Der kurze Weg von der politischen Lüge zur Gewalt

Seite 2: Wahrheitsferne: integraler Bestandteil politischer Praxis

Im 21. Jahrhundert wissen alle politisch Interessierten, dass auch in sämtlichen westlichen Demokratien zahlreiche der wichtigsten Ämter und Spitzenjobs ganz banal, wie auf einem Bazar bzw. wie beim Kuhhandel aufgeteilt werden.

Ob Rechte, Liberale, Linke oder aus diesen zusammengesetzten bunte Koalitionen die Parlamentsmehrheiten bilden, ändert an dieser Systematik nicht das Geringste.

Warum werden dennoch nur die schönen Fassaden der offiziellen Koalitionsübereinkommen veröffentlicht? Warum nicht auch die hässlichen Nebenabreden? Damit jede Wählerin und jeder Wähler sieht, was wirklich vereinbart wurde; sieht, wie die Gewaltenteilung formuliert ist und wie sie tatsächlich gelebt wird. Sieht, dass – wie kürzlich in einer Pressekonferenz zu Washington – hinter jedem kultiviert-präsidentiellen "nice to meet you" jederzeit auch ein "you stupid son of a bitch" lauern kann.

In der Politik ist bereits viel erreicht, wenn nicht offen gelogen, sondern nur verschwiegen wird. Verheimlichung, Vertuschung und Leugnung herrschen häufig vor, bis es gar nicht mehr anders geht, weil die Beweise zu erdrückend geworden sind.

Einzig der ehemalige und vielleicht bald wieder US-Präsident ging noch eine Stufe weiter und beharrte selbst dann auf seiner Meinung, wenn ihn falsifizierende empirische Daten auf dem Tisch lagen. Viele Autokraten und Möchtegern-Diktatoren weltweit lernten daraus, dass Verhalten im machiavellistischen Sinne politisch nützlich und erfolgversprechend sein kann.

Falls den USA eine Rückkehr zu Trump bevorstehen sollte, wäre das Wahlvolk diesmal jedoch nicht aus der Verantwortung zu entlassen. Es wäre Erfüllungsgehilfe dessen, was Karl Kraus im Sommer 1934 beschrieb:

Es scheint der Menschennatur verhängt zu sein, durch Erfahrung dümmer und erst durch deren Wiederholung klug zu werden.

Dass Fake News keine Erfindung der Gegenwart sind, zeigte bereits die politische Pathologie der 1930er-Jahre in Deutschland und Österreich und auch die späteren Pentagon Papers. Diese wurden 2011, nach über 40 Jahren, vollständig zugänglich gemacht und illustrieren detailliert, wie ab 1967 unter US-Verteidigungsminister Robert McNamara mittels Lügen und gezielten Desinformationen die US-Öffentlichkeit manipuliert wurde, um in einen Krieg in Vietnam einzutreten.

Die beharrliche Desinformation durch optimistische und geschönte Darstellungen führte dazu, dass die amerikanische Öffentlichkeit auch bereit war, den Vietnamkrieg massiv zu intensivieren und zu verlängern. Vergleicht man das Zustandekommen des zweiten Irak-Krieges auf der Basis unwahrer Prämissen mit den politischen Irreführungen davor, zeigt sich erneut, dass die Geschichte zwar eine ausgezeichnete Lehrmeisterin ist, jedoch kaum Schüler hat.

Während die Rhetorik der Griechen und Römer noch zwischen der Kunst der Überzeugung und jener der Überredung unterschied, zelebriert die gegenwärtige politische Sprache die Rhetorik hauptsächlich als banale Selbstbefreiung von der Verpflichtung zur Wahrheit.

Euripides war es, der das sogenannte Wahrsprechen als einer der Ersten gefordert hatte. Über zwei Jahrtausende später erhoben nationalsozialistische und stalinistische Demagogen die Lügen, Täuschungen und den Betrug erneut und ohne Rücksicht auf Verluste zur politischen Methode. Damit setzten sie das dialogische Miteinander gesamtgesellschaftlich und beinahe final außer Kraft.

Ob das oktroyierte Lügengespinst rund um die gegenwärtige Ukraine-Invasion in Teilen Asiens und insbesondere Chinas – das wieder einmal einen diplomatischen Eiertanz vollführt, zwischen dem Nicht-vor-den-Kopf-Stoßen des strategischen Partners Russlands bei gleichzeitigem Nicht-Verärgern von USA und Nato – politische Haltbarkeit haben wird, ist nicht nur angesichts der Existenz von Social Media fraglich.

Gerade die Social Media, in denen politische Wahrheit und Widerspruchsfreiheit mittlerweile weitgehend beseitigt wurden und in denen vielfach nur noch rhetorische Niedertracht herrscht, könnten dem gegenwärtigen russischen, zu Sowjet-Zeiten politisch sozialisierten Polit-Establishment, zum Verhängnis werden. Denn die 1800 Jahre alte Sentenz des Aulus Gellius "Die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit", was so viel bedeutet wie "Mit der Zeit gelangt die Wahrheit ans Licht", gilt für alle Sterblichen, auch im digitalen Zeitalter.