zurück zum Artikel

Dichtung und Wahrheit über ein Septembermärchen

Schnuller auf Nato-Draht: Szene im Lager Idomeni im Norden von Griechenland. Bild: Wassilis Aswestopoulos

Die deutsche "Willkommenskultur": ihre Freunde, ihre Gegner und ihr Ende (Teil 1)

Vor vier Jahren wusste ein Sozialwissenschaftler den leisen Stolz auf eine von ihm empfundene "Revolution" in seinem Heimatland in folgende Worte zu fassen: "Die herzlichen Begrüßungen im September 2015 waren Teil einer stillen Revolution. (...) Sie gaben den Flüchtlingen das deutliche Signal: Ihr seid jetzt in Sicherheit. (Dadurch) öffnete sich auch ein historisches Fenster für die Gesellschaft in Deutschland, nachhaltiger bei sich selber anzukommen."1 [1]

Eine grüne Fraktionsvorsitzende mit theologischem Hintergrund zeigte sich ebenso tief berührt: "Wir erleben in Deutschland derzeit ein echtes Septembermärchen. Wir sind plötzlich Weltmeister der Hilfsbereitschaft und Menschenliebe. Und ich kann zum ersten Mal sagen, dass ich uneingeschränkt stolz auf mein Land bin."2 [2]

Auch ein prominentes Professoren-Ehepaar, das gerade ein Enkelkind bekam, wagte einen hoffnungsfrohen Blick in die Zukunft: "Es wird auf Jahre hinaus die normative Reputation Deutschlands erhöhen, dass die Bundesregierung (...) sich ihrer humanitären Verantwortung bewusst geblieben ist."3 [3]

Als sich zwei Jahre nach diesen Zeilen eine in den Talkshows präsente damalige Bundesministerin mit dem Vorwurf konfrontiert sieht, ihre Kanzlerin habe in Migrationsfragen Missmanagement betrieben, gibt sie der "humanitären Verantwortung" Deutschlands eine aktualisierte Fassung: Es sei "gelungen, den Flüchtlingsstrom nach Deutschland um 95 Prozent zu reduzieren"4 [4]

Dem parallel dazu veröffentlichten Beamtendeutsch sind dann die näheren Umstände dieser neuerlichen Rekordleistung zu entnehmen: Masterplan Migration, Halbierung der Gesamtschutzquote, Anstieg der Ablehnungsquote und Verfahrenserledigung auf 70 Prozent, Entscheidungsbeschleunigung, Transitzentren, Zunahme der Rücknahmeabkommen und der sicheren Herkunftsländer, Fluchtursachenbekämpfung usw.

Besagte Ministerin leitet inzwischen die Europäische Kommission und macht auf 400 Seiten weitere Vorschläge [5], wie "die einzelnen Länder sich an der Umverteilung von Asylbewerbenden beteiligen, alternativ an der Rückführung (…) mitwirken, oder zumindest finanzielle Unterstützung (…) bereitstellen" können. "In den vergangenen fünf Jahren habe sich gezeigt, dass freiwillige Solidarität offenbar nicht ausreichend ist." Für die Bundesrepublik stellt sich allerdings schon die vorhandene "Solidarität" innerhalb der EU als vorteilhaft dar, die 2019 verglichen mit 2016 [6] zu einem Rückgang der Asylanträge um fast 80 Prozent beigetragen hat, welcher sich mit 86.000 Anträgen bis Oktober 2020 noch einmal halbierte.

Während sich vor drei Jahren CDU und CSU in ihrem "Obergrenzen"-Streit darauf verständigten [7], "dass die Netto-Zuwanderung aus humanitären Gründen pro Jahr nicht mehr als 200.000 Menschen betragen (und) eine Situation wie 2015 (…) sich nicht wiederholen" soll, stellt sich die Sache mit der Höchstgrenze von 200.000 aus Anlass der katastrophalen Zustände auf Lesbos heute so dar:

"Seehofer hat sich bereit erklärt, über die bis zu 150 Kinder hinaus etwa 1500 Menschen aufzunehmen. Bereits (hier sind) 53 unbegleitete Asylsuchende. (…) Die Aufnahme von 243 behandlungsbedürftigen Kindern sowie ihren Kernfamilien sei in der Umsetzung. (…) Die Gesamtzahl (…) beläuft sich dementsprechend auf 2750."5 [8] Passend dazu "nutzt aktuell die Bundesregierung die deutsche EU-Ratspräsidentschaft, um die Abriegelung nicht nur Tunesiens [9], sondern des gesamten Maghreb voranzutreiben."

Historisches Fenster schnell wieder geschlossen

Es ist nicht weiter bekannt, was die zitierten und sonstigen Lobredner des weltmeisterlichen Humanismus vom Herbst 2015 mit der offensichtlichen Blamage ihrer stolzerfüllten Worte von gestern angefangen haben. Vermutlich werden sie inzwischen wohl meinen, damals sei vielleicht ein wenig des Guten zu viel getan worden - insbesondere deshalb, weil über die "offenen Grenzen" auch eine ungebetene neurechte Opposition Einzug in die deutschen Parlamente gehalten und dem besagten Humanismus ein Folgeproblem eröffnet hat.

Das "historische Fenster" war jedenfalls schnell wieder zu. Daher soll die Gelegenheit nicht verpasst werden, kritischen Zeitgenossen, die im Rückblick auf fünf Jahre ‚Flüchtlingskrise‘ an den hehren Motiven der deutschen "Willkommenskultur" zweifeln, ohne ihre wirklichen Beweggründe zu kennen, eine Antwort anzubieten. Sie entstammt einer marxistischen Zeitschrift [10] und soll kurz zitiert und kommentiert werden:Für eine Macht wie Deutschland ist (…) die Flüchtlingsfrage viel mehr als eine Bewährungsprobe für die moralische Qualität der Deutschen, nämlich ein Test auf die Macht ihres Staates, der europäischen und weiteren Staatenwelt seine Definition dieses weltweiten Problems und dessen Lösung aufzudrücken."

Aktuell zeigt sich das z.B. immer noch an Seehofers Politik mit den Zahlen aufzunehmender Flüchtlinge, um erklärtermaßen Druck auf andere Staaten der EU auszuüben. Auch beim UN-Migrationspakt von Ende 2018 hat Deutschland in expliziter Absetzung vom Ausstieg der USA und dem Zögern anderer die Federführung übernommen: "Die Unterzeichnung des Migrationspakts zu verschieben, wäre eine doppelte Führungsschwäche, die sich Deutschland nicht erlauben darf."6 [11].

Der Bezug auf Flüchtlingsströme als Moment der Außenpolitik, so die zitierte Zeitschrift, "gilt sogar für die Beteiligten eines Bürger- und Stellvertreterkriegs in Syrien." Die Behauptung mag zunächst überraschen, weil Deutschland in diesen Konflikt als militärische Macht nur am Rande eingemischt ist. Andererseits ist der durch massenweise Aufnahme syrischer Flüchtlinge erzeugte Handlungsdruck für eine gewaltmäßig peripher aufgestellte, aber dennoch ambitionierte Nation gerade ein passender Hebel der Einmischung.

Es kam deshalb nicht von ungefähr, dass Merkel mit Erdogan, Putin und Macron - und ohne Trump - Ende Oktober 2018 einen Syrien-Gipfel veranstaltete. "Lokalen Kräften wie übergeordneten Sponsoren mutet Deutschland die interessante Sicht auf ihren Konflikt zu, dass es den Krieg nicht zu gewinnen, sondern zu beenden gilt - um der Opfer willen, aus denen Deutschland seine Verantwortung für den Frieden ableitet. Und das heißt nichts anderes als die Zuteilung von Rechten und Pflichten an andere Staaten."

Märchen beendet, Not bleibt bestehen

Die Absicht Deutschlands, in der Oberliga der Staatenkonkurrenz mitzuspielen, ist unverkennbar: "Ein Land, das ein Weltproblem definiert und dafür Verantwortung übernimmt, tut es nicht unter dem Anspruch an sich selbst, in diese Rolle gefälligst hineinzuwachsen." Und im Grunde ist auch das Verhältnis ersichtlich, in dem dieses Anliegen zu seiner humanitären und diplomatischen Legitimation und Verbrämung steht: "In Merkels Land geht eben keine Ecke des Imperialismus ohne einen ganz großen Rechtfertigungstitel, und zwar einen, der zur Größe der Macht passt, die sich auf ihn beruft."

Gesagt, ist aber auch hier noch nicht getan: "Ob die Macht von Merkels Land zur Durchsetzung der Ansprüche reicht, die es an die Welt in dem Maße stellt, wie die Flüchtlinge der Welt zu ihm strömen, ist eine andere Frage." Die nationalistische Gegenwehr aus Ländern wie Ungarn, Polen, zeitweise aus Italien, die unbeeindruckt fortgeführte Großmachtpolitik Russlands sowie die unerwarteten internen Querschläge der AfD haben Deutschland die entsprechenden Ambitionen natürlich nicht ausgetrieben, zumindest aber eine Neusortierung derselben veranlasst.

Für die ehemaligen Objekte der "Hilfsbereitschaft und Menschenliebe" ist das "Septembermärchen" damit von zuständiger Seite abgesagt, ohne dass sich an deren Masse und Notlage etwas geändert hätte. Mit ihren lässt sich eben nach außen der beabsichtigte Einfluss nicht nehmen, und nach innen gestaltet sich ihre Anwesenheit dysfunktional. Diese Sorte Opfer von Weltmarkt und Weltmacht hat ihren Gebrauchswert eingebüßt.

Noch drei kurze Ergänzungen:a) Das Recht auf politisches Asyl hat in Deutschland - "aus humanitären und historischen Gründen", wie es heißt - insgesamt noch einen guten Ruf, den auch ein CSU-Ministerpräsident verteidigt sehen will: "Für mich ist das individuelle Grundrecht auf Asyl unantastbar."7 [12]

Dass es nach Art. 16a GG nur knapp zwei Prozent der Antragssteller zuerkannt wird und dass der zitierte Herr das Wort vom "Asyltourismus" geprägt hat, steht dazu nicht im Widerspruch. Denn auch diese Variante von "Willkommenskultur" folgt einer staatlichen Berechnung. Gedacht ist ein Recht auf Asyl in der BRD und anderswo stets als Einmischungstitel in die politischen Verhältnisse fremder und missliebiger Souveräne, denen es de facto die Hoheit über ihre Staatsbürger bestreitet und für diese eine eigene Zuständigkeit wahrnimmt.

Dass damit zwischenstaatliche Gegensätze unterstellt sind und betätigt werden, merkt man zum einen am seinerzeitigen Willkommen des Westens gegenüber den sog. Dissidenten des Ostblocks, zum andern am Affront, der gegen die USA losgetreten wäre, sollte z.B. Deutschland dem Whistleblower Edward Snowden Asyl anbieten.

Dass schließlich global orientierte Staaten z.B. anlässlich von Natur- und anderen Katastrophen auch humanitäre Leistungen erbringen, trifft einerseits zu. Andererseits werden selbst diese auf ihre Verwendung als außen- oder wirtschaftspolitische Hebel hin begutachtet und gegebenenfalls, siehe Trumps Kürzungen bei Programmen der UN oder die Behinderung der Seenotrettung vor Libyen, auch zurückgefahren.

b) Die Behauptung, der politische Erfolg der Fremdenfeindlichkeit à la AfD beruhe darauf, dass die ‚Altparteien‘ sich aus wahltaktischen Gründen an die einschlägigen Sprachregelungen und Ansichten angenähert hätten, tut den gemeinten Christ- oder Sozialdemokraten einigermaßen Unrecht, wenn sie deren eigenständige Gründe außer Acht lässt.

Die CSU zum Beispiel hat sich anlässlich ungünstiger Prognosen vor der Bayernwahl im Herbst 2018 aufgrund der wenig wählerwirksamen Asyl-Streiterei mit der Schwesterpartei in der Wortwahl zwar gemäßigt - "Wenn es jemanden verletzten sollte, will Söder das Wort ‚Asyltourismus‘ künftig nicht mehr verwenden"8 [13] -, bestand aber ohne Abstriche auf einem schroffen Ende der "Willkommenskultur".

Die SPD-Bürgermeister von Duisburg und Fürth, die zeitgleich die Kindergeldzahlungen an osteuropäische Sinti und Roma skandalisierten - "Sozialbetrug: Immer mehr Kindergeld ins Ausland, OB schlägt Alarm"9 [14] -, haben ihre Motive dafür nicht von der AfD bezogen. Überdies zeigt der Umgang der Volksparteien mit ihren rechtspopulistischen Konkurrenten, wie viel Wert sie - von wegen angenähert - auf Bloßstellung und Ausgrenzung legen.

Da ihnen das in Sachen Patriotismus offenbar nicht leichtfällt, nimmt ihre Streitkultur auch inszenierte Formen an, zeiht die Neurechten der Beschädigung des nationalen Ansehens, bemüht den Verfassungsschutz und ist froh, wenn endlich unsaubere Parteispenden gefunden werden.c) Ob Flucht und Armutsmigration eine Art "neoliberaler" Angriff auf die Arbeitslöhne seien, wird in der Linkspartei diskutiert (dazu im Teil 5 mehr), und ein enthüllender Historiker sieht darin gleich das eigentliche Motiv der "Flüchtlingskrise": "Merkel (öffnete) unter aufmunternden Zurufen aus Unternehmer- und Kirchenkreisen im Hochsommer 2015 die Migrationsschleuse für Muslime aus dem Nahen Osten. (…) Die Not von Kriegsflüchtlingen wurde im europäischen Zentralraum der Wirtschaft zum Nutzen angeboten."10 [15]

Optimistische Unternehmerstimmen mögen ja dazu beigetragen haben, die eben skizzierten außenpolitischen Berechnungen mit einer Arbeitsmarkt-Maßnahme zu ihren Gunsten zu verwechseln. Dass aber im März 2020 nach erfolgter Demontage der "Willkommenskultur" ein neues "Fachkräfte-Einwanderungsgesetz" installiert wurde, sollte den Unterschied zwischen beidem hinreichend deutlich machen.

Lesen Sie in Teil 2: Was Freunde der "Willkommenskultur" gegen die Fremdenfeindlichkeit einwenden.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-4999431

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Dichtung-und-Wahrheit-ueber-ein-Septembermaerchen-4999431.html?view=fussnoten#f_1
[2] https://www.heise.de/tp/features/Dichtung-und-Wahrheit-ueber-ein-Septembermaerchen-4999431.html?view=fussnoten#f_2
[3] https://www.heise.de/tp/features/Dichtung-und-Wahrheit-ueber-ein-Septembermaerchen-4999431.html?view=fussnoten#f_3
[4] https://www.heise.de/tp/features/Dichtung-und-Wahrheit-ueber-ein-Septembermaerchen-4999431.html?view=fussnoten#f_4
[5] https://www.euractiv.de/section/eu-innenpolitik/news/eu-kommission-praesentiert-neuen-migrationspakt/
[6] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/76095/umfrage/asylantraege-insgesamt-in-deutschland-seit-1995/
[7] https://www.n-tv.de/politik/Union-einigt-sich-im-Obergrenzen-Streit-article20072517.html
[8] https://www.heise.de/tp/features/Dichtung-und-Wahrheit-ueber-ein-Septembermaerchen-4999431.html?view=fussnoten#f_5
[9] https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8426/
[10] https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/merkels-land-iii-deutsche-imperialismus
[11] https://www.heise.de/tp/features/Dichtung-und-Wahrheit-ueber-ein-Septembermaerchen-4999431.html?view=fussnoten#f_6
[12] https://www.heise.de/tp/features/Dichtung-und-Wahrheit-ueber-ein-Septembermaerchen-4999431.html?view=fussnoten#f_7
[13] https://www.heise.de/tp/features/Dichtung-und-Wahrheit-ueber-ein-Septembermaerchen-4999431.html?view=fussnoten#f_8
[14] https://www.heise.de/tp/features/Dichtung-und-Wahrheit-ueber-ein-Septembermaerchen-4999431.html?view=fussnoten#f_9
[15] https://www.heise.de/tp/features/Dichtung-und-Wahrheit-ueber-ein-Septembermaerchen-4999431.html?view=fussnoten#f_10