Deutschland nach der Wahl: Stillstand und die bröckelnde Mitte
Der wahrscheinlich kommende Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU)
(Bild: Juergen Nowak/Shutterstock.com)
Deutschland steht nach der Wahl vor einer politischen Lähmung. Die Mitte bröckelt, die Ränder gewinnen an Boden. Wird die Brandmauer halten? Ein Gastbeitrag.
Die Wahlergebnisse vom Sonntag deuten darauf hin, dass die Deutschen den Franzosen folgen, allerdings mit einigen Jahren Verspätung.
Der Aufstieg "antisystemischer" oder "populistischer" Parteien von rechts und links zwingt die alten Mainstream-Parteien zu dauerhaften Koalitionen, um die "Extremisten" draußen zu halten. Wenn es den Zentristen jedoch nicht gelingt, die Position ihrer Länder zu verbessern, stärkt dies die Populisten, da der Opposition keine anderen Wege bleiben.
Folgen der Wahl: Mögliche Lähmung und Stagnation
Es besteht die Gefahr, dass Deutschland und Frankreich – nach wie vor die beiden führenden Länder der Europäischen Union – auf Jahre hinaus in einem Zustand politischer Stagnation verharren und nicht in der Lage sind, wirksam auf die internationalen, wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen zu reagieren, mit denen sie konfrontiert sind.
Herausforderungen, die sich (zumindest aus europäischer Sicht) durch die Trump-Administration drastisch verschärft haben.
Eine solche Lähmung würde die Missachtung europäischer Ansichten und Interessen durch die Trump-Administration noch verstärken. Das daraus resultierende Krisengefühl in Deutschland könnte die Parteien hinter radikalen Reformen vereinen, aber auch die zunehmend bitteren ideologischen Spaltungen in Deutschland vertiefen.
Die "Sieger" dieser Wahlen, die Christdemokraten (CDU/CSU) unter der Führung von Friedrich Merz, haben mit 28,6 Prozent das zweitschlechteste Ergebnis ihrer Geschichte erzielt (das schlechteste bei der letzten Bundestagswahl 2021).
Immerhin schnitt sie damit besser ab als ihr künftiger Koalitionspartner, die Sozialdemokraten (SPD), die mit nur 16,4 Prozent ihr schlechtestes Ergebnis seit den 1880er Jahren einfuhren. Auch zusammen werden die beiden im Nachkriegsdeutschland dominierenden Parteien nur über eine knappe Mehrheit im Parlament verfügen.
In Frankreich gelang es Emmanuel Macron 2017 und 2022, Marine Le Pen von der rechtsextremen Front National (inzwischen umbenannt in Rassemblement National) nur zu besiegen, indem er effektiv alle Mainstream-Parteien hinter sich vereinte.
Diese Strategie scheiterte bei den Parlamentswahlen im vergangenen Jahr, als der Rassemblement National und eine Koalition linker Parteien Macrons parlamentarische Unterstützung auf eine Minderheit reduzierten.
Obwohl die nächsten Präsidentschaftswahlen erst 2027 anstehen, ist Macron eine lahme Ente; unfähig, wichtige Gesetze durch ein bitter gespaltenes Parlament zu bringen, und zunehmend gezwungen, per Dekret zu regieren.
Ende der Brandmauer nur Frage der Zeit
Eine düstere Prognose für die nächste deutsche Koalitionsregierung wäre, dass diese Ente lahm wird, bevor sie überhaupt aus dem Ei geschlüpft ist. Bei den zentralen Themen Migration und Wirtschaftsreformen liegen die beiden Parteien weit auseinander.
Der neue Kanzler Friedrich Merz (dessen persönliche Beliebtheitswerte sogar unter denen seines unterlegenen SPD-Rivalen, des scheidenden Kanzlers Olaf Scholz, liegen) ist ein ehemaliger Blackrock-Manager, dessen transatlantische radikale Freihandelsinstinkte bei der SPD auf tiefes Misstrauen stoßen.
Die Sozialdemokraten haben sich vehement gegen Merz’ Versuch gewehrt, den Aufstieg der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD) durch eine wesentlich härtere Linie in der Einwanderungspolitik zu blockieren. Die jüngsten Terroranschläge, die von muslimischen Asylbewerbern verübt wurden, haben diese Ängste noch verstärkt.
Die AfD verdoppelte ihren Stimmenanteil auf 20,8 Prozent – wenn auch etwas weniger als erhofft. Noch hält die sogenannte "Brandmauer" der anderen Parteien gegen eine Koalition mit der AfD (der sie Nazi-Vergangenheit und -Haltungen vorwerfen) – aber wie in anderen europäischen Ländern scheint der endgültige Zusammenbruch der Brandmauer und der Eintritt der populistischen Rechten in die Regierung nur noch eine Frage der Zeit zu sein.
In mehreren ostdeutschen Bundesländern, in denen die AfD ihre stärkste Basis hat, wird es immer schwieriger, ohne sie Mehrheitsregierungen zu bilden.
Eine entscheidende Frage für die AfD und die deutsche Politik ist, ob und wie schnell es der Parteivorsitzenden Alice Weidel gelingt, die erfolgreiche Strategie ihrer ideologischen Verbündeten Marine Le Pen nachzuahmen und ihre Partei von den radikaleren Elementen zu säubern.
Einige von ihnen erinnern in der Tat an die Nazis. Aber das kann man kaum von Weidel selbst sagen, einer Lesbe, die mit einer Sri Lankerin verheiratet ist, oder von den meisten ihrer anderen führenden Kollegen.
Wie anderswo hat die lange und polemische Dämonisierung der Kritiker der Masseneinwanderung durch das deutsche Establishment als "Nazis" und "Rassisten" angesichts der wachsenden öffentlichen Besorgnis über das Thema – wenn überhaupt – nur dazu beigetragen, Figuren wie Weidel in den Augen vieler Deutscher zu "normalisieren".
Die Linke als größte Überraschung der Wahl
Immer mehr deutsche Analysten beginnen daher, hinter vorgehaltener Hand eine zukünftige Koalition zwischen CDU und AfD vorherzusagen. Damit wäre die politische Szene in Deutschland jedoch tiefer und bitterer gespalten als je zuvor seit 1945. Die größte Überraschung dieser Wahl war das starke Abschneiden der radikalen Anti-Establishment-Partei Die Linke mit 8,6 Prozent.
Die Linke hat den Sozialdemokraten und den Grünen (11,6 Prozent), die von den jüngeren Wählern zunehmend nur noch als eine weitere Establishment-Partei wahrgenommen werden und die mit ihrer extremen Kriegshetze gegen Russland ihre linken Elemente verprellt haben, deutlich an Zustimmung gekostet.
Bei den 18- bis 25-jährigen lag die Zustimmung zur Linken mit 25 Prozent fast doppelt so hoch wie bei CDU und SPD.
Die Linke gewann auch Stimmen vom Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) zurück, das damit unter die Fünf-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament fiel. Das BSW ist im Wesentlichen eine Gruppe von Linken, die sich von der Partei abgespalten haben, weil sie der "Woke"-Ideologie und einer offenen Einwanderungspolitik anhängen.
Ihre Niederlage beseitigt (zumindest für diese Legislaturperiode) eine Partei, die die Kluft zwischen Links und Rechts in diesen Fragen hätte überbrücken können, und treibt die ideologische Polarisierung der deutschen Politik weiter voran.
Schlechte Zeit für Polarisierung
Es ist eine schlechte Zeit für die Deutschen, so gespalten zu sein. Die Wirtschaft stagniert, und die zunehmende Konkurrenz aus China und die Zollerhöhungen der Trump-Administration dürften die Lage in den kommenden Jahren noch verschärfen.
Zum ersten Mal in der Geschichte entlassen deutsche Automobilhersteller Zehntausende von Mitarbeitern. Die deutsche Innovationskraft ist drastisch gesunken und die deutsche Infrastruktur hat einen Sanierungsbedarf von schätzungsweise 400 Milliarden Euro.
Die Wiederaufnahme billiger russischer Gasimporte würde deutlich helfen, aber die anhaltende Feindseligkeit gegenüber Russland ist eines der wenigen Dinge, in denen sich CDU und SPD einig sind.
Die Notwendigkeit großer inländischer Investitionen kollidiert mit dem Versprechen, die Ukraine weiter zu unterstützen, und den strengen Beschränkungen der deutschen Schuldenbremse, die die SPD lockern möchte, die die CDU aber nicht ändern will.
Inzwischen hat die Politik (oder besser: die Äußerungen) der Trump-Administration zu einer regelrechten Konzentration auf die deutsche Aufrüstung geführt, und selbst der zutiefst transatlantische Merz spricht von der Notwendigkeit einer europäischen "Unabhängigkeit" von Amerika. Das ist übertrieben.
Niemand in der Trump-Administration spricht davon, aus der Nato auszutreten oder sie in ihren bestehenden Grenzen nicht mehr zu verteidigen. Die Trump-Administration hat nur das "Versprechen" zurückgezogen, die Nato auf die Ukraine auszudehnen – von dem sowohl Merz, Scholz als auch fast alle anderen deutschen Politiker gesagt haben, dass Deutschland dies unter keinen Umständen verteidigen würde.
Aber die psychologische Abhängigkeit Deutschlands von den USA in Sicherheitsfragen ist so tief, dass selbst eine rhetorische Bedrohung dieser Sicherheitsdecke im deutschen Sicherheitsestablishment fast schon Hysterie auslöst.
Das Problem ist, dass jede ernsthafte gemeinsame europäische Verteidigung eine tiefgreifende wirtschaftlich-militärische Integration und die Abgabe weiterer nationaler Kompetenzen an die EU erfordert – was die meisten CDU-Wähler und alle AfD- und Linkspartei-Wähler ablehnen.
Ein grundlegendes deutsches Dilemma besteht darin, dass Deutschland eine radikal neue Politik von einer Koalition genau der beiden Parteien braucht, deren bisherige Politik das Land in dieses Chaos geführt hat.
Nicht nur haben sich CDU und SPD in den letzten sechs Jahrzehnten an der Macht abgewechselt, die letzte CDU-Kanzlerin, Angela Merkel, hat dreimal eine Koalition mit der SPD geführt, die keine ernsthaften Reformen durchgeführt hat.
Merkel war es auch, die die große Flüchtlingswelle aus dem Nahen Osten zuließ, die zum Aufstieg der AfD führte. Der natürliche Standardmodus jeder Koalition ist Kompromiss, Konformismus und Vorsicht – und Vorsicht ist das Letzte, was Deutschland jetzt braucht.
Anatol Lieven ist Direktor des Eurasia-Programms am Quincy Institute for Responsible Statecraft. Zuvor war er Professor an der Georgetown University in Qatar und am Department of War Studies des King’s College London.
Dieser Text erschien zuerst bei unserem Partnerportal Responsible Statecraft auf Englisch.