Der neue Leviathan
Das Internet der Zukunft als komitative Sphäre
Nach dem Der Kapitalismus der Trostlosigkeit und Die barbarische Moderne wird als dritter neuer Begriff für unsere Zeit der der komitativen Sphäre vorgeschlagen. Ein neuer Leviathan ist dabei, aus den Wellenbewegungen der Geschichte aufzutauchen. Noch ist vor allem das Blubbern und Twittern an der Oberfläche zu sehen, doch in der Tiefe sind bereits seine mächtigen Konturen zu ahnen. Der Leviathan des englischen Philosophen Thomas Hobbes war der Staat, der dem Menschen im Chaos des Naturzustandes über den Gesellschaftsvertrag die Ordnung brachte.
Der Leviathan des 21. Jahrhunderts ist die künftige Form des Internets. Was jetzt noch weitgehend, aber auch schon immer weniger, über Kabelverbindungen und lokal fixierte Computer geschieht, wird sich zu einer allgegenwärtigen, den Menschen begleitenden Sphäre, der komitativen Sphäre ausweiten. Diese Sphäre wird sich als eine weitere Hülle neben den atmosphärischen Schichten wie der Stratosphäre über den Planeten legen.
Wie über eine zweite Nabelschnur wird der Mensch drahtlos mit dieser Sphäre verbunden sein und sie dient ihm als künstliches Organ. Mehr noch, er wird über die komitative Sphäre Teil eines großen Organismus und der Begriff des Leviathans steht hier als Bild für die allgegenwärtige Mächtigkeit dieses Organismus. Sein Blut sind die digitalisierten Informationen und sein Blutkreislauf ist global. Der Einzelne wird mehr als je zuvor zum angedockten Teil eines Ganzen und es gibt kein Entrinnen mehr. Die komitative Sphäre leitet eine neue Epoche der Geschichte ein: So lange die Herzmaschinen dieses Organismus laufen, wird der Mensch nicht mehr alleine sein (können).
Die Genealogie der Medien beginnt jenseits von pränatalen Eindrücken und Hautberührungen mit Sprache, mit Lauten und Zeichen; geht von der prähistorischen Höhlenmalerei über die Schrift zum Buchdruck, vom Altarbild zur Fotografie, vom Rauchzeichen zur Telegrafie, vom Film zum Fernsehen und vom Brief zur email. Manchmal sterben Medien auch aus, wie am 31. Dezember 2000 der Auslandstelegrammdienst in Deutschland. Oft aber leben Medien noch fort, freilich dann mit anderer Bedeutung. Den Inlandtelegrammdienst gibt es noch immer, freilich nur als Grußtelegramm.
Medien-Amalgam
So finden wir heute ein Nebeneinander von verschieden "alten" Medien. Der Rundfunk existiert neben dem Fernsehen weiter wie die Malerei dies neben der Fotografie tat und im Theater hebt sich auch angesichts des dreidimensionalen Kinospektakels noch immer der Vorhang.
Wenn wir einen Blick auf das Internet werfen, so stellen wir unschwer fest, dass es sich bei diesem neuen Medium unter bestimmten Blickwinkel um ein Amalgam von "alten" Medien handelt, jedenfalls soweit es sich um digitalisierbare Formen handelt - eine Theateraufführung im Internet ist ebenso wie im traditionellen Fernsehen noch immer eine Bildaufzeichnung oder eine Live-Übertragung, aber auch diese Grenzen sind nicht als dauerhaft anzusehen. In diesem Medien-Amalgam finden wir all das zusammengeführt, was sich bisher separat zeigte. Es ist die neue Plattform für die "alten" Medien vom Buch und der Zeitung, vom Radio über TV bis hin zu neuen elektronischen Arten des alten Plaudern und Tratschens wie dem Blog oder dem Twittern oder dem PDF-Format als Ersatz für das Fax mit der Presseerklärung.
Der Ausdruck Medien-Plattform oder Medien-Amalgam erklärt dabei aber den revolutionären Charakter des Internets noch nicht. Dieser gründet auf der Digitalisierung der Welt. Ein Prozess, in den die "alten" Medien mit ihrer analogen, physikalisch verschiedenen Form eintauchen, um als binärer Code wieder aufzutauchen. Dies war die wahre Revolution in den 1980er Jahren, für die das Internet dann kongenial und in Wechselwirkung die Bühne bot. Die Digitalisierung war der Sturm auf die Bastille, das Internet der Vorstoß und Sieg der Revolutionstruppen.
So wie die französische Revolution ein neues Kapitel der Menschheitsgeschichte einläutete, schufen Digitalisierung und Internet ein neues Medium, das als Hypermedium die Eigenschaften all seiner Vorgänger nicht nur weit übertraf, sondern eine grundsätzlich neue Qualität erzeugte.
Historische Zäsur
Der Begriff des Mediums ist dabei unzulänglich. Wir haben es vielmehr weitergehend mit einer Umwälzung der Produktivkräfte zu tun. Dabei geht es natürlich nicht um den Fluss des glühenden Stahls, sondern um den Fluss der Information. Die gesamten Inhalte der menschlichen Kultur, soweit sie sich in Zeichen, Bildern, Tönen und Symbolen darstellen lassen, sind Bestandteile der komitativen Sphäre. In Zukunft werden auf dem gesamten Planeten diese Inhalte zugänglich sein - von der Übersetzung altägyptischer Schriftrollen über die Gedichte Goethes und die Reden von Adolf Hitler bis hin zu den Reparaturanleitungen eines Opel Astra und dem Lehrbuch für klinische Psychologie.
Beim Internet als Übertragungsmedium werden prozesssteuernde Informationen quer über den Erdball ausgetauscht, der Blutdruck eines in New York weilenden Patienten kann von seinem Arzt in Hamburg ebenso kontrolliert werden wie der Standort eines Lkws oder die Position eines Schiffes, begleitet von Echtzeit-Aufnahmen einer Kamera oder den elektronischen Augen eines Satelliten. Bestandsdaten von Warenlagern werden koordiniert mit den elektronischen Bestellungen der Kunden und das Klima von Gebäuden in Kalifornien geregelt von einer Zentrale in Boston.
Wenn wir Menschen begegnen, können wir über die komitative Sphäre auf seine Daten zurückgreifen und noch während wir die Hände schütteln, wissen wir alles über seine Finanzverhältnisse, Krankheiten, Schulbildung, Konsumgewohnheiten und den letzten Sommerurlaub. Wenn wir auf einem städtischen Platz stehen, erzählt uns eine unsichtbare elektronische Marke, dass hier vor zwei Stunden ein Bekannter vorbeigekommen ist.
Die Entstehung der komitativen Sphäre ist als historische Zäsur vergleichbar mit einem massiven Klimawandel oder der Entdeckung Amerikas, jedenfalls was zumindest die Folgen für die indigenen Einwohner anbelangte. Es ändert sich die Umwelt des Menschen, nicht wirklich sichtbar, aber wirksam. Die Kultur löst sich von ihren bisherigen materiellen Trägern und verdichtet sich zu einer neuen Sphäre. Der Geist schwebt über den Wassern und kumuliert in neuronalen Netzwerken zu Wolken digitaler Codes. Es ist der Prozess der Entsinnlichung des Wissens und wir tauschen den Geruch von gegerbtem Leder der alten Folianten in den Klosterbibliotheken ein gegen die allgegenwärtige Präsenz ihrer Inhalte.
Eine zukünftige Geschichtsschreibung wird diese Geschichte in zwei große Epochen einteilen: Die Epoche des analogen Zeitalters und darauf folgend die Epoche des digitalen Zeitalters. Dieses ist gekennzeichnet durch die Entstehung der komitativen Sphäre. Zukünftig werden sich wirkliche Luxusgüter durch ihren Entzug gegenüber dieser Sphäre auszeichnen.