Die Gefahren für das demokratische "Regime"

Sisyphos von Tizian. Foto: Wikimedia/gemeinfrei

Wie man an der Möglichkeit eines grundsätzlichen Wandels festhalten und "politisch glücklich" werden kann: der Politikwissenschaftler Michael Th. Greven

Da die moderne politische Gesellschaft, auch wenn sie ein demokratisches Regime besitzt, auf denselben Fundamenten wie der Totalitarismus aufsitzt, kann sie dessen Gefahr in sich immer nur zeitweise bannen. "Äußeren" Halt in Religion, Vernunft oder Moral gibt es für die Politik in der Kontingenz und Immanenz der politischen Gesellschaft nicht mehr..

Michael Th. Greven, "Die politische Gesellschaft"

Liberalismus-Kritik, Ende der Geschichtsphilosophie, Politisierung, demokratischer Dezisionismus sowie Denken und Handeln unter den Bedingungen eines allgemeinen Relativismus - zwischen diesen Polen bewegt sich das Werk eines der bedeutendsten und interessantesten Politikwissenschaftler der Bundesrepublik.

Michael Th. Greven war ein kreativer, ungewöhnlicher faszinierender Denker, ein fesselnder, charismatischer Redner, ein kluger, effektiver Netzwerker, ein persönlich gewinnender, streitbarer Mensch, was in einer Rezension so beschrieben wird: "eine schier ungebändigte Angriffslust, die jede und jeden jederzeit treffen konnte, immer von der Sache her, aber ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten."

Trotzdem ist das Werk von Michael Th. Greven vor allem Experten bekannt. Das mag einfach daran liegen, dass er vor allem in Fachverlagen veröffentlichte, daran, dass er viele Aufsätze, aber weniger Bücher und kaum Gastbeiträge für die sogenannten Qualitätsmedien schrieb. Oder daran, dass er vielleicht einfach das Pech hatte, nicht zur richtigen Zeit die gefragten Ideen zu präsentieren.

Es könnte auch einfach damit zu tun haben, dass seine Ideen etwas schwerer einzuordnen sind.

Für einfache Schlagzeilen und schnelle Thesen war er jedenfalls nicht zu haben. Für griffige Formeln eigentlich schon. Trotzdem schlugen seine Beschreibungen über "Die politische Gesellschaft", sein Nachdenken über "Systemopposition" und seine Überlegungen zu "Kontingenz und Dezision als Probleme des Regierens und der Demokratie" nicht so ein, wie sie es verdient hätten, nicht so wie die Schlagwörter "Disziplinargesellschaft", "Risikogesellschaft", "Erlebnisgesellschaft", "Diskurs der Moderne", "Dialektik der Aufklärung", "Freund-Feind Verhältnisse".

Vielleicht lohnt die Erinnerung an das Werk dieses zu Unrecht Vergessenen in einem Moment, in dem die Demokratie erneut und auf ganz andere Weise als bisher in schweres Wasser gerät.

"Ich kenne kein gerechteres Verteilungskriterium als Leistung"

Eine kurze Erinnerung an Grevens muss mit seinem so merkwürdigen Tod beginnen. Vor zehn Jahren, in der Nacht vom 6. auf den 7. Juli 2012, von einem Freitag auf einen Samstag, starb Michael Th. Greven. Es war eine ungewöhnliche Woche gewesen.

Am Nachmittag des 6. Juli begann an der Hamburger Universität im Saal 519 eine fünfstündige Veranstaltung zu seiner Entpflichtung als ordentlicher Professor für Politische Theorie. Sechs Vorträge anderer gab es, aber bewusst keine "Abschiedsvorlesung", sondern eine Diskussion "mit Intervention" des Geehrten.

Noch am Abend zuvor war Greven in Düsseldorf gewesen, um dort genau einen Tag vor seiner eigenen Verabschiedung bei der seines Freundes und Studienkollegen, des Parteienforschers Ulrich von Alemann – beide wurden am gleichen Tag im Juni 1973 von Karl Dietrich Bracher in Bonn promoviert – zu Gast zu sein. In seinem sehr persönlichen Nachruf im Rundbrief der "Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft" (DVPW, Herbst 2012) hat von Alemann diesen Abend und die letzten Gespräche mit dem Freund am nächsten Tag auf der gemeinsamen Zugfahrt nach Hamburg beschrieben.

1947 in Hamburg geboren, kam Greven nach einem Studium in Bonn, einer Habilitation in Paderborn, dann über Professuren in Nigeria, Marburg und Darmstadt nach Hamburg. Seine Schwerpunkte lagen in Politischer Soziologie und Politischer Theorie - und daneben in der Arbeit der Ausbildung. Greven war ein großzügiger, neugieriger, aber auch anspruchsvoller Universitätslehrer.

Äußerungen wie diese: "Ich kenne kein gerechteres Verteilungskriterium als Leistung, und sehe auch keinen Grund, diese nicht verstärkt zu fördern" haben nicht allen gefallen. Aber sie wuchsen aus dem Ideal einer gerechten, pluralen, demokratischen und stabilen Gesellschaft. Greven hat Universität und Wissenschaft gelebt, voller Leidenschaft am Denken und Neugier gegenüber der Wirklichkeit.

Existentialismus und Kritische Theorie

Ein Linksschmittianer – obwohl er diesen Ausdruck wohl nicht gern gehört hätte. Aber von ihm konnte man lernen, den antidemokratischen Existentialisten Carl Schmitt "gegen den Strich" oder jedenfalls ohne falsche Scheuklappen zu lesen, dabei nicht einer Ideologie zu verfallen, aber ein Handwerk und eine Theorie zu begreifen.

Jeder Versuch, "rational Schmittianer zu sein", müsse heute scheitern, hat Greven formuliert. Aber er war es doch selber, insofern er dessen Fragen ernst nahm, und Carl Schmitts Analysen und Formeln, insbesondere die des "Dezisionismus" in seine, durch und durch demokratisch grundierten Theorien zum Politischen überführte.

Aus seinen Carl-Schmitt-Lektüren gewann Greven vor allem Munition gegen die Üblichkeiten zeitgenössischer Diskurse: Wo "Standpunktlosigkeit und Unbefangenheit als zeitgenössisches Prinzip" walten, gilt:

Eine ernsthafte politische Theorie ist auf dieser Basis jedenfalls nicht zu gewinnen. Wenigstens das könnte man bei Carl Schmitt lernen, dass eine politische Theorie nicht allein auf analytischen Begriffen beruhen kann.

Michael Th. Greven

Ein Vertreter der Kritischen Theorie war der zumindest qua Generationenzugehörigkeit klassische 68er auch – obwohl er sich an wenigen Zeitgenossen so gerieben hat, wie an Jürgen Habermas. Greven bekannte sich zu einer "der Intention nach Kontinuität der Kritischen Theorie". Seine letzte Hamburger Vorlesungsreihe im Sommersemester 2012 stand unter dem Titel "Gibt es eine Tradition ‘Kritischer Theorie’ in der (deutschen) Politikwissenschaft?"

Dort hat er, wie schon in seinem letzten Buch den Terminus "1968" zu einer "nachträglichen Konstruktion" und Zuspitzung der Erinnerungskultur umdefiniert, die die tatsächlichen Prozesse und Umbrüche fatal vereinfachen.

Kontingenz, Ironie und Demokratie

Drei Schlüsselthemen prägen Grevens Werk: Ganz klar Demokratie-Theorie heute und die Zukunft der Demokratie. Das Politische. Und der Umgang mit den Zufällen einer Wirklichkeit, die weder von Gott, noch durch geschichtsphilosophische Gesetzmäßigkeiten gelenkt sind.

"Die politischen Gesellschaften der Gegenwart sind durch ihre Kontingenz und den Zwang zur Dezision geprägt" - der erste Satz seines Hauptwerks "Die politische Gesellschaft" bringt das auf den Punkt. Grevens war überzeugt, dass das politische System zu einer Fundamentalpolitisierung aller Felder von Gesellschaft und Kultur tendiert und darum "Zwang zur Dezision", die Willkür und ihre Gefahren zunehmen.

Politik beansprucht heute eine Allzuständigkeit für alle Lebensbereiche. Die Tatsache, dass Minister sich inzwischen zur Handhygiene und zum Duschverhalten der Bürger äußern, mag als aktuelle Bestätigung dieses Befundes genügen.

Demokratie und auch nichtdemokratische Staaten der Moderne befinden sich in der Politisierungsfalle. Bei der naheliegenden Gegenfrage, wie sich Politik zur Selbstbeschränkung anleiten ließe, bleibt auch Greven ratlos.

Noch einmal zurück zu seiner Carl-Schmitt-Lektüre: Der werde vor allem mit dem Pluralismus als dem Resultat des Modernisierungsprozesses der letzten 250 Jahre nicht fertig. In der pluralen Kontingenz der Gegenwart könne man sich nur durch nicht weiter letztbegründete Dezisionen "wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen" folgerte Greven und spottete über die "Banalität der Richtigkeit" moralischer Urteile.

In ihrer Banalität trösten sie, aber führen eben auch nicht weiter.