausstattung, die Illusion der eigenen Wichtigkeit, ein hohes Ansehen, gute Bezahlung und schöne kostenlose Reisen …

So kommen immer wieder und in wachsender Zahl Entscheidungen zu Stande, bei denen man sich einige Jahre, Monate oder gar Wochen hinterher fragt, ob die Mehrheit im Bundestag denn vom Wahnsinn geritten gewesen sei. Oder noch wesentlich häufiger: Es kommt zu ausgesprochen schlampig und im Eiltempo durchgeboxten Gesetzen, in denen die Details nicht stimmen und die vom Bundesverfassungsgericht bei der nächsten Gelegenheit wieder gekippt werden müssen. Wenn die Regierung Gesetze durch das Parlament peitscht, müssen die Abgeordneten über Dinge entscheiden, die sie nicht verstehen und auch gar nicht verstehen wollen, die aber die Steuerzahler teuer zu stehen kommen könnten.

Der Kreis der wahren Entscheidungsträger in den Fraktionen ist sehr klein. Zwar haben die Fraktionen je nach Größe Vorstände von zwischen 5 und 50 Personen. Doch die einzigen Entscheidungsträger in den Fraktionen sind der Fraktionsvorsitzende und der Fraktionsgeschäftsführer.

"Sie bereiten die Sitzungen der Fraktionsvorstände der Sache und den Themen nach vor, sodass sich eine Ausweitung der Meinungsbildung dieses Kreises über den Fraktionsvorstand bis hin zu den Fraktionen ergibt. Die Fraktionsvorstände übernehmen dabei meist die Abschirmung vorbereiteter Entscheidungskonzepte in und gegenüber der Fraktion. Selbst wenn es in den Fraktionsvorständen zu differenten Auffassungen gekommen ist, erfahren die Fraktionsmitglieder davon offiziell keineswegs immer etwas."4 [4]

Der eigentliche Partner der Bundesregierung auf Seiten des Parlaments ist der Fraktionsvorsitzende der Mehrheitspartei im Bundestag. "Die Abgeordneten sehen sich den hierarchischen Spitzen der Regierung und eigenen Fraktion gegenüber. Sie betrachten, da sie die realen Machtverhältnisse zutreffend einschätzen lernen, ihre Fraktionsführer als ihre eigentlichen Auftraggeber innerhalb des Parlaments."5 [5]

Von der naiven Demokratietheorie - alle Macht geht vom Volk aus, das seine Repräsentanten wählt, die wiederum den Volkswillen repräsentieren, die Regierung bestimmen und sie laufend kontrollieren - ist in den real existierenden Demokratien nichts übrig geblieben. Im Gegenteil: Die von einer verschwindend kleinen Minderheit in den politischen Parteien erkorenen Abgeordneten wachsen in eine Oligarchie hinein, die ihnen ihre Entscheidungen vorgibt und abweichendes Verhalten bestraft.

Wollen sie politisch überleben, haben sie nur die Wahl, sich der Oligarchie zu unterwerfen. Von dem Idealbild des souveränen Parlaments mit Abgeordneten, die nur ihrem Gewissen folgend verantwortungsvoll handeln und freie Entscheidungen treffen, ist die Realität meilenweit entfernt. Der Bundestag ist längst zur Karikatur eines demokratischen Parlaments verkommen. Es ist seine Aufgabe, anderswo getroffene Entscheidungen abzunicken, vor allem Regierungsentscheidungen - so wie praktisch alle Parlamente in den entwickelten repräsentativen Demokratien der Welt.

Die Parlamente sind reine Abnickvereine

Doch die Konstruktion der repräsentativen Parteiendemokratie lässt überhaupt nichts anderes zu: Würde das Parlament Beschlüsse mit der Regierungsmehrheit am Ende nicht abnicken, wäre der Zusammenbruch der Regierung die unvermeidliche Folge. Also nicken die Fraktionen der Regierung weiter alles ab, was man ihnen vor die Füße wirft. Das wird im Prinzip ewig so bleiben, und daran wird sich nie etwas ändern. Die Struktur der parlamentarischen Parteiendemokratie macht es unvermeidlich, dass die Parlamente in ihnen als nur Abnickvereine richtig funktionieren können.

Ihre Mitglieder und die Opposition dürfen allenfalls darüber ein bisschen diskutieren - aber schon die Mitglieder der Regierungsfraktionen können das nicht gar zu kritisch tun. Schließlich könnten sie auch dadurch den bloßen Schein der klaren Regierungsmehrheit trüben. Nur die Opposition kann reden, was sie mag. Sie hat sowieso keinen Einfluss auf die Entscheidungen und darf nur meckern. Mit der Bildung der großen Koalition ist das alles nur sehr viel schlimmer geworden, aber schlimm war es schon lange davor.

So oder so ist der Deutsche Bundestag, wie jedes andere Parlament auch, ein Abnickverein - und das schon seit sehr vielen Jahren. Das ist keine Entwicklung, die sich erst in den letzten Jahren Bahn gebrochen hat. Mitunter hält sich in der Bevölkerung noch die Illusion, wenigstens in den großen Plenardebatten werde in offener Kontroverse um die beste Lösung gerungen. Doch das ist nichts als ein Trugbild.

Da wird in aller Form eine Scheindebatte mit strikter Rollenverteilung inszeniert, in der jedes Detail von den Fraktionsvorständen im Vorhinein festgelegt ist. Die Fraktionsvorstände bestimmen ohnehin bei jeder Plenardebatte, wer wie lange sprechen darf oder soll und wer gefälligst seinen Mund zu halten hat.

Konkret weist der Ältestenrat des Bundestags den Fraktionen bei Plenardebatten ein Kontingent an Redezeit zu. Das richtet sich natürlich nach der Stärke der Fraktionen. Das ist bis ins allerletzte Detail minutiös geregelt. Für jede Fraktion ist genauestens festgelegt, wie viele Minuten lang ihre Redner sprechen dürfen. Dabei unterscheidet man wie in der Mode sechs Konfektionsgrößen der Debattendauer: Kurz, Standard, Mittel, Lang, XL und XXL.

Auch diese Zeit wird von oben nach unten, von den Fraktionsvorständen an ihre Abgeordneten vergeben. Nicht etwa, dass ein einzelner Abgeordneter auf die abwegige Idee verfiele: "Ich möchte zu dem Thema mal was sagen." Da könnte ja jeder daherkommen. Die ach so freien Parlamentarier selbst haben das nicht zu entscheiden. Die haben überhaupt nichts zu sagen, was man ihnen vorher nicht ausdrücklich erlaubt hat. Von einer offenen und freien Debatte, in der die Abgeordneten von ihrem Gewissen getrieben ans Rednerpult drängen, kann überhaupt keine Rede sein. Die hat es im Bundestag nie gegeben und die gibt es auch im neuen Bundestag nicht.

Wer glaubt, dass die Abgeordneten ans Rednerpult eilen, weil ihnen ein akutes Thema wichtig ist, der irrt. Welcher Abgeordnete überhaupt und wie lange sprechen darf, wird von oben festgelegt, vom Fraktionsvorstand; und nicht etwa von den einzelnen Abgeordneten. Außer Abnicken dürfen die so gut wie überhaupt nichts. Da stirbt die letzte Hoffnung auf das rudimentäre Bestehen der demokratischen Idee.

Kasperltheater statt offener Debatte freier Parlamentarier

Tatsächlich findet dort ein von vorne bis hinten durchgeplantes, durchorganisiertes und durchinszeniertes Kasperltheater statt, in dessen Drehbuch bis ins letzte Detail festgelegt ist, wer wann was und wie lange darf und auch, wer die Klappe zu halten hat.

Der Grünen-Politiker Hans-Christian Ströbele erklärte in der "Mitteldeutschen Zeitung": "Ich habe zehn Jahre lang versucht, Rederecht zu Afghanistan zu bekommen. Das ist mir bis heute nicht gewährt worden." Wie gesagt: von seiner eigenen Fraktion.

Kontroversen sind ausschließlich zwischen den Fraktionen erwünscht. Und da geht es um den Nachweis, dass die eigene Fraktion Recht und die anderen Fraktionen Unrecht haben und schon immer hatten. Sonst gar nichts. Die Parlamentarier verhalten sich wie dressierte Hunde, denen man nur zurufen muss "Heb's Pfötchen", und schon heben sie gehorsam ihre Pfoten.


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