Dichtung und Wahrheit über ein Septembermärchen

Schnuller auf Nato-Draht: Szene im Lager Idomeni im Norden von Griechenland. Bild: Wassilis Aswestopoulos

Die deutsche "Willkommenskultur": ihre Freunde, ihre Gegner und ihr Ende (Teil 1)

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Vor vier Jahren wusste ein Sozialwissenschaftler den leisen Stolz auf eine von ihm empfundene "Revolution" in seinem Heimatland in folgende Worte zu fassen: "Die herzlichen Begrüßungen im September 2015 waren Teil einer stillen Revolution. (...) Sie gaben den Flüchtlingen das deutliche Signal: Ihr seid jetzt in Sicherheit. (Dadurch) öffnete sich auch ein historisches Fenster für die Gesellschaft in Deutschland, nachhaltiger bei sich selber anzukommen."1

Eine grüne Fraktionsvorsitzende mit theologischem Hintergrund zeigte sich ebenso tief berührt: "Wir erleben in Deutschland derzeit ein echtes Septembermärchen. Wir sind plötzlich Weltmeister der Hilfsbereitschaft und Menschenliebe. Und ich kann zum ersten Mal sagen, dass ich uneingeschränkt stolz auf mein Land bin."2

Auch ein prominentes Professoren-Ehepaar, das gerade ein Enkelkind bekam, wagte einen hoffnungsfrohen Blick in die Zukunft: "Es wird auf Jahre hinaus die normative Reputation Deutschlands erhöhen, dass die Bundesregierung (...) sich ihrer humanitären Verantwortung bewusst geblieben ist."3

Als sich zwei Jahre nach diesen Zeilen eine in den Talkshows präsente damalige Bundesministerin mit dem Vorwurf konfrontiert sieht, ihre Kanzlerin habe in Migrationsfragen Missmanagement betrieben, gibt sie der "humanitären Verantwortung" Deutschlands eine aktualisierte Fassung: Es sei "gelungen, den Flüchtlingsstrom nach Deutschland um 95 Prozent zu reduzieren"4

Dem parallel dazu veröffentlichten Beamtendeutsch sind dann die näheren Umstände dieser neuerlichen Rekordleistung zu entnehmen: Masterplan Migration, Halbierung der Gesamtschutzquote, Anstieg der Ablehnungsquote und Verfahrenserledigung auf 70 Prozent, Entscheidungsbeschleunigung, Transitzentren, Zunahme der Rücknahmeabkommen und der sicheren Herkunftsländer, Fluchtursachenbekämpfung usw.

Besagte Ministerin leitet inzwischen die Europäische Kommission und macht auf 400 Seiten weitere Vorschläge, wie "die einzelnen Länder sich an der Umverteilung von Asylbewerbenden beteiligen, alternativ an der Rückführung (…) mitwirken, oder zumindest finanzielle Unterstützung (…) bereitstellen" können. "In den vergangenen fünf Jahren habe sich gezeigt, dass freiwillige Solidarität offenbar nicht ausreichend ist." Für die Bundesrepublik stellt sich allerdings schon die vorhandene "Solidarität" innerhalb der EU als vorteilhaft dar, die 2019 verglichen mit 2016 zu einem Rückgang der Asylanträge um fast 80 Prozent beigetragen hat, welcher sich mit 86.000 Anträgen bis Oktober 2020 noch einmal halbierte.

Während sich vor drei Jahren CDU und CSU in ihrem "Obergrenzen"-Streit darauf verständigten, "dass die Netto-Zuwanderung aus humanitären Gründen pro Jahr nicht mehr als 200.000 Menschen betragen (und) eine Situation wie 2015 (…) sich nicht wiederholen" soll, stellt sich die Sache mit der Höchstgrenze von 200.000 aus Anlass der katastrophalen Zustände auf Lesbos heute so dar:

"Seehofer hat sich bereit erklärt, über die bis zu 150 Kinder hinaus etwa 1500 Menschen aufzunehmen. Bereits (hier sind) 53 unbegleitete Asylsuchende. (…) Die Aufnahme von 243 behandlungsbedürftigen Kindern sowie ihren Kernfamilien sei in der Umsetzung. (…) Die Gesamtzahl (…) beläuft sich dementsprechend auf 2750."5 Passend dazu "nutzt aktuell die Bundesregierung die deutsche EU-Ratspräsidentschaft, um die Abriegelung nicht nur Tunesiens, sondern des gesamten Maghreb voranzutreiben."

Historisches Fenster schnell wieder geschlossen

Es ist nicht weiter bekannt, was die zitierten und sonstigen Lobredner des weltmeisterlichen Humanismus vom Herbst 2015 mit der offensichtlichen Blamage ihrer stolzerfüllten Worte von gestern angefangen haben. Vermutlich werden sie inzwischen wohl meinen, damals sei vielleicht ein wenig des Guten zu viel getan worden - insbesondere deshalb, weil über die "offenen Grenzen" auch eine ungebetene neurechte Opposition Einzug in die deutschen Parlamente gehalten und dem besagten Humanismus ein Folgeproblem eröffnet hat.

Das "historische Fenster" war jedenfalls schnell wieder zu. Daher soll die Gelegenheit nicht verpasst werden, kritischen Zeitgenossen, die im Rückblick auf fünf Jahre ‚Flüchtlingskrise‘ an den hehren Motiven der deutschen "Willkommenskultur" zweifeln, ohne ihre wirklichen Beweggründe zu kennen, eine Antwort anzubieten. Sie entstammt einer marxistischen Zeitschrift und soll kurz zitiert und kommentiert werden:Für eine Macht wie Deutschland ist (…) die Flüchtlingsfrage viel mehr als eine Bewährungsprobe für die moralische Qualität der Deutschen, nämlich ein Test auf die Macht ihres Staates, der europäischen und weiteren Staatenwelt seine Definition dieses weltweiten Problems und dessen Lösung aufzudrücken."

Aktuell zeigt sich das z.B. immer noch an Seehofers Politik mit den Zahlen aufzunehmender Flüchtlinge, um erklärtermaßen Druck auf andere Staaten der EU auszuüben. Auch beim UN-Migrationspakt von Ende 2018 hat Deutschland in expliziter Absetzung vom Ausstieg der USA und dem Zögern anderer die Federführung übernommen: "Die Unterzeichnung des Migrationspakts zu verschieben, wäre eine doppelte Führungsschwäche, die sich Deutschland nicht erlauben darf."6.

Der Bezug auf Flüchtlingsströme als Moment der Außenpolitik, so die zitierte Zeitschrift, "gilt sogar für die Beteiligten eines Bürger- und Stellvertreterkriegs in Syrien." Die Behauptung mag zunächst überraschen, weil Deutschland in diesen Konflikt als militärische Macht nur am Rande eingemischt ist. Andererseits ist der durch massenweise Aufnahme syrischer Flüchtlinge erzeugte Handlungsdruck für eine gewaltmäßig peripher aufgestellte, aber dennoch ambitionierte Nation gerade ein passender Hebel der Einmischung.

Es kam deshalb nicht von ungefähr, dass Merkel mit Erdogan, Putin und Macron - und ohne Trump - Ende Oktober 2018 einen Syrien-Gipfel veranstaltete. "Lokalen Kräften wie übergeordneten Sponsoren mutet Deutschland die interessante Sicht auf ihren Konflikt zu, dass es den Krieg nicht zu gewinnen, sondern zu beenden gilt - um der Opfer willen, aus denen Deutschland seine Verantwortung für den Frieden ableitet. Und das heißt nichts anderes als die Zuteilung von Rechten und Pflichten an andere Staaten."