Deutschland: "Impfturbo definitiv abgeflaut"

Das Problem der Impfmüdigkeit und der Impfgegner gibt es auch in Frankreich. In Paris ist erlaubt, was in Berlin verboten ist

Die Anfragen nach Impfungen in den Hauspraxen haben spürbar nachgelassen, teilte Armin Beck, Mitglied im Bundesvorstand des Hausärzteverbandes und Chef des hessischen Verbandes, dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) mit. Seien dem Verband früher von einzelnen Kolleginnen und Kollegen noch von 300 oder sogar 500 Anfragen wöchentlich berichtetet worden, so sei mittlerweile die Rede von "zögerliche(n) 30 oder weniger".

Der Anteil "der klaren Impfbefürworterinnen und -befürworter unter den Ungeimpften" habe im Verlauf der Impfkampagne stark abgenommen, so Beck, weswegen die Ärzte nun viel Überzeugungsarbeit und Zeit investieren würden.

Der Impfturbo, den wir im Frühjahr und bis zum Juli hinein erlebt hatten, ist definitiv abgeflaut.

Armin Beck

Anfang April hatte Beck noch davon gesprochen, dass die Patienten "total happy" seien, dass es jetzt mit den Corona-Impfungen in den Hausarztpraxen losgehe (Phönix, Minute 1:08).

Das Impfdashboard weist für den gestrigen Freitag ein Plus von 213.000 Impfungen aus. Die Zahl der Erstimpfungen lag bei 92.284.

Insgesamt werden in Deutschland 53.965.720 geimpfte Personen (64,9 Prozent der Gesamtbevölkerung) gezählt. Davon sind 50.002.224 (60,1 Prozent der Gesamtbevölkerung) zweifach geimpft. Der Abstand ist nicht besonders groß.

Die Erstimpfungen legen nicht mehr viel zu, außer - infolge der Stiko-Neuempfehlung - bei den Unter-18-Jährigen. Das bestätigt den Eindruck, dass sich die Impfbereitschaft doch in kleinerem Rahmen hält, als es eine ARD-DeutschlandTrend-Umfrage noch Anfang August nahelegte: Da zeigten sich 83 Prozent (der gut 1.000 Befragten) "auf jeden Fall" für eine Corona-Impfung bereit, bzw. waren schon geimpft: Hohe Impfbereitschaft in Deutschland.

Der Trend

Der abflauende Trend ist deutlich an der Grafik des Impfdachboards abzulesen. Für den 14. Juli werden rund 980.000 Impfungen gemeldet, davon 750.000 Zweitimpfungen und 230.000 Erstimpfungen. Dieser Tag rührte bei noch an die Marke von einer Million, die im Juni mehrfach erreicht und überstiegen wurde.

Danach ging es stets weiter weg von dieser Marke. Der Wert vom 21. Juli mit rund 760.000 Impfungen sticht noch ins Auge, aber dann wachsen die Balken nicht mehr in diese Höhe. Im August fällt der vierte Tag des Monats aus der Reihe mit 570.000 Impfungen, später der elfte mit 540.000, das letzte höhere Balken ist der 18. August mit 420.000 Corona-Impfungen.

Warnungen

Angesichts der steigenden Sieben-Tage-Inzidenz, die die Tagesschau am heutigen Samstag ihrer Meldung über die Impfmüdigkeit hinzufügt - Anstieg laut RKI von 51,6 auf 72,1 binnen einer Woche -, fallen die Warnungen gezielter aus. So spricht sich Anselm Gitt, ein Kardiologe, der dpa gegenüber dafür aus, die Inzidenz "impfkorrigiert" zu präsentieren.

Die Sieben-Tage-Inzidenz sei nun anders zu bewerten als vor einem Jahr. Der Anteil der Geimpften müsse mit einberechnet werden. Man könne nicht weiter "völlig außer Acht, dass sich mittlerweile die Hälfte hat impfen lassen".

Im Mittel wäre die Sieben-Tage-Inzidenz dann für die gesamte Bundesrepublik um mehr als den Faktor Zwei höher. Die impfkorrigierte Sieben-Tage-Inzidenz liegt derzeit in 11 der 16 Bundesländer weit über 100 und in Nordrhein-Westfalen sogar bei 277.

Anselm Gitt, Institut für Herzinfarktforschung Ludwigshafen

Der Münchner Merkur präsentiert den Vorschlag des Arztes mit der reißerischen Überschrift "Erschreckende Werte veröffentlicht". Gut möglich, dass bei solchen Schreckensmeldungen auch Pädagogik mit dabei sein soll. Ob sie dann auch zum Ziel führt, ist ein anderes Feld.

Proteste

In Frankreich hat man zwar eine bessere Impfbilanz - 63,3 Prozent sind zweifach geimpft, 71 Prozent einmal -, aber das gleiche Problem. Der Anteil der doppelt Geimpften reicht der Regierung nicht angesichts der vierten Welle. Wie an dieser Stelle mehrfach berichtet, setzt die Regierung deutlich auf Druck und Autorität, um die Menschen zum Impfen zu drängen.

Allerdings ist die Impfbereitschaft längst nicht mehr so euphorisch, wie es über Doctolib-Anfragen nach Macrons "Geht impfen oder macht euch auf negative Konsequenzen gefasst"-Ansprache gemeldet wurde.

Stattdessen sorgen seit einiger Zeit jedes Wochenende Hunderttausende von Demonstranten, die mit der Corona-Politik (Erweiterung des Gesundheitspasses) der Regierung in Paris nicht einverstanden sind, für größere Aufmerksamkeit. Auch für heute sind Hunderte Veranstaltungen angekündigt. Gerechnet wird damit, dass etwas weniger als an den Samstagen zuvor auf die Straße gehen.

Unter den französischen Demonstranten machen sich viele Impfgegner ("antivax") bemerkbar, auch wenn in Berichten immer wieder darauf hingewiesen wird, dass auch Impfbefürworter und sowieso viel "normales Volk" dabei sind. Wenn man einen grundsätzlichen Vergleich mit deutschen Verhältnissen anstellt, so fällt vor allem eins auf: In Paris darf demonstriert werden, in Berlin gab es Verbote (Nachtrag: "Mehrere Tausend" konnten dennoch demonstrieren). Ist die deutsche Angst nach wie vor mehr als nur ein Klischee?