Der letzte ukrainische Friedensstifter: In Erinnerung an Sergej Siwocho
Sergej Siwocho. Bild: Sivokho Sergei in 2021 (Youtube)
Er versuchte, Nationalisten und russischsprachige Bürger zusammenzubringen. Das könnte ihm zum Verhängnis geworden sein. Über sein Erbe und seine Vision der Ukraine. Gastbeitrag.
Sergej Siwocho, ukrainischer Friedensaktivist, erlag am 17. Oktober seinem chronischen Asthma. Sein Name war außerhalb der Ukraine nicht sehr bekannt, vielleicht weil er in diesen Zeiten der Wut versuchte, die Ukrainer zu versöhnen, anstatt sie auseinanderzutreiben.
Man fragt sich, ob dieser große Bär von einem Mann am Ende an einem gebrochenen Herzen gestorben ist.
Siwocho erlangte dank seiner engen persönlichen Freundschaft mit Wolodymyr Selenskyj politische Prominenz. Er war der kreative Produzent der Comedy-Show Kvartal 95. Nach Selenskyjs unerwartetem Sieg versuchte der frischgebackene Präsident, ihn für ein öffentliches Amt zu gewinnen.
Siwocho, der ursprünglich aus dem Donbass stammte, bat stattdessen um seine Ernennung zum Berater des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine mit dem Auftrag, über die humanitäre Politik gegenüber seiner Heimatregion zu beraten.
Sehr schnell kam er jedoch zu dem Schluss, dass der Frieden in der Ukraine aus einer radikal anderen Perspektive angegangen werden muss, nämlich durch die Beendigung des "Krieges in unseren eigenen Köpfen", wie er es nannte. Siwocho sagte:
Schrecklicher als der Coronavirus ist der Virus des Hasses. Es ist wichtig, nicht nur die Einstellung des Staates zu seinen Bürgern zu ändern, sondern auch die Einstellung der Menschen zueinander .... Mein Team versucht, die Menschen zu gegenseitigem Verständnis zu bewegen, denn der Frieden, den wir alle suchen, beginnt in den Herzen und Köpfen der Ukrainer.
Der Optimismus von Siwocho wurde zunächst von Selenskyj selbst aufgegriffen. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2020 und später auf dem Forum zur Einheit in Mariupol rief Selenskyj zu einem "massiven nationalen Dialog" auf, bei dem die Menschen von Angesicht zu Angesicht über ihre gemeinsame Zukunft diskutieren könnten. Zu diesem Zweck unterstützte er Siwochos Lieblingsprojekt – eine Nationale Plattform für Versöhnung und Einheit –, die am 12. März 2020 offiziell der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.
Diese Präsentation dauerte jedoch nur 20 Minuten, weil eine Gruppe von etwa 70 jungen Leuten des Nationalen Korps (des zivilen Flügels des Asowschen Bataillons) in den Saal mit "Verräter"-Rufen stürmte und Siwocho so lange schubste, bis er zu Boden fiel. Siwocho wurde zwei Wochen später von seinem Posten als Regierungsberater entlassen.
Es mag seltsam erscheinen, dass bereits vor dem Einmarsch Russlands die bloße Erwähnung von Versöhnung und Dialog so viel Wut hervorrufen konnte. Siwocho forderte eigentlich einen grundlegenden Wandel im politischen Denken der Ukraine. Seiner Meinung nach sollten die Ukrainer erkennen, dass sie alle ein gewisses Maß an Verantwortung für den Konflikt im Donbass tragen, insbesondere für die Entmenschlichung der anderen Ukrainer, derjenigen, die nicht so denken oder reden wie sie.
Einige Nationalisten werden sich über sein Ableben freuen
Diese Politik, so argumentierte er, begann lange vor 2014. Seine Worte erregten den Zorn ukrainischer Nationalisten, die sich über seine Behauptung empörten, es sei "an der Zeit, Fehler zu korrigieren, zu vergeben und um Vergebung zu bitten ..., mit den Menschen zu sprechen, die in den nicht kontrollierten Gebieten leben."
Nach seiner Entlassung und trotz Morddrohungen hielt Siwocho bis zuletzt an seinen Friedensbemühungen fest. Mit der Zeit wurde er immer kritischer gegenüber der Regierungspolitik, jedoch nie gegenüber seinem langjährigen Freund Selenskyj.
Er forderte eine Änderung der ukrainischen Sprachgesetze, die den öffentlichen Gebrauch des Russischen stark einschränken. Er sagte, die Weigerung der Regierung, die Minsker Vereinbarungen umzusetzen, habe die Ukraine in eine dunkle und isolierte Ecke geführt.
Er gab sogar öffentlich bekannt, dass die Rebellen einen förmlichen Vorschlag zur Rückgabe verstaatlichter Unternehmen an ihre ukrainischen Eigentümer und zur Beendigung des umstrittenen "Sonderstatus" für den Donbass im Jahr 2050 unterbreitet hatten. Er rügte die ukrainische Regierung dafür, dass sie sich weigert, auch nur mit den Rebellen zu sprechen.
Anstatt Kommunikation zwischen lokalen Beamten jenseits der Kontaktlinie zu verbieten, forderte Siwocho sie auf, miteinander zu reden. "Stellen Sie sich vor", sagt er, "wie sie sich gemeinsam freuen und trauern könnten. Wenn es ihnen nur erlaubt wäre, dorthin zurückzukehren, würden sie ihre Dörfer aus eigener Kraft wieder aufbauen, und zwar auf beiden Seiten. Was für ein fantastisches Beispiel wäre das!"
Sein letzter öffentlicher Kampf bestand darin, die Verabschiedung des drakonischen Gesetzes "Über die Grundlagen der Staatspolitik in der Übergangszeit" zu verhindern, das vom damaligen Minister für die Wiedereingliederung der besetzten Gebiete (später Verteidigungsminister), Oleksij Resnikow, eingebracht wurde. Siwocho beklagte sich bitterlich darüber, dass der Resnikow-Plan, der im August 2021 vom Ministerkabinett gebilligt wurde, die Ukrainer im Donbass und auf der Krim wie ein besiegtes Volk behandelte.
Anstatt die Feindseligkeiten abklingen zu lassen, würden sie so an die nächsten Generationen weitergegeben. Die Rebellen selbst wären schon lange tot, aber wie Banquos Geist [Hauptfigur in William Shakespeares Drama Macbeth] würde ihr Geist noch immer die Zukunft der Ukraine heimsuchen, eine unnachgiebige Erinnerung an die andere, die russischsprachige Ukraine, die die ukrainischen Nationalisten weiter umtriebig zu löschen versuchten.
Einige ukrainische Nationalisten werden sich über das Ableben dieses unbequemen ukrainischen Patrioten freuen, der unermüdlich dafür kämpfte, die Spaltung des Landes zu überwinden, indem er gegenseitige Vergebung predigte. Sein persönliches Streben nach Frieden mag nun vorbei sein, aber wir alle sollten um der Ukraine willen hoffen, dass seine Mission von anderen aufgegriffen wird.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.
Nicolai N. Petro ist Professor für Politikwissenschaft an der University of Rhode Island und Autor von "The Tragedy of Ukraine: What Classical Greek Tragedy Can Teach Us About Conflict Resolution".