Die Geburt einer Sprache
An Taubstummen kann die Entstehung einer neuen Zeichensprache studiert werden
In Managua (Nicaragua) haben taube Kinder seit nahezu 30 Jahren eine Sprache entwickelt, die "Nicaraguanische Zeichensprache". Sie begann 1977 pantomimen-ähnlich und wurde inzwischen von ihren Schülern zu einer komplexeren Sprache weiter entwickelt.
So wie ein Ethnologe selten erlebt, wie eine neue Stammeskultur entsteht, geht es dem Sprachforscher, wenn er eine neue Sprache entdeckt. Dieses seltene Ereignis, zur rechten Zeit am richtigen Ort zu sein, ist der Zufall oder das Glück von Ann Senghas. Auch wenn ihre Sprache keine "gesprochene" Sprache ist, wird die Zeichensprache zum bemerkenswerten Objekt ihrer Studien.
Seit 1977 hat die Regierung in Nicaragua eine Ausbildung für taube Schüler angeboten. Anfänglich wurden die Schüler aufgefordert, das Spanische von den Lippen der sprechenden Personen abzulesen und das, was sie verstanden, aufzuschreiben. Die Zahl der Schüler und Ehemaligen ist inzwischen auf 800 Mitglieder angestiegen, von denen sich die meisten immer wieder sehen. Deshalb kommunizieren die Schüler außerhalb des Klassenraums nach eigenen Regeln. Dazu bemerkten einige Lehrer die Handbewegungen der Schüler und gewöhnten sich an, ihrerseits diese Handbewegungen zu imitieren, was das Zusammensein förderte. Deshalb kam die der ersten Zeit niemand auf die Idee, dass da eine neue Sprache entstand.
Waren es anfänglich noch einfache Handzeichen, wie man sie in der Familie kannte, entwickelte sich bald zwischen den Schülern ein Vokabular von Regeln. "Diese 'Sprache' war es, die im Schulbus, während des Spiels und auf der Straße Gültigkeit hatte", stellte Ann Senghas fest. Und so geschah es, dass sich in der Schule die Sprache von der reinen Pantomime zu ihrer heutigen Form entwickelte, und das weit über die bloße Verständigung hinaus.
Ann Senghas von dem Barnard College der Columbia Universität in New York und ihre Mitarbeiter stellen die Ergebnisse ihrer Untersuchungen in Science vor. Sie illustrieren die Entwicklung zu einer Sprache, die inzwischen für die Ehemaligen sehr viel schwerer verständlich ist.
Die Katze, die einen Ball verschluckt
Wie erzählt man seinem Zuhörer, dass eine Katze einen großen Ball schluckt und dann eine steile Treppe hinunter taumelt? Die jungen Schüler verwenden zwei Zeichen für den "Bowling Ball" und die "taumelnde Bewegung". Die frühen Teilnehmer und Ehemaligen der Schule nehmen dagegen nur eine Hand und führen die Bewegung fortlaufend aus, im Sinne der Zeichensprache ohne das "taumeln" direkt zu imitieren.
So lässt die erste Abbildung den sprechenden Lehrer erkennen, der in der althergebrachten Form die Bewegung der Katze symbolisiert, wie sie mit dem Ball im Bauch die Treppe hinunter taumelt. Dagegen zeigt ein heutiger Schüler die "aktuelle" Darstellung, indem er das Schlucken und die Fülle des Bauches erfasst und darstellt, sowie danach die abschüssige Bewegung die Treppe hinunter.
Die Forscher schließen daraus, dass zwar jede Gruppe die "Nicaraguanische Zeichensprache" erlernt, aber zu unterschiedlichen Zeiten mit immer mehr Worten. Während anfänglich das unmittelbar Notwendige ausreicht, nimmt nach 10 und 20 Jahren der "Wortumfang" zu. Das verändert den Ausdruck und schafft neue Begriffe. Mit den Worten von Ann Senghas: "Die Kinder sind die ständig weiter entwickelnden "Sprecher" ihrer Sprache. Und mehr noch: "Kinder helfen die Sprache zu vervollkommnen, indem sie die Sprache lernen und vervollständigen."
Vom Beginn zum Heute
In Papua Neu-Guinea beispielsweise kommen zahlreiche ethnische Gruppen zusammen, die sich auf eine gemeinsam verständliche "Kommunikationssprache" mit festem Vokabular und wenigen Strukturen einigen. Wenn solche Menschen heiraten und Kinder bekommen, wird diese Sprache weiter entwickelt - nämlich von den Kindern. Das ist nicht anders bei der nicaraguanischen Zeichensprache. Kinder, ob taub oder nicht, ordnen die Grammatik entsprechend ihrem Sprachverständnis zu, ohne darauf hingewiesen zu werden. Auf diese Weise entwickelt sich die zunehmend "offizielle" Sprache, die im Falle von Nicaragua die Besonderheiten der spanisch sprechenden Bevölkerung und vor allem dieser Gruppe verinnerlicht. Demgegenüber vertritt Dan Lobin von der Universität Kalifornien die Meinung, dass Kinder nicht geboren werden, um eine Sprache zu bilden.
Die Jungen können zwar die Sprache systematisieren, indem sie die Regeln verständlicher machen, nicht aber neu erfinden. Die grundlegenden grammatikalischen Regeln sind von Anfang an da. Die Kinder werden immer flüssiger in der Sprache, ebenso wie es bei Kindern ist, wenn sie eine zweite Sprache lernen. Ferner gilt, dass Kinder, die in Gruppen zusammen sind, sich auf alle möglichen Regeln einigen können, wie beispielsweise auf Spielregeln.
Sind die Kinder der nicaraguanischen Zeichensprache wie Erfinder oder wie diejenigen, die nur die Sprache vervollständigen wollen? Die wichtigste Untersuchung darüber wird die Videoaufzeichnung sein. Diese Technik erlaubt über die Zeit hinweg die einzig sichere Schlussfolgerung. Aber irgendwann ist die Sprache und ihre Ausdrucksweise vielschichtig und folglich nur noch schwierig zu interpretieren. Dann muss sie festgeschrieben und wie eine neue Fremdsprache erlernt werden.