Die Fake-Freiheiten des Jens Spahn

Harald Neuber

Gesundheitsminister kündigt Privilegien für Geimpfte an. Oder geht es um Rückgabe von Grundrechten? Und wie ist das alles eigentlich umsetzbar? Einige Fragen

Diese Entwicklung war absehbar: Bundesgesundheitsminister Jen Spahn (CDU) hat in einem Interview mit der Bild am Sonntag Menschen mehr Rechte in Aussicht gestellt, sollten sie vollständig gegen den neuartigen Corona-Virus Sars-CoV-2 geimpft sein.

Der Vorstoß sorgte am Osterwochenende erwartungsgemäß für Furore: Die einen begrüßten den Ansatz, während er von anderen als nicht umsetzbar oder gar ungerecht zurückgewiesen wurde. Was in der absehbaren Debatte erneut völlig unterging, waren Fragen der rechtlichen und praktischen Umsetzbarkeit, die überhaupt nicht geklärt ist.

Bei Minister Spahn aber klang alles – von der Bild am Sontag unhinterfragt und auch über das Blatt hinaus wenig kritisch betrachtet – schon völlig klar: "Wer geimpft ist, kann ohne weiteren Test ins Geschäft oder zum Friseur gehen", sagte der CDU-Politiker konjunktivfrei. Das gelte, sobald die dritte Infektionswelle gebrochen sei.

Zugleich ließ Spahn im Vagen, wie weit die angekündigten Privilegien oder Rückgabe der Grundrechte – auch das schon ein wichtiger Unterschied – gehen würden. Denn wenig später zählte der CDU-Politiker gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa) auch das nachweisfreie Reisen zu den neuen Freiheiten.

Grund für den Vorstoß Spahns, der seit der Einführung des sogenannten Grünen Passes in Israel und entsprechender Debatten zwischen den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zu erwarten war, ist eine neue Einschätzung des regierungsnahen Robert-Koch-Instituts (RKI) zur sogenannten sterilen Immunität, also der zu erwartenden Infektiosität von Geimpften.

Die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse, auf die sich der Minister bezog, seien auch den Regierungen der Bundesländer zugestellt worden, berichtete die dpa. Die Agentur und die Bild am Sonntag zitierten aus dem RKI-Bericht:

Nach gegenwärtigem Kenntnisstand ist das Risiko einer Virusübertragung durch Personen, die vollständig geimpft wurden, spätestens zum Zeitpunkt ab dem 15. Tag nach Gabe der zweiten Impfdosis geringer als bei Vorliegen eines negativen Antigen-Schnelltests bei symptomlosen infizierten Personen.

RKI-Bericht

Vorschlag bei geringer Durchimpfung kaum durchsetzbar

Wie angreifbar der Vorschlag von Minister Spahn ist, machte er selbst unmittelbar mit einer Einschränkung deutlich. Denn obgleich die Weitergabe des Virus womöglich eingeschränkt werde, müssten auch diese Personen weiter die sogenannten AHA-Regeln einhalten, vor allem also Masken tragen.

Es gebe schließlich "keine hundertprozentige Sicherheit davor, andere zu infizieren", so Spahn. Was die geplanten Privilegien im Umkehrschluss angreifbar machen dürfte.

Während Vertreter der SPD, der Linken und der FDP den Vorschlag dennoch begrüßten, kam Kritik von der AfD. Was als "mehr Freiheit für Geimpfte" verkauft werde, sei tatsächliche eine Stigmatisierung derer, die noch nicht immunisiert wurden oder eine Impfung ablehnten, sagte Fraktionschefin Alice Weidel.

Für nicht umsetzbar hielt der Vorsitzende der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch, den Vorstoß. Die Osterbotschaft des Ministers "löst sich bei genauem Hinschauen schnell in Rauch auf", so Brysch: Denn bislang sei unklar, wann die vermeintliche Regelung in Kraft trete, da nicht definiert wurde, bei welcher Infektionsrate die dritte Welle gebrochen sei. Auch sei unklar, wie sich Geimpfte ausweisen könnten. "Selbst für die 95 Prozent geimpften 900.000 Pflegeheimbewohner wird der Shutdown also weitergehen" stellte Brysch fest.

Ein zentrales verfassungsrechtliches Problem geriet aber völlig außer Acht: Israel hatte zum Zeitpunkt der Einführung des "Grünen Passes" bereits weit über die Hälfte der Bevölkerung geimpft, die Übrigen hatten grundsätzlich Zugang zu Impfungen. Anders in Deutschland, wo bis dato erst 5,2 Prozent der Bevölkerung vollständig und 12,1 Prozent teilweise immunisiert wurden und wo Berichte über Impfstoffmangel an der Tagesordnung sind.

Es dürfte rechtlich äußerst brisant sein, wenn Bundes- und Landesregierung sowie Behörden der Bevölkerung auf Basis einer Corona-Immunisierung Grundrechte gewähren oder verweigern, während der Staat einen Großteil der Menschen im Land die Impfung de facto verweigert. Selbst die Ausweitung der Impfkampagne auf Haus- und Facharztpraxen wird die Lage angesichts des bestehenden Vakzinmangels nicht ändern.

Corona-Pass: Das sind die offenen Fragen

Kritisch sieht die Expertin für Europarecht, Iris Goldner Lang, die absehbare Spaltung der Bevölkerung durch die Einführung von Impfzertifikaten oder Grünen Pässen. Dabei spiele es zunächst auch keine Rolle, ob ein Teil der Bevölkerung nicht geimpft werden könne oder sich einer Impfung verweigere.

"Es ist beispielsweise immer noch nicht klar, ob die Covid-19-Impfstoffe für Kinder, Schwangere und Menschen mit geschwächtem Immunsystem und Autoimmunerkrankungen sicher sind", schreibt Goldner Lang in einer aktuellen Einschätzung für den Verfassungsblog – und machte damit en passant deutlich, dass es eben nicht nur um irrationale Impfgegner geht.

Hinzu komme, dass bestimmte EU-Mitgliedstaaten einen höheren Prozentsatz ihrer Bürger impfen als andere Staaten der Union. Die Beibehaltung oder wieder zugestandene Freizügigkeit für geimpfte EU-Bürger bedeute aber eine Diskriminierung der Ungeimpften, denen Reisen weiterhin untersagt würden.

Da die Verteilung von Impfstoffen auf staatlicher Ebene organisiert werde, käme das eine Diskriminierung bestimmter Nationalitäten gleich, was die Artikel 18 und 21 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union berühre.

Nun will man auf EU-Ebene derzeit einen negativen PCR-Test oder einen Antikörpernachweis nach Corona-Infektion als Alternativen zu einer Impfung akzeptieren. Goldner Lang begrüßt das grundsätzlich: "Auch wenn die nicht-geimpften Personen nicht in einer ebenbürtigen Lage wären, könnten sie ohne Einschränkungen über Landesgrenzen reisen".

Voraussetzung sei allerdings, dass Impfstoffe in der EU flächendeckend verfügbar sind: "Bis dahin sollten digitale grüne Pässe nicht verwendet werden, um keine Trennlinie zwischen den Geimpften und all jenen zu ziehen, die sich gerne impfen lassen würden, denen dies aber noch nicht möglich war."

Die EU-Rechtsexpertin verweist auf eine Reihe offener Fragen:

Es scheint, dass der Vorschlag von Bundesgesundheitsminister Spahn doch noch einmal überdacht werden muss.