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Deutsche Lehren aus dem Ukraine-Krieg

Wie sich die Koalition bei dem Versuch verheddert, sich vom außenpolitischen Druck der USA und der energiepolitischen Abhängigkeit von Russland zu befreien

In diese Situation will die deutsche Politik nicht noch einmal kommen: Abhängig sein von US-amerikanischer Übermacht und von unbotmäßigen Energielieferanten. Also rüstet sie auf und um, koste es, was es wolle. Und verabschiedet sich unter Schmerzen von den bislang nützlichen Sonderbeziehungen zu Russland.

Die deutsche Außenpolitik müsse ihre "Prinzipien neu überdenken" und "noch handlungsfähiger werden", sagte Tobias Lindner, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Ende Januar in einer Online-Veranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik [1].

Alle "Politikfelder" seien "internationalisiert": Pandemie, Lieferketten, Arm und Reich und natürlich der Klimawandel. Russland müsse mit "ökonomischer Abschreckung" begegnet werden – um es vom Eingreifen in der Ukraine abzuhalten. Die Gesprächskanäle müssten jedoch offen gehalten werden, zum Austausch über russische und deutsche Sicherheitsinteressen.

Damals wies die rechte Hand von Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) die Kritik der USA zurück, Deutschland sei ein "schwarzes Loch" im Westen, es liefere keine Waffen in die Ukraine, halte an der Erdgaspipeline Nord Stream 2 fest.

Seit 2014 habe man schließlich im Wert von 13 Millionen Euro Unterstützung geleistet, hielt der Staatssekretär dagegen: mit einem Feldlazarett und der Ausbildung von ukrainischen Offizieren. Mit Blick auf seine Vorgänger im Amt kritisierte Tobias Lindner allerdings die Außenpolitik als "inkongruent" – ein Lazarett für Kiew, aber Waffen für Kairo?

Und für das Verhältnis zu China bräuchte es eine neue Strategie. Dieser Staat sei gleichermaßen "Partner und systemischer Rivale". Die Europäische Union müsse Peking gegenüber "selbstbewusster" auftreten. In puncto PR sei China einfach "derzeit besser". Überhaupt sei eine generelle neue nationale Sicherheitsstrategie vonnöten. Diese müsse integriert sein im "Kompass" von Nato und EU.

So schnell kann es gehen: Gut einen Monat später bereits liefert Deutschland Waffen an die Ukraine, stoppt Nord Stream 2, und von "offenen Gesprächskanälen" in Bezug auf russische Sicherheitsinteressen ist keine Rede mehr.

Das Credo von Staatssekretär Lindner hat aber Bestand: Deutschland müsse "handlungsfähiger" werden, bläuen die politisch Mächtigen bei jeder Gelegenheit ihrem Volk ein. Mit der "Internationalisierung" der "Politikfelder" ist eine harte Diagnose gemeint – Deutschland muss viel stärker werden, um in der Welt auf allen Gebieten mindestens die Regeln mitzubestimmen, wenn nicht gar sie zu bestimmen.

Das geht aktuell gegen Russland, doch ebenfalls gegen China, alsbald wohl hauptsächlich. Und zur Handlungsfähigkeit gehört, selbstständig gegen widerspenstige bis feindliche Staaten vorgehen zu können – auch ohne die USA.

Die bisherigen Russland-Beziehungen: ein Abgrund an Landesverrat

Bundeskanzler Olaf Scholz spricht von einer "Zeitenwende", die alles verändere, vor allem den Umfang der deutschen Aufrüstung [2]. Außenministerin Baerbock will Russland "ruinieren" und spielt sich gleichzeitig als Hüterin von "Werten auf [3], gegen die sich kein Staat auf der Welt versündigen darf. Natürlich definiert das "gute" Deutschland diese Werte.

Für Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier [4] haben die "Repräsentanten der Ukraine (…) jedes Recht, Russland anzuklagen und Solidarität und Unterstützung ihrer Freunde und Partner einzufordern. Die von Russland verübten Kriegsverbrechen sind vor den Augen der Welt sichtbar".

Und er bittet pflichtschuldigst um Verzeihung [5], denn jetzt gilt das bisher gepflegte Verhältnis zu Russland als eine Art Landesverrat:

Mein Festhalten an Nord Stream 2, das war eindeutig ein Fehler. Wir haben an Brücken festgehalten, an die Russland nicht mehr geglaubt hat und vor denen unsere Partner uns gewarnt haben.

Das Urteil steht für die deutschen Herrschaften also fest, und nicht nur für sie, sondern ganz im Einklang damit auch für Wirtschaft, Kultur, Medien, schlicht für die Elite der hiesigen Gesellschaft: Russland muss mit allen Mitteln bekämpft werden.

Ein bemerkenswerter Schwenk, wenn man sich an die deutsche Ostpolitik erinnert, bevor der Konflikt in der Ukraine Fahrt aufnahm. Und wenn man bedenkt, wie viele Schäden Deutschland für sich in Kauf nimmt, um Moskau empfindlich zu treffen.

Die Bundesregierungen seit dem Beginn der "Entspannung" in den 1970er-Jahren haben ihre jeweils guten Gründe gehabt, warum sie besondere Beziehungen zur Sowjetunion und später zu Russland unterhielten. Das wird heute geflissentlich ignoriert bei der Kritik an der "Ära Merkel" und ihren Vorgängern, sie hätten "Putin" hofiert und sich abhängig von Energielieferungen gemacht.

Gerade die Geschäfte mit Gas, auch mit Kohle und Öl, haben Deutschland eine Menge Vorteile gebracht – wirtschaftlich und politisch, bis heute. Aber dass dabei auch der Geschäftspartner einen Nutzen hatte, gilt nun als Unding – weil es sich um den Kriegsgegner handelt.

Ostpolitik seit 1970: Mit Geschäften das gegnerische System zersetzen

Als Feind galt Russland in Gestalt der Sowjetunion allerdings auch beim Abschluss des "Erdgas gegen Röhren-Geschäfts" 1970. Schließlich standen sich die beiden Atommächte mit ihren Kriegsbündnissen in Europa gegenüber, die Nato unter Führung der USA und der Warschauer Pakt mit der UdSSR an der Spitze.

Doch die damalige Bundesregierung unter SPD-Kanzler Willy Brandt verfolgte eine neue Ostpolitik, "Wandel durch Annäherung". "Wandel", um den verschlossenen sowjetischen Markt dem deutschen Kapitalismus Stück für Stück zu öffnen; durch "Annäherung", indem man den Staat trotz Gegnerschaft als Souverän diplomatisch anerkannte und so zum Geschäftspartner machte.

Der dann auch tunlichst seinen Verpflichtungen nachzukommen hatte: Zuverlässig Energie liefern, zum langfristig vereinbarten günstigen Preis, und noch dazu die Kredite der westlichen Banken bedienen, die dieses Geschäft vorfinanzierten. Damit war eine berechtigte Hoffnung der deutschen Seite verbunden: Handel und Finanzen würden den sowjetischen Gegner zusehends abhängig machen vom Westen.

Sie würden seine Planwirtschaft zersetzen, weil sie sich immer mehr auf die Erwirtschaftung westlicher Devisen ausrichten würde, um die gewährten Kreditlinien – für die Pipelines, aber auch für eine Menge Maschinerie – bezahlen zu können.

Den US-Amerikanern gefiel das trotzdem nicht. "Die Geschichte der deutsch-russischen Energiebeziehungen ist gleichzeitig auch eine Geschichte des deutsch-amerikanischen Konflikts. Alle genannten US-Präsidenten (Kennedy, Carter, Reagan und Trump sind gemeint, d. A.) versuchten engere Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion zu verhindern, mit ähnlichen Argumenten und teilweise mit härtesten Bandagen", schreibt 2020 der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft anlässlich "50 Jahre Röhren gegen Gas [6]"

Der Jubiläums-Artikel beginnt mit dem zentralen Argument des seinerzeitigen US-Präsidenten Donald Trump: "Deutschland ist für mich Gefangener Russlands, weil es so viel Energie aus Russland bezieht. Ich halte das für sehr unangebracht." (ebenda)

Das ist nur wenige Jahre her, und damals wurde dies von Deutschland zurückgewiesen. An der Pipeline Nord Stream 2 hielt man fest, auch gegen Einwände innerhalb der Europäischen Union. Die sichere und günstige Lieferung von Erdgas galt als wichtiger Beitrag zum Übergang von der fossilen zur erneuerbaren Energieversorgung.

Horror-Szenario für die USA: Deutschland verbündet sich mit Russland

Die lange Tradition des US-amerikanischen Widerstands gegen für Deutschland vorteilhafte Beziehungen zum Gegner im Osten erklärt sich der Politikwissenschaftler George Friedman so:

Deutschland bildet zusammen mit Russland eine ernsthafte Gefahr für die Weltmachtpolitik der USA.

Dies war 2015, als Friedman einen Vortrag vor dem renommierten Chicago Council on Global Affairs hielt. Der amerikanische Politologe ist nicht irgendwer. Er war 2015 "Chef des von ihm 1996 gegründeten Thinktanks Stratfor, der in den USA den Spitznamen "Schatten-CIA" trägt.

Nach Angaben des kanadischen Informationsdienstes Global Research berät er rund 4.000 US-Firmen und Personen. 2011 veröffentlichten Wikileaks eine Vielzahl an E-Mails von Stratfor. Aus denen geht hervor, dass viele der Aktivitäten Spionage und Subversion sind".

Die VDI-Nachrichten fassten damals zusammen [7]:

Folglich würden die Amerikaner alles unternehmen, um eine Annäherung dieser beiden Länder zu torpedieren. Das würde sich insbesondere in der Ukraine zeigen, wo die USA immer stärker direkt eingreifen und sich über die Politik der Zurückhaltung von Kanzlerin Merkel hinwegsetzen würden. Laut Friedman ist es das Ziel der US-Politik, einen Gürtel aus antirussischen und europaskeptischen Staaten zu schaffen, die als Pufferzone zwischen Russland und Deutschland fungieren. Hierzu gehören vor allem die baltischen Staaten, Weißrussland und die Ukraine.

Man stelle sich vor: Die ökonomische Weltmacht Deutschland mit der Europäischen Union im Schlepptau verbündete sich mit der militärischen Weltmacht Russland! Ein Horrorszenario für alle USA-Präsidenten, nicht nur für Trump, der bekanntlich die EU als Gegner bezeichnete [8].

Das zum Thema, dass jeder Staat doch sein Bündnis frei wählen können müsse, wie im Fall Ukraine immer wieder zu hören ist. Einem Wechsel Deutschlands von der Nato zu einer anderen Partnerschaft würden die USA sicher nicht tatenlos zusehen.

Deutsche Tour: Mit Nato und EU im Rücken Sondervorteile erzielen

Das von hiesigen Politikern oft und über einen langen Zeitraum hinweg zitierte "Europäische Haus", zu dem auch Russland gehören sollte, wurde deshalb seit jeher von den USA mit gehörigem Argwohn betrachtet. Den großen Nachbarn im Osten als Absatzmarkt und billige Produktionsstätte benutzen, günstige Energie zuverlässig geliefert bekommen und wegen dieser Beziehungen auch einen gehörigen politischen Einfluss auf die östliche Macht ausüben können – das war bis zum Ukraine-Krieg die spezielle Tour Deutschlands: Mit einer militärischen Weltmacht USA und dessen Bündnis Nato im Rücken und als Führungsnation einer ökonomisch erfolgreichen EU legte man sich Russland zurecht.

Das war zwar nicht jene "Augenhöhe", die sich einst Wladimir Putin bei seinem Angebot einer Partnerschaft zwischen Deutschland und Russland vorgestellt hatte (bei seinem Auftritt vor dem Deutschen Bundestag 2001 [9]).

Aber immerhin folgten die deutschen Regierungen nicht umstandslos allen Attacken der US-Amerikaner in der Welt. Deutschland und Frankreich nahmen nicht an der Invasion der USA im Irak 2003 teil.

Beide Staaten stimmten 2008 gegen einen Nato-Beitritt von Georgien und der Ukraine. Und sie versuchten mit dem "Normandie-Format" ohne US-amerikanische Beteiligung den Ukraine-Konflikt nach dem Putsch 2014 und dem folgenden Anschluss der Krim an Russland zu regeln.

Sogar als Trump und dann auch Nachfolger Biden gegen die Erdgaspipeline Nord Stream 2 vorgingen, rückte Deutschland nicht vom Projekt mit Russland ab. Angela Merkel und später Olaf Scholz zogen sich darauf zurück, dass es sich schließlich nur um ein wirtschaftliches Projekt handelte. Im Umkehrschluss: Von unserer politischen Gegnerschaft gegen Moskau nimmt das nichts weg, liebe amerikanische Partner, versteht das bitte nicht falsch!

Die deutschen Politiker hielten die Beziehungen aufrecht und nutzten ihre speziellen "Gesprächskanäle". Vielleicht würden diese ja den Störenfried Moskau eher zum Einlenken bringen, beispielsweise beim westlichen Vorgehen gegen den Iran oder Syrien.

Und Russland mag sich erhofft haben, dass die wirtschaftlichen Verflechtungen mit Deutschland und die damit einhergehenden diplomatischen Beziehungen den Druck der amerikanischen Feindschaft mildern würden.

Ansage der USA beendet die Ostpolitik und sorgt für immensen Schaden

Mit diesem Sonderverhältnis ist es nun vorbei. Es war offenkundig nicht dazu in der Lage, Russland von seinen Forderungen abzubringen; Stopp der Nato-Erweiterung in der Ukraine und der weiteren Aufrüstung des Bündnisses in Europa. Was hatten denn auch der deutsche Kanzler und der französische Präsident bei ihren langen Gesprächen im Kreml zu bieten? Auf die russischen Forderungen einzugehen, war ausgeschlossen.

So lautete die klare Ansage des Westens, formuliert von den USA und damit für alle ihre Bündnismitglieder bindend. Moskau hatte schließlich auch seine Forderungen an die US-amerikanische Weltmacht adressiert – wissend, dass dort der entscheidende Gegner einer russischen Weltmacht sitzt.

Die Drohung, die einträglichen Wirtschaftsbeziehungen drastisch herunterzufahren, verfing deshalb nicht. Der Aufbau eines westlichen Frontstaates in der Ukraine gilt Russland als eine existenzielle Bedrohung. Angesichts dessen verblassen Sanktionen jeder Art.

Deutschland hat sich seither mit der unbedingten Gefolgschaft des Vorgehens der USA gegen Russland, dem umfassenden Boykott der Wirtschaftsbeziehungen eine Menge Probleme eingehandelt. Die Liste ist lang, und sie wird beinahe täglich um neue ergänzt.

Nur um die aktuell größten zu benennen: Gas, Kohle und Öl müssen so schnell wie möglich woanders herkommen, sonst drohen dramatische Einbrüche in der Produktion; und der nächste Winter kommt bestimmt, sprich wird kalt, und wenn es schlecht läuft auch die Wohnungen der Bundesbürger. Und wenn etwa Gas aus dem eigentlich bösen Katar oder dreckiges Fracking-Gas aus den USA kommt – wer kann das überhaupt bezahlen?

Generell werden die Energiepreise enorm steigen, einen Vorgeschmack an den Tankstellen gibt es bereits. Lieferketten reißen, Vorprodukte kommen nicht an, so dass hiesige Hersteller ihre Waren nicht fertig bekommen.

Unter anderem Öl, Rohstoffe, Metalle, Eisen, Stahl und Getreide bezieht Deutschland aus Russland und der Ukraine. Durch den Krieg sind diese Lieferungen stark beeinträchtigt. Dabei sind sie für die Produktion der deutschen Industrie essentiell. Die Folge: Die Preise steigen.

Dominic Possoch [10], BR24

Ohnehin haben deutsche Unternehmen ihre Geschäftsbeziehungen mit Russland weitestgehend eingefroren, im gebotenen nationalen Gehorsam. Für Konzerne wie Linde und Siemens stehen Aufträge in Milliarden Euro-Höhe zur Disposition, weil die russische Gazprom nun auf dem Index steht.1 [11]

Bereits die Sanktionen seit der Aufnahme der Krim in das russische Staatsgebiet 2014 entfalteten auf die EU und besonders Deutschland eine starke negative Wirkung, so eine Untersuchung von Matthieu Crozet von der Lingnan University in Hongkong und Julian Hinz vom Kieler Institut für Weltwirtschaft [12] unter dem Titel Friendly Fire: The Trade Impact of the Russia Sanctions and Counter-Sanctions:

Der Studie zufolge geht durch die Russland-Sanktionen Handel im Volumen von vier Milliarden Dollar pro Monat verloren. Von diesen Exportverlusten tragen 1,8 Milliarden US-Dollar oder 45 Prozent die sanktionierenden Länder, 55 Prozent Russland. Die Europäische Union (EU) wiederum trägt 92 Prozent des Schadens der sanktionierenden Länder. Der Löwenanteil entfällt auf Deutschland mit 38 Prozent oder 667 Millionen US-Dollar Handelsverlust pro Monat.

Die Verluste dürften nun für Deutschland um ein Vielfaches steigen. Nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) entgehen der Europäischen Union in diesem Jahr gut 660 Milliarden Euro an Wirtschaftsleistung: "Damit fehlen auch Hunderte Milliarden an Löhnen, Steuereinnahmen und familieninterne Überweisungen, die dringend gebraucht werden, um die pandemiebedingten Wohlfahrtsverluste in aller Welt auszugleichen und die vielerorts gestiegene Armut entschlossen zu bekämpfen", fasst die Süddeutsche Zeitung zusammen (Ausgabe 20. April 2022).

Die Bundesrepublik zählt laut IWF zu den Ländern mit den größten Schäden. Das Wirtschaftswachstum breche ein von prognostizierten 3,8 auf nur noch 2,1 Prozent – während Frankreich, Japan und die USA deutlich glimpflicher davonkämen.

Die deutsche Konsequenz: Abhängigkeiten runter, Rüstung rauf

Angesichts dessen mahnt die auch durch ihre Talkshow-Auftritte mittlerweile einschlägig bekannte Wirtschaftsweise Veronika Grimm [13]:

Die alte Weltordnung ist durch den Angriff Russlands auf die Ukraine in Frage gestellt worden. (...) Wir haben bisher unsere Energieversorgung sehr stark von Russland abhängig gemacht. Unsere Handelspolitik, also unsere Wirtschaft, lebt aktuell davon, dass wir viel in den asiatischen Raum, insbesondere nach China exportieren. Da müssen wir uns neu aufstellen. Wir müssen mehr auf eine Sicherheitsordnung achten, die uns auch robust macht mit Blick auf diese Abhängigkeiten, und wir müssen vor allem die Abhängigkeiten reduzieren.

Da liegt sie ganz auf der Linie von Außenministerin Annalena Baerbock [14]. Man dürfe "... nicht in eine neue Abhängigkeit von anderen Ländern hineinschlittern, sondern energiepolitisch eine eigene Souveränität haben".

Kurzfristig allerdings muss Deutschland in den sauren Apfel beißen: Die alten Abhängigkeiten werden vornehmlich gegen neue aus Katar und den USA eingetauscht. Langfristig indes sollen die erneuerbaren Energien die ersehnte Autarkie bringen – Strom- und Wärmeerzeugung hauptsächlich im eigenen Land. Das nennt sich dann "Freiheitsenergien": Freiheit von der Zulieferung anderer Staaten.

Denn das ist das Ideal einer sich als Weltmacht verstehenden Nation – keiner Einflussnahme von potenziell unbotmäßigen Ländern zu unterliegen. Und so selbst die Regeln zu bestimmen, ohne Gegendrohungen befürchten zu müssen.

Als drittgrößter Importeur und Exporteur auf dem Globus, nach den USA und China, ist das für Deutschland enorm wichtig. Man hat schließlich eine Menge Geschäft in der Welt abzusichern.

Geschäft, das auf Kosten anderer Staaten und deren Wirtschaft geht. Da sollten diese Verlierer des Welthandels möglichst keine Druckmittel in der Hand haben. Und falls diese auf die Idee kommen sollten, mit Gewalt die für sie nachteiligen Verhältnisse zu ihren Gunsten zu verändern, muss ein stattliches Militär für die nötige Abschreckung sorgen. Oder, wenn das nicht reicht, wirksam eingreifen.

Ende des deutschen Aufstiegs: Die USA norden den Bündnispartner ein

Bisher funktionierte das für Deutschland auch gut. Mit der militärischen Macht der Nato und der ökonomischen Wucht der Europäischen Union traten die Bundesregierungen mit ihren Interessen stets durchsetzungsstark gegenüber den ausländischen Adressaten ihres Kapitals auf. Der deutsche Aufstieg und die langjährige Spitzenposition auf dem Weltmarkt rühren daher.

Nicht erst Donald Trump, aber er unmissverständlich und undiplomatisch, machte als US-Präsident allerdings die Schwäche dieses Erfolgswegs deutlich – der ist nun einmal abhängig von der US-amerikanischen Duldung. Entsprechend hart schlug seine Kritik hierzulande ein2 [15]:

So wie der Präsident es sieht, lässt sich Deutschland seinen militärischen Schutz via Nato von amerikanischen Bürgern bezahlen, zugleich exportiert es massenhaft Waren in die USA und raubt eben diesen Bürgern die Arbeitsplätze. Und dann hat Berlin noch die Impertinenz, Milliarden an Russland für Gaslieferungen zu zahlen, an das Land also, vor dem die USA Deutschland auf ihre Kosten schützen.

Sein Nachfolger Joe Biden drückt das natürlich anders aus, aber er handelt danach. Der US-Kongress einigte sich im August 2021

auf ein rund eine Billion Dollar schweres Infrastrukturprogramm, das nicht nur das Wachstumspotenzial erhöhen, sondern vor allem die heimische Industrie zu alter Stärke zurückführen soll. Gleichzeitig kündigte Biden schärfere Regeln für ausländische Firmen an, die sich in den USA auf öffentliche Ausschreibungen bewerben.

Die Maßnahmen sollen "nur der Anfang" sein, um Lieferketten, Produktion und Innovationen unabhängiger vom Rest der Welt zu machen, so der Präsident. (…) Spätestens mit dem neuen Infrastrukturpaket dürfte auch dem letzten Transatlantiker klar sein: "Bidenomics" bedeuten nicht weniger "America first". Im Gegenteil, Protektionismus ist eine Konstante der Präsidentschaft Bidens – in mancher Hinsicht ist er hier sogar konsequenter als Trump.

Handelsblatt [16], 01.08.2021

Dieses massive wirtschaftliche Aufrüstungs-, Schutz- und Unabhängigkeitsprogramm ist eine Kampfansage sicher in Richtung China, aber auch an Deutschland und die EU. Schließlich sind diese Nationen beziehungsweise Staatenbündnisse die für die USA ernstzunehmenden Gegner auf den Weltmärkten. Von wem sonst will sich Washington verloren gegangene Marktanteile zurückerobern? Es wird also ökonomisch ungemütlich für Deutschland – und nun auch militärisch.

Die Nation wird eingereiht in die US-amerikanische Front gegen Russland und gezwungen, die Beziehungen zu Moskau einzustellen. Donald Trump dürfte feuchte Augen bekommen haben, als er hörte, dass Berlin nun nicht nur das Ziel der Nato erfüllt, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Militär auszugeben – sondern es sogar übertrifft. Auf einmal werden Waffen sogar in ein Kriegsgebiet geliefert. Und mal eben werden 100 Milliarden Euro locker gemacht für die größte Aufrüstung, die seit dem Zweiten Weltkrieg die Deutschen erlebt haben.

Eine enorme Verschuldung zusätzlich zu den bereits umfangreichen Staatskrediten im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie facht die Inflation weiter an. Doch das zählt in Kriegszeiten nicht. Den "Partner" Russland gibt es nicht mehr, er soll kleingemacht werden. Was dann übrig bleibt, teilt der Sieger USA unter sich und den Rest unter seinen Vasallen auf.

Widerstand kann und will sich Deutschland nicht leisten – noch nicht

Die USA unterbinden den bisherigen außenpolitischen Erfolgsweg Deutschlands, reihen die europäische Führungsmacht ein in die Einheitsfront gegen Russland und zwingen sie zu Sanktionen, die ihre Wirtschaft und Energiepolitik hart treffen. Da stellt sich die Frage: Warum tut sich Deutschland das an? Warum kann es nicht den Sonderweg weitergehen, das hat man doch selbst zu Atomkriegs-Szenarien im Kalten Krieg geschafft?

Nur: Wie sähe die Alternative aus? An Nord Stream 2 haben die USA demonstriert, welche Mittel sie einsetzen können, um ihre westlichen Bündnispartner unter Druck zu setzen: Wer sich daran beteiligt, macht mit uns keine Geschäfte mehr. Das kann sich kein Partner mit seinen Konzernen und Banken leisten, die Deutschen mit ihren zahlreichen Geschäften auf dem amerikanischen Markt schon gleich nicht.

Um die Erdgaspipeline durch die Ostsee auf den letzten Metern dennoch fertigzustellen, gründete man in Mecklenburg-Vorpommern die "Stiftung Klima- und Umweltschutz MV" mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten Erwin Sellering an der Spitze. So sollte der amerikanische Bann umgangen werden.

Was einst als cleverer Schachzug galt, fällt heute in Ungnade [17]. Die Stiftung ist passé. Nun gilt sie als ein Skandal, der sogar die bislang hoffnungsvolle Karriere einer SPD-Führungspolitikerin stoppt.

Außer diesen wirtschaftlichen Konsequenzen spricht gegen den weiteren deutschen Sonderweg bezüglich Russland, dass die EU mit Berlin voran jahrelang daran gearbeitet hat, die Ukraine dem russischen Einfluss zu entziehen. Der Putsch 2014 gegen die nicht umstandslos vom EU-Assoziierungsabkommen begeisterte Regierung in Kiew machte zwar die Vermittlung Deutschlands durch Außenminister Frank-Walter Steinmeier zunichte [18].

Aber im Ergebnis passte es: Der zu sehr auf russische Interessen Rücksicht nehmende Präsident Janukowitsch wurde fortgejagt. Damals warnte der Minister allerdings noch vor einer harten Gangart gegen Moskau. Europa und Russland seien für wirtschaftliche Sankionen zu eng verflochten.

Steinmeier plädierte für ein "internationales Gesprächsformat" – ohne die USA. So wollte er Russland die Ukraine eigenständig abverhandeln – und gleichzeitig die einträglichen Beziehungen mit dem großen Staat im Osten nicht gefährden.

Das mit dem Verhandeln zog sich im erwähnten "Normandie-Format" lange hin, legte den Konflikt aber nicht bei. Die ukrainische Regierung unternahm entgegen der Minsker Vereinbarung keinerlei Anstrengungen, den abtrünnigen Republiken Angebote für eine Autonomie innerhalb des Staates zu unterbreiten. Stattdessen hielten sie die Regionen weiter unter Beschuss. Deutschland und Frankreich übten allerdings auch keinen großen Druck auf Kiew aus, diese Obstruktion zu unterlassen.

Umso mehr gilt es aus deutscher Sicht, die Ukraine gegen den Versuch Russlands, militärisch deren Aufrüstung zum Nato-Frontstaat zu verhindern, mit allen Mitteln zu unterstützen. In dieser Beziehung brauchte es von Seiten der USA keine allzu große "Überzeugungsarbeit".

US-Präsident Joe Biden erklärte jedoch beim Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in Washington Anfang Februar, dass Nord Stream 2 nicht in Betrieb ginge, falls es zum Krieg komme. Eigentlich eine unfreundliche "Einmischung in innere Angelegenheiten", noch dazu eines Verbündeten. Doch der Kanzler widersprach nicht, sondern wich aus [19].

Damit war deutlich geworden: Wieder einmal würde in einer genuin europäischen Ordnungsfrage nicht die EU das Sagen haben, sondern die USA – wie Ende der 1990er-Jahre im ehemaligen Jugoslawien.

Mehr Handels- und echte Kriege mit deutscher Beteiligung: So sieht die Zukunft aus

Für Deutschland ist die neue Situation sehr ärgerlich. Schließlich hat man zusammen mit der EU den Anspruch, eine Weltmacht zu sein. Aktuell ist man aber in die zweite Reihe zurückversetzt und hat noch dazu die Sorge, in einem zukünftigen Konflikt zwischen den USA und China zerrieben zu werden [20].

Kurzfristig ist daran nichts zu ändern. Jetzt geht es allem Anschein nach darum, Russland möglichst viel zu schaden, auch wenn es Deutschland selbst hart trifft. Und ihm eine Niederlage zu bereiten, für die vom Westen bewaffnete Ukrainer mit ihrem Leben bezahlen.

Mittel- bis langfristig erteilt sich die hiesige Politik den Auftrag, dass sich eine solche abhängige Situation möglichst nicht wiederholen darf. Deshalb will man in der Rüstung enorm und schnell aufholen, um als Weltmacht ernster genommen zu werden.

Verdolmetscht wird das mit "mehr Verantwortung übernehmen", Konflikte "eigenständig" lösen. Und in der Schlüsselindustrie Energie noch schneller unabhängiger werden – erst von Lieferungen des Feindes, dann sukzessive auch von denen anderer Staaten, sei es Katar oder die USA. Der erste Teil wird klar so ausgesprochen, den zweiten darf man sich dazu denken.

Und was heißt das für den Staatsbürger? Als "Deutscher" wird man in Zukunft noch häufiger in Kriege hineingezogen und deren Risiken und Kosten zu tragen haben. Denn die Interessen von Staat und Kapital, pardon die "Werte" müssen natürlich überall auf der Welt "verteidigt" werden.

Der nächste große Gegner steht ja bereits fest: China. Die spannende Frage für Deutschland: Wann ist man in der Lage, bei der nächsten Einheitsfront Marke USA sich zu verweigern? Und wann, sogar den USA die Stirn zu bieten? Dafür wird sicher alles getan, koste es, was es wolle.


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Links in diesem Artikel:
[1] https://dgap.org/de/veranstaltungen/aussenpolitischer-ausblick-2022
[2] https://www.heise.de/tp/features/Was-die-Zeitenwende-von-Bundeskanzler-Scholz-bedeutet-6665130.html
[3] https://www.heise.de/tp/features/Baerbock-vor-UNO-Friedensrede-fuer-mehr-Krieg-6543949.html
[4] https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Berichte/DE/Frank-Walter-Steinmeier/2022/04/220403-Statement-Kriegsverlauf-Ukraine.html
[5] https://www.spiegel.de/politik/frank-walter-steinmeier-raeumt-erstmals-fehler-in-russland-politik-ein-a-0ecac4da-3d8c-4abf-ba63-2be5ed24cb5d
[6] https://www.ost-ausschuss.de/sites/default/files/pm_pdf/Special%2050%20Jahre%20R%C3%B6hren%20gegen%20Gas.pdf
[7] https://www.vdi-nachrichten.com/wirtschaft/politik/usa-treiben-keil-zwischen-deutschland-und-russland/
[8] https://www.n-tv.de/politik/Trump-nennt-EU-einen-Gegner-der-USA-article20530415.html
[9] https://www.bundestag.de/parlament/geschichte/gastredner/putin/putin_wort-244966
[10] https://www.br.de/nachrichten/wissen/wie-hart-treffen-russland-sanktionen-deutschland-possoch-klaert
[11] https://www.heise.de/tp/features/Deutsche-Lehren-aus-dem-Ukraine-Krieg-7064004.html?view=fussnoten#f_1
[12] https://www.handelsblatt.com/politik/international/krim-streit-fast-700-millionen-us-dollar-pro-monat-deutschland-leidet-unter-russland-sanktionen/25107884.html
[13] https://www.br.de/nachrichten/wissen/ukraine-krieg-und-die-auswirkungen-wirtschaftsweise-alte-weltordnung-in-frage-gestellt,T2QE9Mr
[14] https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/baerbock-nationale-sicherheitsstrategie/2517738
[15] https://www.heise.de/tp/features/Deutsche-Lehren-aus-dem-Ukraine-Krieg-7064004.html?view=fussnoten#f_2
[16] https://www.handelsblatt.com/politik/international/wirtschaftskurs-der-us-regierung-wie-amerika-mit-seinem-protektionismus-deutschland-schadet-und-sich-selbst/27473412.html
[17] https://www.sueddeutsche.de/meinung/sellering-nord-stream-gerhard-schroeder-stiftung-klima-und-umweltschutz-mv-1.5564423
[18] https://www.dw.com/de/steinmeier-pendler-zwischen-den-schaupl%C3%A4tzen/av-17477258
[19] https://www.merkur.de/politik/ukraine-scholz-usa-biden-konflikt-russland-washington-kanzler-deutschland-putin-news-zr-91285339.html
[20] https://www.handelsblatt.com/meinung/kommentare/kommentar-deutschland-muss-beim-umgang-mit-china-eine-schwierige-entscheidung-treffen/25939540.html