"Deutsche haben Angst, wenn sie solidarisch sein sollen"
Über die jüngsten Sozialproteste in Berlin und die Reaktionen der etablierten Parteien. Ein Kommentar
"Zehntausende demonstrierten gegen Mietenwahnsinn", meldeten Presseagenturen über die Demonstration der "Mietrebellen" am 11. September in Berlin. Es besteht die Gefahr, dass auch diese Manifestation mit bis zu 20.000 Teilnehmenden im Hintergrundrauschen vor den Wahlen schnell vergessen wird. Schließlich gab es in den letzten Wochen jedes Wochenende Proteste in Berlin.
Von "Wer hat, der gibt" über "Unteilbar" bis zum "Widerstand gegen die Privatisierungspolitik" am kommenden Samstag reicht die Palette des Protestreigens im Vorfeld der Bundestagswahlen.
Am Freitag vor der Wahl wird sich dann die Klimabewegung mit einem "Streik" genannten Protesttag zu Wort melden. Alle Organisatoren betonen ihre außerparlamentarische Ausrichtung. Doch das Verhältnis zu den Parteien ist unterschiedlich.
Bei "Wer hat, der gibt" waren keine Parteisymbole erwünscht, bei "Unteilbar" und bei der Mieterdemo hingegen konnten sich Parteien im hinteren Teil der Demonstration einreihen, was sie auch ausgiebig nutzten.
Parteien – zwischen Street-Credibility und Verratsvorwürfen
Es macht sich natürlich gut, wenn kurz vor den Wahlen Parteien auch ihre Street-Credibility beweisen können. Dagegen betonen vor allem autonome und anarchistische Gruppen ihre Parteien- und Staatsferne mit Recht, allerdings oft mit idealistischen Argumenten, wenn beispielsweise betont wird, dass die Parteien ihre Wähler doch nur verraten werden.
Diese simplifizierte Staatskritik kommt auch in reformerischer Variante daher. So konnte man auf der Mietendemonstration zahlreiche Plakate sehen, die sich gegen die Spitzenkandidatin der SPD bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl, Franziska Giffey, richtete, die in den letzten Wochen vor allem Wahlkampf gegen ihre bisherigen Koalitionspartner, die Grünen und die Linken, machte.
So sorgte die Berliner SPD dafür, dass mehrere fest verabredete Projekte auf die Zeit nach der Wahl vertagt wurden. Dazu zählt die Ernennung eines unabhängigen Polizeibeauftragten in Berlin, der vor allem die Vorwürfe von Polizeigewalt und Diskriminierung bestimmter Bevölkerungsgruppen untersuchen soll.
Auch das Mobilitätsgesetz, das vor allem die Rechte von Fahrradfahrern gegenüber Autofahrern stärken soll, und die Regelung einer ökologischen Bauordnung wurden durch die Berliner SPD auf die lange Bank geschoben.
Die Taktik ist klar. Eine nach der Wahl gestärkte SPD will sich Koalitionsoptionen bei CDU und FDP offenhalten und so auch Druck auf die bisherigen Koalitionspartner ausüben. Denn die waren bei einer eher schwachen SPD der letzten Jahre selbstbewusster geworden, was sich schon daran zeigte, dass die Spitzenkandidaten der Grünen und der Linken auch Anspruch auf das Amt des Regierenden Bürgermeisters erheben.
Als dann Giffey noch erklärte, sie würde auch ein erfolgreiches Volksbegehren für den Rückkauf von großen Wohnungskonzernen nicht umsetzen, wurde das verständlicherweise als Angriff auf die in Berlin starke Mieterbewegung gesehen. Auch hier geht es darum, die Koalitionsoptionen der SPD nach den Wahlen zu verbessern.
Das Problem: Beim Volksbegehren am 26. September wird eben nicht über ein Gesetz zum Rückkauf abgestimmt, sondern über eine Aufforderung an Senat, dafür die nötigen Schritte zu ergreifen. Giffey wird also ganz im Sinne eines "Staates des Kapitals" agieren können, wie es Johannes Agnoli nannte.
Dabei ist die Politik eben nicht einfach ein Erfüllungsgehilfe des Kapitals, wie es eine verkürzte Staatskritik, die auch in Teilen der linken Bewegung zu finden ist, behauptet. Auch der Verratsvorwurf, der dort gerne gegen die Politik in Anschlag gebracht wird, greift da zu kurz. Agnoli betonte, dass die relative Autonomie des Politischen gerade eine Grundvoraussetzung dafür ist, dass der "Staat des Kapitals" funktioniert.
Das wird auch nicht dadurch dementiert, dass Politiker tatsächlich von bestimmten Konzernen Geld oder andere Gratifikationen bekommen. Doch eine zu kurz greifende linke Kritik konzentriert sich auf das Anprangern solcher Fälle von Korruption, während der Staatscharakter aus dem Blick gerät. So wird auch nicht verständlich, dass Giffey mit ihrer prokapitalistischen Politik in Umfragen Erfolg hat.
Bezahlen für ein Menschenrecht
Hinter diesem Erfolg steht die kapitalistische Logik, die auch in den Köpfen vieler Wähler, die vom System nicht profitieren, fest verankert ist. Dann stoßen solche Passagen aus einem aktuellen Deutschlandfunk-Interview von Giffey auf Zustimmung:
Wohnen ist ein Menschenrecht, aber es ist klar, dass Wohnen auch bezahlt werden muss. Ich finde wichtig, dass wir klarmachen, dass wir für bezahlbare Mieten stehen, aber nicht eben für einen Weg, der sagt, wir lösen es, indem wir Wohnungen enteignen.
Franziska Giffey, Deutschlandfunk
Diese kapitalistische Strukturierung des Bewusstseins des Wählers ist auch ein Grund dafür, dass die Vorstellung, man könne die Wahlen für soziale Themen nutzen, schnell an seine Grenzen stößt. Das erklärt auch, warum bei Wahlkämpfen oft irrationale und reaktionäre Ressentiments angesprochen werden und nicht emanzipatorische Forderungen, die für die Mehrheit der Bevölkerung von Vorteil wären.
Darauf hat in der taz Volkan Agar hingewiesen. Er hat sich dabei auf eine Studie der R+V bezogen. Im Ergebnis, so Agar, besteht die größte Angst der Befragten darin, dass der Staat sie für die Milliardenschulden der Coronakrise zur Kasse bittet.
Diese Furcht könnte ja noch im Sinne des Bündnisses "Wer hat, der gibt" in eine emanzipatorische Richtung gelenkt werden, dass dann eben die Reichen für die Krise zahlen sollen. Doch wenn 53 Prozent der Befragten Angst vor Steuererhöhungen hat, bleibt von dieser Option kaum etwas. Vielmehr zeigt sich, dass mit solchen Ängsten Politik im Sinne des Staates des Kapitals gemacht werden.
Das wird noch bestärkt, wenn eine andere Angst so formuliert würde, dass Migranten die Deutschen und ihre Behörden überfordern. Agar fasst das Ergebnis der Befragung der Steuerbürger aus dem Mittelstand so zusammen:
Die Deutschen haben immer dann Angst, wenn sie solidarisch sein sollen.
Volkan Agar, taz
Das zeigte sich bereits vor rund acht Jahren, als die Bild-Zeitung eine Kampagne gegen "Pleitegriechen" inszenierte, in der sich Menschen noch mit Bild und Wort dazu bekennen konnten, dass für sie Solidarität ein Fremdwort ist.
Solidarität statt irrationaler Angst
Doch Solidarität ist ja nicht mit karitativer Hilfe zu verwechseln. Solidarität fängt da an, wo sich Menschen als Mieter, als Erwerbslose oder Lohnabhängige für ihre eigenen Interessen einsetzen. Das haben die Teilnehmer der Mietendemonstration am vergangenen Samstag getan. Darin liegt auch der größte positive Effekt der Demonstrationen im Vorfeld des Wahlsonntags am 26. September.
Der Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, hat als Redner auf der Mieterdemonstration darauf hingewiesen, dass es nach den Wahlen wichtig sein wird, den Politikern, welcher Partei auch immer, auf die Finger zu sehen. Das bedeutet, dass es noch viele Demonstrationen geben wird.
Doch dazu braucht es auch viele Aktionen, in der sich die unterschiedlichen Bewegungen praktisch und theoretisch weiterbilden. Das kann ein Bildungsabend über den "Staat des Kapitals" sein oder der Versuch, eine Zwangsräumung oder das Gentrifizierungsprojekt eines Immobilienkonzerns zu verhindern.
Bei solchen Aktionen könnten die Beteiligten, die von Volkan Agar beschriebene Angst vor der Solidarität verlieren. Daher sind solche Demonstrationen wie am vergangenen Samstag wichtig, auch wenn die Medien allenfalls kurz darüber berichten.