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Die Grande Nation strauchelt – und Macron ruft Franzosen zum Sparen auf

Rede vor der Unesco in Paris von Emmanuel Macron, Präsident der Französischen Republik. Bild: Christelle Alix / CC BY-NC-ND 2.0

Handelsbilanzdefizite, wachsende Ungleichheit und fehlende Nachhaltigkeit kennzeichnen Frankreichs Wirtschaft. Statt die Probleme anzugehen, gießt die Regierung Öl ins Feuer. Warum ein "Gelbwesten"-Revival bisher ausblieb.

Mit 67 Millionen Einwohnern und einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 2,9 Billionen US-Dollar belegt Frankreich 2022 weltweit den siebten, in der EU den zweiten Rang unter den Volkswirtschaften. Diesen Status dauerhaft zu erhalten, dürfte kaum gelingen.

Wirtschaftliche Perspektiven, sozial-politische Probleme

Traditionell spielt der Staat in der Wirtschaft eine zentrale Rolle. So beträgt der Anteil der Regierungsausgaben am BIP 61 Prozent, in vergleichbaren Industrieländern liegt er bei 47 bis 51 Prozent. Und während Deutschland 11 Prozent Staatsbedienstete zählt, beschäftigt der französische Staat 5,7 Millionen, das sind 20 Prozent aller Arbeitnehmer, davon zwei Drittel als Beamte.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Monatszeitschrift Welttrends [1].

Kein Wunder: Im Gegensatz zur üblichen Abfälligkeit wird in Krisenzeiten nach dem fürsorgenden Staat gerufen. Der ist allerdings finanziell wie politisch überfordert. Einige Daten belegen das Dilemma. Das jährliche Wirtschaftswachstum betrug im letzten Jahrzehnt 1 bis 2 Prozent. Und die Post-Covid Wachstumseuphorie wurde in diesem Jahr auf 2,6 bzw. 0,5 Prozent im nächsten Jahr korrigiert.

Die Staatsverschuldung beläuft sich auf 113, das Haushaltsdefizit auf über fünf Prozent des BIP. Beide zu finanzieren, wird angesichts hoher Inflation und steigender Zinsen künftigen Generationen aufgehalst. Auch der seit 2005 defizitäre Außenhandel – 62 Prozent des BIP (Deutschland: 89) – verspricht keine Entlastung.

Als Folge von Energiekrise und Euroschwäche bei in US-Dollar fakturierten Waren beträgt das Handelsbilanzdefizit 150 Milliarden US-Dollar oder 14 Prozent. Da jahrelang Dienstleistungen gegenüber Industrieprodukten priorisiert wurden [2], drohen geplante Reindustrialisierungsprogramme an mangelnder Wettbewerbsfähigkeit zu scheitern und Frankreich seinen Rang als fünftgrößte Exportnation trotz Nachfrageboom bei Waffen, Aeronautik, Autos, Agrar- und Luxusgütern zu verlieren.

Macron: "Ende des Überflusses und Energiesparen"

Die Auswirkungen von Klimawandel und Umweltzerstörung, verstärkt und dramatisiert durch die Corona-Epidemie mit hohen Opferzahlen, Überlastung des Gesundheitssystems, Mobilitätsbeschränkungen und wirtschaftlicher Rezession, machen Umweltschutz zur vornehmsten Regierungsaufgabe. Die Energie- und Wachstumskrise infolge des Wirtschaftskriegs gegen Russland beeinflusst zusätzlich Regierungsbildung und Haushaltsentwürfe.

Neben Vorschlägen zur vermehrten Energieeinsparung in Büros und Innenstädten sowie Homeoffice und Carsharing verkündete Premierministerin Borne eine Politik der Dekarbonisierung und des Souveränitätsgewinns durch Ausstieg aus (importierten) fossilen Energieträgern. Gleichzeitig sollen Erneuerbare Energien sowie Kernenergie (bisher 19 bzw. 71 Prozent) ausgebaut werden [3].

50 zusätzliche Windparks und eine Verzehnfachung bei Solarenergie bis 2030 und eine Renaissance der Atomindustrie sind vorgesehen. In der EU-Finanzierungstaxonomie wurde Kernenergie als neutrale bzw. "grüne" Energiequelle durchgesetzt, die Laufzeit der AKW auf über 50 Jahre verlängert, der verschuldete Energiekonzern EDF vollständig verstaatlicht, schließlich sechs, eventuell vierzehn, ab 2035 betriebsbereite Druckwasserreaktoren eingeplant [4].

Grundprobleme der Kernkraftnutzung wie CO2-intensiver Uranabbau, Endlagerung, Unfallrisiko oder Kühlwasserzufuhr wurden ebenso als sekundär eingestuft wie die größtenteils korrosionsbedingte Abschaltung der meisten AKW (29 von 56). Zur Sicherung der Stromversorgung wurde ein Energieaustausch "Strom gegen Gas" mit Deutschland vereinbart.

Paris müsste jährlich zwei bis sechs Prozent seines BIP, gegenwärtig mindestens 60 Milliarden US-Dollar, in die ökologische Wende investieren. Faktisch sieht der Haushaltsentwurf für 2023 bei einem Gesamtbudget von 570 Milliarden Euro positive grüne Investitionen von 34 Milliarden vor. Völlig unzureichend! Dem Pariser Klimaabkommen zufolge müsste der klimagasbedingte Fußabdruck bis 2030 von 8,2 auf 3,9 Tonnen pro Person reduziert werden [5].

Armut und Kaufkraft

Frankreich hat eine Ungleichheitsrelation beim Einkommensvergleich der Top 10 gegenüber der unteren Hälfte der Bevölkerung von lediglich sieben zu eins (Deutschland 10, USA 14 zu 1). Das Pro-Kopf-Einkommen lag 2021 bei 43.500 US-Dollar, der gesetzliche Mindestlohn für Vollzeitbeschäftigte liegt aktuell bei monatlich 1.679 Euro. Gleichwohl leben zehn Millionen bzw. 15 Prozent der Bevölkerung unter der Armutsgrenze von 1.102 Euro.

Die Arbeitslosenquote beträgt 7,3, bei Jugendlichen 16,3 Prozent. Bei den Arbeitsämtern sind dagegen 18 Prozent der Erwerbspersonen als Arbeitssuchende, inklusive Teilzeitbeschäftigte, gemeldet [6]. Die Regierung strebt deren Verminderung durch reduziertes altersgruppenspezifisches Arbeitslosengeld, Qualifizierungs- und (Re-)Integrationsmaßnahmen besonders bei Jugendlichen und Älteren über 55 an.

Der Anstieg der Lebensmittel-, Benzin- und Strompreise trifft besonders die einkommensschwachen Schichten. Von den Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Lage wurden allerdings nur wenige umgesetzt, die allermeisten betreffen die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt. Die staatlichen Stützungspakete gleichen die Inflation nicht aus und begünstigen vor allem die Wohlhabenderen. Angesichts steigender Kreditzinsen und geringen Wachstums sind erhöhte Arbeitslosigkeit und Insolvenzen vorprogrammiert [7].

Rentensystem

Es geht um die Erneuerung und Harmonisierung der Rentensysteme, deren Defizit ein Problem ist, das seit Jahrzehnten ungelöst ist. Dabei betreffen die Hauptkontroversen 1) das Renteneintrittsalter, das die Regierung von 62 auf 64 bzw. 65 Jahre anheben will; 2) die Dauer der Einzahlungen; 3) die Berücksichtigung besonderer Berufshärten und ganz besonders 4) die 37 "Sonderregime".

In diesen sind vornehmlich Lehrer, Militär und Polizei sowie Beschäftigte bei der Bahn und den Pariser Verkehrsbetrieben mit insgesamt 4,5 Millionen Rentnern versichert. Gegenüber den 18 Millionen Pensionären des Allgemeinen Rentensystems genießen sie besondere Vorteile wie frühere Verrentung (mit 50 bzw. 52) und höhere Pensionen: Statt 50 Prozent der besten 25 Berufsjahre 75 Prozent der letzten sechs Arbeitsmonate.

Aus historischen Gründen widersetzen sich die Begünstigten der Angleichung bzw. Überführung in das Allgemeine System. Problem und Dilemma ist zudem, dass diese Beschäftigten gewerkschaftlich stark, vor allem in linken Gewerkschaften, organisiert sind und an vorderster Front in den meisten sozialen Kämpfen stehen. Mit ihren infrastrukturellen Schlüsselstellungen bei der Bahn, den Pariser Verkehrsbetrieben und Energieunternehmen können sie das Land paralysieren.

Wandel der sozial-politischen Verhältnisse

Während die soziale Ungleichheit zunimmt, die Aufstiegschancen schrumpfen, mehren die Eliten Reichtum und Einkommen. Dagegen erodieren die Mittelschichten, sind die sozialen Unterschichten fragmentiert, verarmt und geschwächt. Während Entpolitisierung, Parteiverdrossenheit und Extremismus wachsen, bilden sich neue sozial-politische Kollektive auf sozial-territorialer Basis: rural-peripher-metropolitan.

Zugleich ändert sich der sozial-politische Diskurs. Statt Klassen und Klassenkampf beherrschen Lobbyismus und Personalisierung die Politik, bestimmen Geschlechterverhältnisse, Identitäten und Opfermentalitäten die Medien. Schließlich erstarken Nationalismus und Rechtsradikalismus im Gefolge von Migration.

Die Mehrheit sieht ihre national-kulturelle Identität auch wegen einer wachsenden Politisierung von Muslimen bedroht. Dabei überschneiden sich kulturelle mit sozialterritorialen Dimensionen. Es sind die peri-urbanen banlieues, in denen sich die ethnisch-religiösen Minderheitenangehörigen mit verarmten "weißen" Franzosen drängen. Schlechte Anbindung an die Innenstädte, unzureichende Wohnverhältnisse und soziale Infrastruktur, erhöhte Kriminalität bei gleichzeitig gewaltbereiten Sicherheitskräften fördern Ghettoisierung und gesellschaftliche Segmentierung.

Radikalisierung gepaart mit islamischer Identitätsbildung und Ablehnung der Mehrheitsgesellschaft auf der einen, Vorurteile und Ängste auf der anderen, vertiefen sich. Die Politik verschärft die Spannungen unter Berufung auf die Grundprinzipien der Republik. Im Namen von Laizität und Meinungsfreiheit wird schlimmste Blasphemie geduldet, Frauen mit Kopftuch von Schulbesuch und öffentlichen Ämtern ausgeschlossen. Statt Toleranz und Miteinander zu fördern, degeneriert die Politik des Laizismus zum Kreuzzug.

Die "Gelbwesten" repräsentieren eine weitere Konfliktlinie. Monatelang demonstrierten sie parteiübergreifend gegen die sozialinstitutionelle und kommerzielle Auszehrung der Dörfer und Kleinstädte. Covid beendete vorerst die massiv von den Sicherheitskräften bekämpfte Bewegung. Doch die Ursachen der Bewegung ebenso wie ihre Forderungen nach mehr Demokratie bleiben ein schwelender Brandherd.

Die metropolitanen Zentren, Pole des Wachstums und sozial-kultureller Qualitätsinstitutionen, sind Heimstatt kosmopolitischer Mittelschichten und Eliten, Magneten für rurale und ausländische Migranten. Paris-Métropole mit 7,1 Millionen Einwohnern repräsentiert allein 30 Prozent des nationalen BIP.

Soziale Konflikte vorprogrammiert

Man erinnert sich: Anlass für den Aufstand der "Gelbwesten" war die Erhöhung der Benzinpreise. Heute reduzieren erneut drastisch inflationierte Energie- und Nahrungsmittelpreise Lebensstandard und Zukunftserwartungen und treiben die Menschen auf die Straße.

Den Anfang machten Ende September die Raffineriearbeiter. Ihr wochenlanger Streik führte angesichts eines Drittels (teilweise) geschlossener Tankstellen zu langen Autoschlagen. Trotz zwischenzeitlicher Tarifabschlüsse der sozialdemokratischen Mehrheitsgewerkschaften und Drohungen der Regierung streikten die kommunistischen Gewerkschaftsmitglieder weiter.

Mitte Oktober rief das Parteienbündnis NUPES, das parlamentarische Opposition und soziale Bewegung vereint, zu einem "Marsch gegen das teure Leben und die Untätigkeit bei Klimaschutz" in Paris auf. Analog zum Marsch der Sansculottes 1789 sollte er nach den Vorstellungen der linksradikalen LFI den Einstieg in eine soziale Revolution markieren – ein nicht von allen Partnern der Allianz geteilter Aufruf.

Wenige Tage später organisierten linke Gewerkschaften einen parteiunterstützten Generalstreik. Noch waren die Aktionen mit nach Schätzungen der Polizei 30.000 bzw. 110.000 Teilnehmern enttäuschend. Zugleich wurde deutlich: Es gibt keine gemeinsame Front. Konflikte um Führung, Aktionen und Kooperation mit Parteien spalten die Gewerkschaftsbewegung bis hin in die einzelne Gewerkschaftsföderation.

Widersprüche kennzeichnen auch die linke Parteienallianz sowie das Verhältnis Parteien und Gewerkschaftsbewegung. Doch wir stehen erst am Anfang. Frankreich geht auch mit Blick auf die um eine Mehrheit und ihr Überleben kämpfende Regierung turbulenten Zeiten entgegen.

Prof. Dr. John P. Neelsen, geb. 1943, ehemaliger Hochschullehrer, Institut für Soziologie, Universität Tübingen


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-7398247

Links in diesem Artikel:
[1] http://welttrends.de/
[2] https://www.tresor.economie.gouv.fr/Articles/2021/02/09/publication-du-rapport-2021-sur-le-commerce-exterieur-de-la-france
[3] https://www.lefigaro.fr/
[4] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/weltwirtschaft/frankreich-atomindustrie-101.html
[5] https://wir2022.wid.world/
[6] https://statistiques.pole-emploi.org/stmt/publication
[7] https://www.republicain-lorrain.fr/