Die Grenze zwischen Polen und Belarus wird immer mehr zum Pulverfass

Ein Kämpfer der russischen Wagner-Söldnergruppe und ein weißrussischer Soldat nehmen an einem gemeinsamen Training in Belarus teil, 20. Juli 2023. Bild: Weißrussisches Verteidigungsministerium

Dass keine der beiden Seiten ein Interesse daran hat, den ersten Schritt zu machen, könnte uns retten. Aber die Spannungen nehmen extrem zu. Was treibt sie an?

Abgesehen von den schrecklichen Verlusten an Leib, Leben und Land war die größte Gefahr des Krieges in der Ukraine die Bedrohung durch Atomwaffen und das Risiko, dass die Nato in einen dritten Weltkrieg hineingezogen werden könnte. Präsident Joe Biden hat – wiederholt – versprochen, dass dies nicht geschehen wird.

Ted Snider ist Kolumnist bei Antiwar.com und Responsible Statecraft.

Doch während die Nato bisher einen Krieg mit Russland und einen Dritten Weltkrieg an der russisch-ukrainischen Grenze vermieden hat, drohen die Dinge an der polnisch-weißrussischen Grenze gerade aus dem Ruder zu laufen.

Auf der belarussischen Seite hat das Militär mit Übungen entlang der Grenze zu den Nato-Mitgliedern Polen und Litauen begonnen. Ferner wurden Berichten zufolge im Juli mehr als 10.000 Soldaten der russischen Wagner-Gruppe nach Weißrussland entsandt (nach Angaben eines Wagner-Kommandeurs), und ihre Söldner bilden nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt weißrussische Spezialeinheiten aus. Auf polnischer Seite werden als Reaktion darauf Truppen zusammengezogen, und Regierungsvertreter in Warschau haben Weißrussland beschuldigt, Wagner-Kräfte "an die Ostflanke der Nato verlegt" zu haben, "um diese zu destabilisieren".

Unterdessen beschuldigten die Polen Belarus, mit Militärhubschraubern Anfang August den polnischen Luftraum verletzt zu haben. Weißrussland bestritt das und beschuldigte Polen, den Vorfall zu fabrizieren, um die Aufstockung der polnischen Truppen an der Grenze zu rechtfertigen.

Wir fordern die polnische Seite auf, die Situation nicht zu eskalieren und sie nicht dazu zu benutzen, das Grenzgebiet zu militarisieren,

sagte der Sprecher des belarussischen Ministeriums, Anatoli Glaz.

Die Spannungen steigen so stark an, dass ein einziger Funke das Pulverfass in Flammen setzen könnte.

"Unsere Antwort auf die Provokation ist die Verstärkung der polnischen Armee an der Ostgrenze des Landes durch die Verlegung von Truppen aus dem Westen", sagte Polens Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak vor einem Monat. "Nach geltendem Recht können die Soldaten in einer bestimmten Situation Waffen einsetzen. Sie sind nicht wehrlos."

Polen erwägt, seine Grenze zu Weißrussland zu schließen, auch aus Sorge, dass Wagner-Kämpfer als Zivilisten getarnt nach Polen einreisen oder Flüchtlinge für Provokationen nutzen könnten. Russland seinerseits warnt vor polnischen Angriffen unter dem Vorwand einer weißrussischen Provokation.

Der russische Präsident Wladimir Putin sagte:

Eine Aggression gegen Weißrussland zu starten, würde bedeuten, eine Aggression gegen die Russische Föderation zu beginnen. Darauf werden wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln reagieren.

Eine solche russische Antwort könnte die Verpflichtungen des Nato-Bündnisses gemäß Artikel 5 auslösen.

Entwarnung?

Experten glauben jedoch nicht, dass eine der beiden Seiten den ersten Schritt machen will. Alexander Hill, Professor für Militärgeschichte an der University of Calgary, erklärte gegenüber Responsible Statecraft, auf der Grundlage der nur begrenzt verfügbaren Informationen, dass es "höchst unwahrscheinlich sei, dass Wagner sich in irgendeiner Form beteiligen könnte an Aktionen, bei denen von Belarus aus in polnisches Gebiet eingedrungen wird."

Es ist noch nicht lange her, dass Anders Rasmussen, ehemaliger Nato-Chef und jetziger Berater des ukrainischen Präsidenten Selenskyj, eine "Koalition der Willigen" vorschlug, um im Namen der Ukraine zu kämpfen.

"Wenn sich die Nato nicht auf einen klaren Weg für die Ukraine einigen kann, besteht durchaus die Möglichkeit, dass einzelne Länder Maßnahmen ergreifen", sagte er vor dem Gipfel in Vilnius im Juli.

Wir wissen, dass Polen sehr engagiert ist, der Ukraine konkrete Hilfe zu leisten. Ich würde nicht ausschließen, dass sich Polen in diesem Zusammenhang auf nationaler Ebene noch stärker engagieren wird und die baltischen Staaten folgen werden, vielleicht sogar mit Truppen vor Ort.

Anatol Lieven, Direktor des Eurasischen Programms am Quincy Institute, sagte jedoch, dass Polen wahrscheinlich nicht den ersten Schritt machen würde, da das bei den meisten anderen Nato-Staaten äußerst unpopulär wäre.

Geoffrey Roberts, emeritierter Geschichtsprofessor am University College Cork, erklärte gegenüber Responsible Statecraft, dass es schwer vorstellbar sei, dass "Polen irgendetwas ohne die volle Unterstützung und das Einverständnis der USA unternehmen würde".

Da es für beide Seiten keinen Anreiz gibt, zuerst zuzuschlagen, besteht die Möglichkeit, dass die Truppenbewegungen, die militärischen Übungen und die öffentlichen Erklärungen als Abschreckung gedacht sind. Wir können nur hoffen, dass eine Fehlkommunikation, ein Unfall oder ein anderer Funke keine Aktion zwischen diesen beiden bewaffneten Truppen auslöst, die jetzt über eine kilometerlange Grenze hinweg aufeinander zielen.

Der Artikel erscheint in Kooperation mit Responsible Statecraft. Das englische Original finden Sie hier. Übersetzung: David Goeßmann.