Deutschlandfunk am Nachmittag: Der Russe als Kannibale und Kinderfresser

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Mediensplitter (6): Wie der DLF eine ältere Kannibalismus-Erzählung von Kreml-Kritiker Vladimir Sorokin zu einem Abbild der heutigen russischen Gesellschaft verbraten hat – nicht jugendfrei.

Literatur kann auf unerwartete Weise gefährlich sein. Es soll ja Auffahrunfälle geben, die von einem spannenden Hörbuch ausgelöst wurden. Wer an einem Augustnachmittag nach 16 Uhr mit Kindern als Beifahrer unterwegs war und im Radio den Deutschlandfunk aufgedreht hatte, musste jedenfalls höllisch aufpassen, um den Nachwuchs zu schützen.

In der Sendung über die Erzählung "Nastja" des russischen Schriftstellers Vladimir Sorokin war ein Ausschnitt zu hören, bei dem es um Menschenfresserei ging. Nun kennt man das auch aus Märchen wie Hänsel und Gretel, und die Sorokinsche Erzählung ist auch jenseits einer faktischen Wiedergabe der Realität angesiedelt.

Aber die Details sind doch so anschaulich beschrieben, dass sie mit einer Eindringlichkeit unter die Haut gehen, dass es brenzlig wird, wenn die Hörer, weil sie noch Kinder sind, sich im Zwischenreich zwischen Märchen und Realität bewegen.

Ein Ausschnitt, der erwachsenen Telepolis-Lesern zuzumuten ist? Geschildert wird eine Szene, in der ein Mädchenkörper ("der Braten") aus einem Backofen geholt wird:

"Vater Andrei packte das eine Knie, Sablin das andere. Ächzend und ihre schönen Zähne fletschend zerrten sie an den Beinen. Ein kräftiges Knacken der Gelenke, und die gebratenen Beine fielen auseinander und verspritzen den Saft des aufgeplatzten Fleisches. Der Venushügel, der zwischen den Schenkeln vor der Gluthitze des Ofens geschützt gewesen war, leuchtete in zartestem Weiß."

Dieser Ausschnitt war, in einer etwas längeren Form, in der ursprünglichen Sendung des Deutschlandfunks im vergangenen August zu hören. Titel des Beitrags: "Vladimir Sorokin: ‚Nastja‘. Die köstliche Kruste einer 16-Jährigen."

Ein Unfall?

Mittlerweile wurde der Passus, wie auch eine andere brachiale Schilderung des kannibalistischen Geschehens, die der Erzählung entnommen wurde, entfernt. Die Redaktion der Sendung "Büchermarkt" informierte:

"Anmerkung der Redaktion: In der ursprünglichen Fassung sind Zitate aus dem Buch zum Thema Kannibalismus zu hören und zu lesen gewesen, die Hörerinnen und Hörer verstört haben. Die entsprechenden Passagen haben wir entfernt."

Sucht man mit einfachen Mitteln nach der Sendung, so informiert die ARD-Audiothek: "Oh je! Dieser Inhalt ist leider nicht mehr vorhanden!"

Doch gab es zumindest zwischenzeitlich eine gesäuberte Fassung, die öffentlich zugänglich blieb – ohne die für eine Nachmittagssendung irritierenden Buchauszüge, wie uns ein Leser mitteilte. Er schickte uns Transkripte der Sendungen sowie seine Korrespondenz mit dem öffentlich-rechtlichen Sender.

Dem Leser, beruflich selbst seit vielen Jahren als Journalist tätig, stießen jedoch nicht nur die unreflektierten Übernahmen der jugendschutzrechtlich relevanten und vom "Anhören oder Lesen her traumatisierenden Mord- und Vergewaltigungsphantasien" bös vor den Kopf, sondern auch die distanzlose Übernahme einer politischen Agenda, die ihm im Beitrag über Sorokin auffiel.

Wer frisst was?

Anzeichen dafür gibt es schon in dem Anriss unter der Überschrift "Die köstliche Kruste einer 16-Jährigen": Dort stand: "Kremlnahe Jugendliche warfen seine Bücher (Sorokins; Einf. d. A.) öffentlich in eine riesige Toilette, was dem im Exil lebenden Moskauer Schriftsteller Vladimir Sorokin vermutlich gefallen hat. In "Nastja" erzählt er von der Perversion der russischen Intelligenzia, die ihre eigene Freiheit aufgefressen hat."

Im Beitrag selbst wird nahegelegt, dass die Erzählung aktuelle politische Verhältnisse in Russland widerspiegelt. Der Rezensent ist dabei, wie schon bei den Zitaten, alles andere als zurückhaltend. Er stellt die "Perversion der russischen Gesellschaft" als Fakt dar, nicht als Interpretation:

Nastjas Opfer und Verspeistwerden sind Teil eines kulturellen Rituals – und ein an Deutlichkeit nicht zu überbietender Kommentar zur Perversion der russischen Gesellschaft. Vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs mit vielen jungen, zu Beginn ahnungslosen Soldaten liest sich die grausame Parabel vom Anfang der Nullerjahre bestürzend aktuell.

Ausschnitt aus dem Transkript vom 18.08.2022 zur ursprünglichen Sendung

Das Zitat von Sorokin zur Perversion der russischen Gesellschaft ist in einigen wichtigen Punkten präziser: "Eigentlich scheint es mir, dass es bei Nastja nicht um Nastja geht, sondern um die russische Intelligenzija am Vorabend des Jahrhunderts (!) der lang erwarteten Freiheit", heißt es im Klappentext zum Buch.

Und es gibt ein Interview mit dem Deutschlandfunk, das ein paar Tage vor der Sendung erschien. Da wird im Titel Sorokin zitiert: "Eine Intelligenzija, die ihre Freiheit aufgefressen hat". Demnach ist nicht die ganze Gesellschaft gemeint. Das präzisiert auch der Untertitel: "Sein Buch spielt zwar Anfang des 20. Jahrhunderts, aber auch die heutigen Intellektuellen in Russland verspielten ihre Freiheit, so Sorokin."

Distanz?

Es gibt also eine zeitliche Distanzierung zur Realität von heute wie auch eine Einschränkung: Sorokin spricht offenbar nicht die ganze russische Gesellschaft an, sondern besonders die Intellektuellen. Für den "Nastja"-Rezensenten des Deutschlandfunks war die Unterscheidung anscheinend nebensächlich.

Eine Differenzierung, die nicht die ganze russische Gesellschaft in einen Topf wirft und sich kritisch-distanziert mit einfachen Interpretationen auseinandersetzt, ist weder im Manuskript der ursprünglichen Sendung noch in der korrigierten Fassung zu lesen. In beiden Fassungen lautet der letzte Satz: "Die Regression der russischen Gesellschaft liegt bei ihm (Sorokin) offen zu Tage."

Ist es denn möglich, dass auch Literaturkritiker, Liebhaber der genauen zutreffenden Formulierungen, regredieren, Komplexität herunterdimmen, wenn es um eine politische Agenda geht?