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Deutschlandfunk am Nachmittag: Der Russe als Kannibale und Kinderfresser

Bild: Unsplash

Mediensplitter (6): Wie der DLF eine Ă€ltere Kannibalismus-ErzĂ€hlung von Kreml-Kritiker Vladimir Sorokin zu einem Abbild der heutigen russischen Gesellschaft verbraten hat – nicht jugendfrei.

Literatur kann auf unerwartete Weise gefĂ€hrlich sein. Es soll ja AuffahrunfĂ€lle geben, die von einem spannenden Hörbuch ausgelöst wurden. Wer an einem Augustnachmittag nach 16 Uhr mit Kindern als Beifahrer unterwegs war und im Radio den Deutschlandfunk aufgedreht hatte, musste jedenfalls höllisch aufpassen, um den Nachwuchs zu schĂŒtzen.

In der Sendung ĂŒber die ErzĂ€hlung "Nastja" des russischen Schriftstellers Vladimir Sorokin war ein Ausschnitt zu hören, bei dem es um Menschenfresserei ging. Nun kennt man das auch aus MĂ€rchen wie HĂ€nsel und Gretel, und die Sorokinsche ErzĂ€hlung ist auch jenseits einer faktischen Wiedergabe der RealitĂ€t angesiedelt.

Aber die Details sind doch so anschaulich beschrieben, dass sie mit einer Eindringlichkeit unter die Haut gehen, dass es brenzlig wird, wenn die Hörer, weil sie noch Kinder sind, sich im Zwischenreich zwischen MÀrchen und RealitÀt bewegen.

Ein Ausschnitt, der erwachsenen Telepolis-Lesern zuzumuten ist? Geschildert wird eine Szene, in der ein MÀdchenkörper ("der Braten") aus einem Backofen geholt wird:

"Vater Andrei packte das eine Knie, Sablin das andere. Ächzend und ihre schönen ZĂ€hne fletschend zerrten sie an den Beinen. Ein krĂ€ftiges Knacken der Gelenke, und die gebratenen Beine fielen auseinander und verspritzen den Saft des aufgeplatzten Fleisches. Der VenushĂŒgel, der zwischen den Schenkeln vor der Gluthitze des Ofens geschĂŒtzt gewesen war, leuchtete in zartestem Weiß."

Dieser Ausschnitt war, in einer etwas lĂ€ngeren Form, in der ursprĂŒnglichen Sendung des Deutschlandfunks im vergangenen August zu hören. Titel des Beitrags: "Vladimir Sorokin: ‚Nastja‘. Die köstliche Kruste einer 16-JĂ€hrigen."

Ein Unfall?

Mittlerweile wurde der Passus, wie auch eine andere brachiale Schilderung des kannibalistischen Geschehens, die der ErzĂ€hlung entnommen wurde, entfernt. Die Redaktion der Sendung "BĂŒchermarkt" informierte:

"Anmerkung der Redaktion: In der ursprĂŒnglichen Fassung sind Zitate aus dem Buch zum Thema Kannibalismus zu hören und zu lesen gewesen, die Hörerinnen und Hörer verstört haben. Die entsprechenden Passagen haben wir entfernt."

Sucht man mit einfachen Mitteln nach der Sendung, so informiert die ARD-Audiothek: "Oh je! [1] Dieser Inhalt ist leider nicht mehr vorhanden!"

Doch gab es zumindest zwischenzeitlich eine gesĂ€uberte Fassung, die öffentlich zugĂ€nglich blieb – ohne die fĂŒr eine Nachmittagssendung irritierenden BuchauszĂŒge, wie uns ein Leser mitteilte. Er schickte uns Transkripte der Sendungen sowie seine Korrespondenz mit dem öffentlich-rechtlichen Sender.

Dem Leser, beruflich selbst seit vielen Jahren als Journalist tĂ€tig, stießen jedoch nicht nur die unreflektierten Übernahmen der jugendschutzrechtlich relevanten und vom "Anhören oder Lesen her traumatisierenden Mord- und Vergewaltigungsphantasien" bös vor den Kopf, sondern auch die distanzlose Übernahme einer politischen Agenda, die ihm im Beitrag ĂŒber Sorokin auffiel.

Wer frisst was?

Anzeichen dafĂŒr gibt es schon in dem Anriss unter der Überschrift "Die köstliche Kruste einer 16-JĂ€hrigen": Dort stand: "Kremlnahe Jugendliche warfen seine BĂŒcher (Sorokins; Einf. d. A.) öffentlich in eine riesige Toilette, was dem im Exil lebenden Moskauer Schriftsteller Vladimir Sorokin vermutlich gefallen hat. In "Nastja" erzĂ€hlt er von der Perversion der russischen Intelligenzia, die ihre eigene Freiheit aufgefressen hat."

Im Beitrag selbst wird nahegelegt, dass die ErzĂ€hlung aktuelle politische VerhĂ€ltnisse in Russland widerspiegelt. Der Rezensent ist dabei, wie schon bei den Zitaten, alles andere als zurĂŒckhaltend. Er stellt die "Perversion der russischen Gesellschaft" als Fakt dar, nicht als Interpretation:

Nastjas Opfer und Verspeistwerden sind Teil eines kulturellen Rituals – und ein an Deutlichkeit nicht zu ĂŒberbietender Kommentar zur Perversion der russischen Gesellschaft. Vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs mit vielen jungen, zu Beginn ahnungslosen Soldaten liest sich die grausame Parabel vom Anfang der Nullerjahre bestĂŒrzend aktuell.

Ausschnitt aus dem Transkript vom 18.08.2022 zur ursprĂŒnglichen Sendung

Das Zitat von Sorokin zur Perversion der russischen Gesellschaft ist in einigen wichtigen Punkten prĂ€ziser: "Eigentlich scheint es mir, dass es bei Nastja nicht um Nastja geht, sondern um die russische Intelligenzija am Vorabend des Jahrhunderts (!) der lang erwarteten Freiheit", heißt es im Klappentext zum Buch [2].

Und es gibt ein Interview mit dem Deutschlandfunk, das ein paar Tage vor der Sendung erschien. Da wird im Titel Sorokin zitiert: "Eine Intelligenzija, die ihre Freiheit aufgefressen hat" [3]. Demnach ist nicht die ganze Gesellschaft gemeint. Das prÀzisiert auch der Untertitel: "Sein Buch spielt zwar Anfang des 20. Jahrhunderts, aber auch die heutigen Intellektuellen in Russland verspielten ihre Freiheit, so Sorokin."

Distanz?

Es gibt also eine zeitliche Distanzierung zur RealitĂ€t von heute wie auch eine EinschrĂ€nkung: Sorokin spricht offenbar nicht die ganze russische Gesellschaft an, sondern besonders die Intellektuellen. FĂŒr den "Nastja"-Rezensenten des Deutschlandfunks war die Unterscheidung anscheinend nebensĂ€chlich.

Eine Differenzierung, die nicht die ganze russische Gesellschaft in einen Topf wirft und sich kritisch-distanziert mit einfachen Interpretationen auseinandersetzt, ist weder im Manuskript der ursprĂŒnglichen Sendung noch in der korrigierten Fassung zu lesen. In beiden Fassungen lautet der letzte Satz: "Die Regression der russischen Gesellschaft liegt bei ihm (Sorokin) offen zu Tage."

Ist es denn möglich, dass auch Literaturkritiker, Liebhaber der genauen zutreffenden Formulierungen, regredieren, KomplexitÀt herunterdimmen, wenn es um eine politische Agenda geht?


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7284964

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.ardaudiothek.de/episode/buechermarkt-deutschlandfunk/vladimir-sorokin-nastja-eine-russlandparabel/deutschlandfunk/10766537/
[2] https://www.perlentaucher.de/buch/vladimir-sorokin/nastja.html
[3] https://www.deutschlandfunkkultur.de/nastja-russische-intelligenzija-und-grausamkeit-dlf-kultur-abe08af8-100.html