"Die Bürgergeld-Sätze müssen sich endlich am realen Bedarf orientieren"

Lino Leudesdorff, Vorsitzender des linken SPD-Flügels DL21, fordert im Telepolis-Interview Verhandlungen mit Russland, eine massive Regelsatz-Erhöhung des Bürgergeldes und eine Neuverteilung gesellschaftlicher Privilegien.

"Die Armut abschaffen, dafür gibt es uns Sozialdemokraten doch", fordert Lino Leudesdorff im Telepolis-Interview von seiner Partei. Der überzeugte Hesse Leudesdorff ist Vorsitzender des Forum Demokratische Linke 21 (DL21) in der SPD, das als kritische "Partei in der Partei" (Spiegel) als wortführend, meinungsstark und einflussreich in den Bereichen Sozialpolitik und Arbeitnehmerrechte gilt.

Im Vergleich zu vielen Karrierepolitiker:innen hat Leudesdorff einen eher ungewöhnlichen Lebensweg: Er flog von der Schule und bezog Hartz IV. Nach seinem Studium gründete er ein Unternehmen für Personalberatung in Frankfurt/Main.

Er war unter anderem Landesvorsitzender der Jusos und wurde gerade von seiner Partei als Kandidat für die Landtagswahl aufgestellt. Der Landesverband Hessen, zuletzt von umfassenden Korruptions-Skandalen in der SPD-nahen Sozialindustrie der AWO (Arbeiterwohlfahrt) erschüttert, gilt in der Bundes-SPD traditionell als eher links und besonders einflussreich.

Das Forum DL21 gilt als Erbin des linken "Frankfurter Kreises", der sich in den 1970ern in der SPD bildete. Im Jahr 2000 gegründet, war die spätere Bundesministerin, SPD-Chefin und heutige BA-Chefin Andrea Nahles langjährige Vorsitzende. Prominente Mitglieder sind unter anderem der Außenpolitiker Niels Annen, Hilde Mattheis und Angela Marquardt (vorher Linkspartei). Das Forum ist auch Herausgeber der Theorie-Zeitschrift spw.

Die drei Co-Vorsitzenden sind heute die Staatssekretärin für Mieterschutz im Berliner Senat, Ülker Radziwill, der Bundestagsabgeordnete, Jurist, Arbeitsrichter, Ex-Vorstand der Bayern-SPD und Mitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Sebastian Rohloff und Lino Leudesdorff.

"Mitleid hat immer etwas Vereinnahmendes, fast schon Bevormundendes"

Kann es sein, dass Mitleid in Deutschland nach Kilometern gemessen wird, wie es Maria Gresz einmal formulierte? Gefühlt hat man in Deutschland mit jedem in der Welt Mitleid – solange er oder sie nur weit genug entfernt ist. Mit Leidenden vor der eigenen Haustür hält sich das Mitleid aber in engen Grenzen, weil es dann um das Abgeben eigener Privilegien oder schlicht gesagt: Geld ginge, gleich, ob osteuropäische Arbeiter in der Lieferbranche, Obdachlose, von Abschiebung bedrohte iranische Flüchtlinge, deutsche Armutsrentner. Ist in Deutschland das ganze Gerede von Wertevorbehalt, Diversität und Teilhabe also nur Show?
Lino Leudesdorff: Man darf nicht vergessen, es gibt sehr viele Menschen in diesem Land, die sich ehrenamtlich für andere einsetzen, sei es in Vereinen oder Initiativen oder ganz einfach im privaten. Also eben gerade für Menschen hier.
Aber es fängt schon bei den Worten an:
Das Wort Mitleid hat immer etwas Vereinnahmendes, fast schon Bevormundendes. Man kann jemanden mitleidig bedauern, ohne ihm oder ihr zu helfen. Mitleid haben fordert erst mal nichts von der oder dem Einzelnen.
Mitgefühl und Empathie dagegen halte ich für die zentralen Werte, die unsere Gesellschaft zusammenhalten. Für Mitgefühl und Empathie braucht es einen Perspektivwechsel, man muss für einen Moment das Leben aus der Sicht des anderen sehen und stellt sich damit praktisch auf seine Seite.
Dieser Perspektivwechsel ist dann aber nur der erste Schritt, folgen muss dem dann auch eine Tat – insbesondere im politischen. Nicht zuletzt ist der Appell die allerschwächste politische Handlung. Ich höre immer wieder die Aufrufe "für mehr soziale Teilhabe", "spart Energie, duscht weniger und benutzt den Waschlappen" oder die Rufe nach einer "wertegeleiteten Außenpolitik", die nicht so recht zur Verneigung vor gewissen Machthabern in der Golfregion passt.
Möchte man etwas in der Welt aber auch in Deutschland verändern, so reicht es nicht, sich auf Appelle, Mitleid und fromme Wünsche zu beschränken. Man muss gesellschaftliche Privilegien neu verhandeln. Will man Wohlstand in einer Gesellschaft neu verteilen, so sinkt für die einen die Dividende und für den anderen steigt der Lohn.
Dazu gehören demokratische, diskursive Auseinandersetzungen, welche die Politik in Ära Merkel in den letzten Jahren, mit Blick auf die gesellschaftlichen Divergenzen nach den Hartz Gesetzen, wohlwissentlich umschifft hat. Die asymmetrische Demobilisierung hatte fatale Wirkung auf unsere demokratische Gesellschaft.
Das Ausdiskutieren müssen wir neu lernen, denn solange die großen Fragen nicht ausverhandelt sind und wir zu einem neuen gesellschaftlichen Konsens finden, bauen sich Spannungen in der Gesellschaft immer weiter auf.

"Die Armut abschaffen, dafür gibt es uns Sozialdemokraten doch"

Zum ersten Mal in der Nachkriegszeit haben Millionen Menschen in Deutschland nicht genug zu essen – unter einer linksliberalen Regierung. In der September-Ausgabe von Monitor schilderte unter Tränen und Verzweiflung ein betroffener Erwerbsunfähigkeits-Rentner, der auf Hartz IV-Niveau leben bzw. überleben und hungern muss, was die realiter ausbleibende Regelsatzerhöhung zum 1. Januar 2023 für seine Kinder und ihn bedeutet: "Das ist solch eine Beleidigung." Schämen Sie sich, SPD-Mitglied zu sein?
Lino Leudesdorff: Das erfüllt mich mit tiefer Sorge und ich plädiere, beim Bürgergeld nachzubessern. Das Bürgergeld ist ein Schritt in die richtige Richtung, auch wenn wir uns als DL21 mehr wünschen. Das dies von der Union im Bundesrat blockiert wird, ist ein Schlag ins Gesicht aller ALG-2-Empfänger und Aufstocker.
Gerade jetzt, wo die Preise steigen, muss endlich was passieren. Niemand darf in Deutschland hungern oder frieren. Die Armut abschaffen, dafür gibt es uns Sozialdemokraten doch.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass wir Koalitionspartner haben, mit denen die Verhandlungen gerade bei sozialpolitischen Themen nicht immer einfach sind. Die Ungerechtigkeiten in unserer Sozialpolitik sind allerdings so groß, dass wir hier nicht klein beigeben dürfen.
… im Bundesland Berlin allerdings regiert die SPD mit Grünen und Linken und dort votierte die SPD sogar gegen den Vorschlag der Linkspartei, das 9-Euro-Ticket zumindest für Arme weiterzuführen, in Hamburg und Bremen sieht es ähnlich aus in der Sozialpolitik ...
Lino Leudesdorff: Ich habe 2013 nach dem Studium Hartz IV bezogen. Ich kenne Sanktionen, ich weiß genau, was es heißt, wenn der Kühlschrank leer ist und kenne das Gefühl der Macht- und Hoffnungslosigkeit, das sich dann schnell breit machen kann.
Für mich war es damals der Antrieb, mich immer stärker einzumischen, bei den Jusos, der DL21 und der SPD Frankfurt, wo die neoliberale Politik wie die der Agenda 2010 auf wenig Gegenliebe bei der Mehrheit gestoßen ist.
Wir haben als Sozialdemokratie mit der Agenda Politik einige fatale Fehler gemacht, denn schon damals waren die Regelsätze zu niedrig. Gleichzeitig wurde "Fordern" stets größer als "Fördern" geschrieben. Ich kämpfe seit Jahren darum, dass wir das grundlegend überarbeiten. Das neue Bürgergeld bringt uns hier endlich weiter, auch wenn das noch nicht ausreicht.
Ich habe mich niemals geschämt, Sozialdemokrat zu sein und unsere Werte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität entschieden zu vertreten. Wahr ist aber auch, dass sich einige ehemals wichtige Parteimitglieder weit von diesen Werten entfernt haben – Altkanzler Schröder zähle ich darunter.

"Verhandlungen sind immer besser als Krieg"

In Deutschland ist ja nun seit einiger Zeit ein Stimmungswechsel festzustellen: Laut Infratest Dimap waren im Oktober über 60 Prozent der Befragten für Verhandlungen mit Russland. Wie bewerten Sie das?
Lino Leudesdorff: Verhandlungen sind immer besser als Krieg.Dass einige europäische Politiker wie Macron oder Scholz bis zum Schluss versucht haben, den Krieg zu verhindern, fand ich ebenfalls richtig, auch wenn sie dafür von vielen gescholten wurden.
Für die Zukunft wünsche ich mir einen neuen Anlauf für Friedensgespräche. Das kann bedeuten, dass auch Staaten wie China oder Indien eine Rolle spielen. Oder die Türkei, die zu beiden Seiten Gesprächskanäle besitzt.
Dafür muss es aber einen Waffenstillstand geben. Russland muss das Morden und die Angriffe insbesondere auf Zivilisten einstellen. Die Ukraine wurde angegriffen, ihre Bevölkerung leidet unter dem Angriffskrieg und damit muss sie im Mittelpunkt möglicher Verhandlungen stehen. Einen Diktatfrieden – auch gegen den Willen der Ukraine, wie ihn manche fordern – halte ich für grundfalsch.
Die groß angekündigte DGB-Demo gegen die "Energiekrise" in Leipzig Anfang Oktober war ja ein Total-Reinfall: 10.000 Teilnehmer:innen wurden angemeldet, 2.000 kamen, nach optimistischen Schätzungen. Zur "Montagsdemonstration" kurz danach in Leipzig kamen laut ARD dann mindestens genauso viele, laut MDR in den drei mitteldeutschen Ländern gar insgesamt rund 30.000 Menschen. Nimmt die Gewerkschaften eigentlich noch irgendjemand ernst?
Lino Leudesdorff: In Leipzig war ich nicht dabei, in Frankfurt war die Demo "Solidarischer Herbst" am 22. Oktober gut besucht.
… für die zentrale Großdemo des Mega-Bündnisses "Solidarischer Herbst" in Berlin waren 20.000 Teilnehmer:innen angemeldet, laut Polizei liefen in der Spitze höchstens 2.000 Menschen mit …
Lino Leudesdorff: Gewerkschaften haben in Deutschland ein Schlüsselrolle. Sind sie stark verwurzelt, wie die IG Metall, die sich aktuell in der Tarifrunde befindet, geht es den Beschäftigten substanziell besser.
Grade heute, wo die Inflation die Löhne entwertet, sind sie so wichtig wie lange nicht mehr. Im Gegenteil, wir sollten die Gewerkschaften, Tarifbindung sowie die betriebliche Mitbestimmung weiter stärken.
Ein Beispiel aus meiner Heimat: Aktuell ist die Brauerei Binding, der Stammsitz der größten deutschen Brauerei, der Radeberger Gruppe, von der Schließung bedroht. Wenn Sie die Beschäftigten und den Betriebsrat dort fragen, werden Sie eine klare Antwort bekommen, warum es Gewerkschaften braucht.

"Die Armutskrise in Deutschland ist nichts Neues"

Gibt es denn eigentlich überhaupt eine Energiekrise in Deutschland? Laut ZDF-Politbarometer äußerten 42 Prozent der Befragten, sie hätten nach wie vor keinerlei Probleme mit den Preisen zum Beispiel bei Lebensmitteln. Wird es nicht Zeit, dass die Politik endlich benennt, worum es wirklich geht: um eine Armutskrise für nur wenige? Faktisch gibt es doch gar keine Energiekrise …
Lino Leudesdorff: Wer lange Lieferverträge hat bei Gas oder Strom und kein Auto, merkt bisher bei den Energiepreisen nicht viel, das ist richtig. Ohne das Entlastungspaket, gäbe es hier ein böses Erwachen, sobald die Verträge auslaufen. 600 oder 700 Euro monatliche Abschläge überfordern selbst ordentlich verdienende Mittelschichtsfamilien insbesondere in Metropolen, wo die hohen Mieten zusätzlich auf das Budget drücken.
Gleichzeitig verteuern die Energiepreise und die gleichzeitig wirkende Kerninflation das Leben insgesamt. Nahrungsmittel, Reisen alles wird teurer. Der Wohlstandsverlust ist dramatisch und deswegen hoffe ich, dass weitere Entlastungspakete folgen, wenn das erforderlich wird. Nebenbei haben wir sehr viele Trittbrettfahrer – Unternehmen die inflationäre Tendenzen nutzen um ungerechtfertigt die Preise zu erhöhen und sich somit über satte Zusatzprofite freuen.
Die Armutskrise in Deutschland ist offen gesagt nichts Neues. Im Westen gibt es das seit der Agendapolitik, im Osten seit der Wende. Wir haben Millionen Menschen in Deutschland, die sich nichts mehr von der Politik erhoffen. Leider zurecht denkt man an den Armutsbericht 2016 von Arbeitsministerin Nahles. Hier wurde, wenn auch zunächst zensiert, festgehalten, wie gering der Einfluss sozial Schwächerer auf die Politik ist.
Ich hoffe, dass durch das Bürgergeld endlich Bewegung in die Sozialpolitik kommt. Die Sätze müssen sich endlich am realen Bedarf orientieren, schnell und nachhaltig an die Inflation angepasst werden. Die Zuverdienstmöglichkeiten wurden erhöht, reichen aber noch nicht aus. Und der große Niedriglohnsektor war und ist ein Irrweg.
Der Ausstieg kann mit Mindestlöhnen, Tarifbindung und Produktivitätssteigerungen – beispielsweise durch Bildungsangebote für Mitarbeitende – gelingen. Niedrige Löhne und das Gender-pay-gap heute sind niedrige Renten von morgen.
Wie mittlerweile auch für Nicht-Eingeweihte bekannt wurde, entwirft das Landeskriminalamt (LKA) Berlin bereits seit einigen Monaten Szenarien, wie im "Krisen-Winter" auf Riots, Plünderungen und "Mangellagen" zu reagieren sei. Mal salopp gesagt, sind wir jetzt alle im falschen Film?
Lino Leudesdorff: Ich bin davon überzeugt, dass wir auch diese Krise in Deutschland überwinden werden. Unsere Gesellschaft unterliegt geringeren Fliehkräften als etwa die USA oder ganz aktuell Brasilien.
Unser Sozialstaat läuft nicht rund und muss an vielen Stellen verbessert werden, es gibt ihn aber und er ist vergleichsweise stark. Viele Menschen haben das Gefühl, abgehängt zu sein. Als Sozialdemokrat sehe ich es als unsere Aufgabe, vielleicht sogar unsere Daseinsberechtigung hier einen Richtungswechsel vorzunehmen.
Abgesehen von seminaristischen und lebensfremden Theorie-Diskussionen über Demokratie läuft der deal ja so: Jede Partei bedient materiell ihre Klientel – und wird dann dafür gewählt. Die FDP hat ja da gerade ein kleines Zielgruppen-Problem in Krisenzeiten, aber ist das Problem der SPD langfristig nicht viel größer? Die Laschet-Fauxpas waren ja eine Art Lottogewinn für die SPD, aber die Armen gehen nachweislich weniger und immer weniger zu den Wahlen, in einzelnen Stadtteilen von Duisburg zur letzten NRW-Wahl nur noch 28 Prozent. Entsprechend tut die SPD weniger für ihre Armen, die wählen dann noch weniger. Ist das nicht ein ewiger Kreislauf, der bald zum Kreislaufversagen und zum langsamen Absterben der SPD führt?
Lino Leudesdorff: Das war ja die Besonderheit bei der Bundestags-Wahl 2021: Sozialpolitik war Top-Thema und der SPD wurde erstmals seit Jahren hier wieder die größte Kompetenz zugesprochen. Und davon hat man uns vorher immer abgeraten: "Vergesst das mit der sozialen Politik, das will doch keiner mehr hören", wurde gesagt. Offenbar doch.
Und das war vor der Inflation, vor dem Krieg und seinen brutalen Folgen für den Wohlstand in diesem Land. In dieser Krise haben wir es in der Hand zu beweisen, dass wir das Vertrauen verdienen.
Laschets Auftreten hat der Union sicher nicht geholfen, war meiner Meinung nach aber auch nicht der Hauptgrund für das erfolgreiche Abschneiden der Sozialdemokratie. Vielmehr war es eine Kombination aus dem Wählerwillen nach mehr sozialer Gerechtigkeit und einer Verlässlichkeit, die Olaf Scholz natürlich ausstrahlt.
Damit die Sozialdemokratie weiterhin eine zentrale Rolle in Deutschland spielt, braucht sie ein klares sozialpolitisches Profil. Wir müssen insbesondere auf diejenigen zugehen, die kein Vertrauen mehr in die Politik haben und die sich abgehängt fühlen
Das heißt im Umkehrschluss aber auch: Die SPD ist eben keine Klientelpartei, sondern gerade, indem wir uns für diejenigen mit geringerem Einkommen, diejenigen, die sich abgehängt fühlen, einsetzen, sorgen wir für Zusammenhalt in der gesamten Gesellschaft.
Und von mehr Zusammenhalt, davon profitieren wir alle.